Siebzehn
Der Anruf erreichte Archibald Somers und Miles Jensen gegen sechs Uhr abends. Eine weitere Leiche war gefunden worden, diesmal im Hotel Santa Mondega International. Sie waren so schnell wie möglich hingeeilt. Somers war wie ein Besessener gefahren in dem Bemühen, dort zu sein und die ganze Gegend abzuriegeln auf die abwegige Chance hin, dass der Killer noch in der Nähe war.
Unglücklicherweise hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitet, und als die beiden Detectives dort eintrafen, hing bereits die halbe Stadt vor dem Hotel herum und wartete darauf, dass eine Leiche nach draußen gebracht wurde.
Somers parkte fünfzig Meter vom Hotel entfernt am Straßenrand, und die beiden Detectives bahnten sich einen Weg durch das dichte Gedränge von Neugierigen vor dem Hoteleingang. Nachdem sie den beiden Beamten vor dem Haupteingang ihre Ausweise gezeigt hatten, ließen sie die gaffende Menschenmenge hinter sich und betraten die Lobby des Hotels. Jensen war beeindruckt vom schicken Erscheinungsbild des Hotels. In der Lobby sah es aus wie in den meisten modernen Hotels heutzutage. Die Teppiche waren hellbeige, und es gab ein paar sehr moderne, riesige purpurrote Sofas für Besucher. Hinter dem Empfang stand ein junger Mann, der für einen Sekundenbruchteil zu Jensen sah, bevor er sich wieder abwandte und den Eindruck zu erwecken suchte, er sei beschäftigt.
»Ich hab es bemerkt«, murmelte Somers seinem Partner zu. »Sie gehen nach oben zum Tatort, und ich beschäftige mich mit unserem kleinen Portiersfreund da drüben.«
»Alles klar, Partner«, antwortete Jensen. »Wir sehen uns dann gleich oben.«
Jensen nahm die Stufen hinauf in den siebten Stock, wo die Leiche des jüngsten Mordopfers entdeckt worden war. Man musste kein großer Detektiv sein, um auf den ersten Blick zu erkennen, in welchem Zimmer sich die Tat ereignet hatte. Die Tür war aus den Angeln gerissen, und ein uniformierter Beamter stand vor dem Eingang. Jensen trat vor ihn und zeigte seinen Ausweis.
»Hi. Ich bin Detective Jensen.«
»Ich weiß«, antwortete der Uniformierte. »Wir haben Sie erwartet. Gehen Sie gleich rein, Detective.«
Der Cop machte eine einladende Handbewegung in Richtung der zerschmetterten Tür. Jensen nickte ihm freundlich zu und betrat das Zimmer. Ein ekelhafter Gestank erwartete ihn – ein Gestank, der Miles Jensen nicht unvertraut war. Ekelhaft blieb er dennoch.
Leichen waren Jensen nichts Fremdes, doch er hatte noch nie so grauenhaft verstümmelte Körper gesehen wie in den ersten vierundzwanzig Stunden seit seiner Ankunft in Santa Mondega. Das jüngste Opfer war als ein einheimischer Punk und Krimineller namens Marcus das Wiesel identifiziert worden. Der Tote hatte sich unter falschem Namen im Hotel eingemietet, aller Wahrscheinlichkeit nach, weil er geglaubt hatte, sein Leben sei in Gefahr. Womit er offensichtlich richtig gelegen hatte.
Eine Sache, die Jensen im ersten Moment ins Auge stach, als sein Blick auf die Leiche fiel: Dieser Mord war ein klein wenig anders als die vorangegangenen. Marcus’ Augen waren nicht ausgequetscht worden. Seine Zunge war nicht herausgerissen worden, auch wenn der Killer sie aufgeschlitzt hatte. Sein Bauch war ebenfalls aufgeschlitzt, und – nach Aussage eines der Jungs von der Spurensicherung, die das Zimmer bearbeiteten – er war an seinen Eingeweiden durch das Zimmer geschleift worden. Außerdem gab es Berichte von anderen Gästen, die Schüsse gehört hatten. Das würde die zerschmetterten Kniescheiben erklären, auch wenn bis jetzt keine Kugeln gefunden worden waren, die dies bestätigten.
Zimmer Nr. 73 war ein einziges blutiges Chaos. Es war ohne Zweifel auch schon vor diesem jüngsten Mord ein Chaos gewesen, denn offensichtlich war eine Menge Alkohol aus der Minibar konsumiert worden. Überall lagen Flaschen auf dem Boden, und den Teppich verunzierten Bier-, Whisky – und Blutflecken. Die Tür der Minibar war offen, und der kleine Schrank war leer bis auf eine kleine, auf der Seite liegende Flasche Orangensaft und ein paar Flaschen Wasser. Das forensische Team verfolgte die übliche Prozedur, alles zu notieren und an seinem Ort zu fotografieren. Jensen achtete peinlich darauf, nichts anzufassen.
»Sie wissen, dass Lieutenant Scraggs hinten im Badezimmer ist?«, fragte einer der Jungs von der Spurensicherung, der auf Händen und Knien umherrutschte und mit einer Pinzette kleine Fetzen von Marcus’ Magen aufsammelte.
»Ah. Danke.« Es war ein Stichwort, eine Art Palmzweig, der Jensen angeboten wurde. Er fühlte sich bereits jetzt ziemlich überflüssig. Als würde er am Tatort unnütz im Weg herumstehen. Also beschloss er, ins Bad zu gehen und herauszufinden, was Scraggs dort machte.
»Hey, Lieutenant Scraggs!«, rief er jovial und steckte den Kopf durch die Badezimmertür. »Irgendwas gefunden da drin?«
Lieutenant Scraggs war dabei, sein Spiegelbild über dem Waschbecken zu untersuchen. Er zuckte überrascht und verlegen zusammen, weil er von Jensen beim Posieren erwischt worden war.
»Nichts, Sir. Haben Sie schon eine Theorie wegen dieser Geschichte?«
»Im Moment nicht«, räumte Jensen ein. »Aber es ist noch ziemlich früh dafür, oder? Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«
Scraggs schien sich von seiner anfänglichen Verlegenheit erholt zu haben. Er drehte sich erneut zum Spiegel um, strich sich mit den Händen durch das dichte schwarze Haar und rückte seine dünne blaue Krawatte zurecht.
»Ich hab jede Menge Leichen wie die da draußen gesehen, und ich sag Ihnen was, ob es Ihnen passt oder nicht, Detective: Das war nicht die Arbeit des Bourbon Kid. Ihr Partner Somers wird Ihnen das einreden wollen, aber er würde Bourbon Kid selbst die Ermordung von JFK in die Schuhe schieben, wenn er könnte.«
»Wie können Sie so sicher sein, dass es nicht Bourbon Kid war?«
»Weil er es nicht war!«, schnappte Scraggs und drehte sich zu Jensen um. »Bourbon Kid ist Geschichte! Er ist in die Stadt gekommen, hat eine Wagenladung Leute über den Haufen geschossen und ist wieder verschwunden. Somers hat in einer einzigen Woche so ungefähr jeden verloren, der ihm etwas bedeutet hat, alle ermordet vom Bourbon Kid. Er versucht, dem Kerl alles in die Schuhe zu schieben, weil er denkt, es hilft, ihn zu schnappen. In Wirklichkeit erreicht er damit nur, dass die Legende des Bourbon Kid wächst und wächst und er zu einer Art modernem John Wesley Hardin wird.«
Scraggs zog ein Paar Latexhandschuhe über, die neben dem Waschbecken gelegen hatten, und marschierte an Jensen vorbei zurück ins Schlafzimmer, wo er fast auf die sterblichen Überreste von Marcus dem Wiesel getreten wäre.
Jensen eilte ihm hinterher. »Ist es das, was alle darüber denken?«, fragte er den Lieutenant.
Scraggs hielt inne, doch diesmal drehte er sich nicht zu dem Detective um. »Nein, es ist nicht das, was alle denken. Es ist das, was alle wissen.«
Scraggs umrundete ein paar Brocken Fleisch auf dem Teppich und marschierte durch das Loch, das einmal ein Eingang gewesen war, aus dem Zimmer auf den Gang hinaus. Dabei wäre er beinahe mit Detective Archibald Somers zusammengestoßen, der auf dem Weg nach drinnen war und zwei Pappbecher mit Kaffee trug. Somers blieb wie angewurzelt stehen, als er im Zimmer war.
»Was haben Sie inzwischen herausgefunden, Partner?«, fragte er Jensen.
Der jüngere Detective wartete mit seiner Antwort, während Somers Blick durch den Raum schweifte. Seine Augen blieben auf der blutigen Masse auf dem Teppich haften, die einmal Marcus das Wiesel gewesen war.
»Nicht viel«, antwortete Jensen. »Die Augen wurden ihm nicht ausgequetscht, und die Zunge wurde zwar aufgeschlitzt, aber nicht herausgerissen.«
»Hübsch«, sagte Somers und schnüffelte am Deckel eines der beiden Becher. »Hier«, sagte er und hielt Jensen den anderen Becher hin. »Ich hab Ihnen einen Kaffee mitgebracht.«
»Nein, danke. Ich trinke dieses Zeug nicht.«
»Wie Sie meinen.«
Somers blickte sich nach einer freien Stelle um, wo er den Becher abstellen konnte. Es gab tatsächlich nicht eine einzige Stelle, wo er den dampfend heißen Kaffee hätte deponieren können. Die Jungs von der Spurensicherung hätten sicher ziemlich sauer reagiert – sie waren gerade dabei, alles nach Fingerabdrücken und DNS-Spuren abzusuchen –, also lehnte er sich aus der Tür und starrte Scraggs hinterher, der auf dem Weg zur Treppe war.
»Hey, Scraggs!«, rief er. »Fang auf!«
Jensen sah nur, wie Somers den Becher den Gang hinunter in die Richtung warf, in die Lieutenant Scraggs verschwunden war. Ein Schrei folgte, der die Vermutung nahelegte, dass sich der Deckel vom Becher gelöst und der Inhalt den einen oder anderen empfindlichen Körperteil des unglücklichen Lieutenants versengt hatte. Es folgte eine Serie von Flüchen, zweifelsohne an die Adresse von Somers gerichtet, doch der Beamte der Spurensicherung kam nicht zurück, um dem bärbeißigen alten Veteranen seine Empörung ins Gesicht zu brüllen.
»Haben Sie irgendwas von dem Burschen am Schalter erfahren?«, fragte Jensen.
Somers kam ins Zimmer zurück und trank einen Schluck von seinem Kaffee.
»Scheiße, ist der heiß!«, sagte er und leckte sich die Lippen, die er sich offensichtlich ein wenig verbrüht hatte. »O ja. Der Portier meint, dass sein Kollege von der Nachtschicht Elvis gesehen hat, wie er nach oben gegangen ist.«
»Elvis?«
»Ja, Elvis. Sie wissen schon, der King of Rock ’n’ Roll.«
»Whoa! Moment mal!«, sagte Jensen und rief sich eine Unterhaltung ins Gedächtnis, die er vor Kurzem geführt hatte. »Einer der Sanitäter bei der Farm heute Morgen hat einen Burschen namens Elvis erwähnt.«
»Tatsächlich? Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, der Barmann der Tapioca Bar, Sanchez Garcia, hätte Elvis wahrscheinlich angeheuert, um den Mörder seines Bruders und seiner Schwägerin zur Strecke zu bringen.«
»Was? Scheiße! Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt?« Somers wandte sich wütend um, als suchte er nach etwas, das er in seiner Frustration treten konnte. Da das einzige Objekt in Reichweite der Leichnam von Marcus dem Wiesel war, überlegte er es sich anders.
»Nun, ich dachte, es wäre Sarkasmus.«
»Meine Güte, nein! Jensen, Sie hätten mir das erzählen müssen! Elvis ist ein einheimischer Mietkiller und Schläger. Ein richtig gemeiner Bastard, und diese Sache trägt ganz und gar seine Handschrift.«
»Tatsächlich? Dann glauben Sie also nicht, dass Bourbon Kid das getan hat?« Jensen war ehrlich überrascht. Die anderen Cops, mit denen er gesprochen hatte, behaupteten ohne Ausnahme, dass Somers dem Bourbon Kid jedes Verbrechen in die Schuhe zu schieben versuchte.
»Nein. Das war Elvis, kein Zweifel. Ob wir Beweise gegen ihn finden können, ist eine andere Frage. Er ist ein Profi. Er hat sich dem Portier gezeigt, weil er erkannt werden wollte, damit er seine Belohnung abholen kann, aber er hat ganz bestimmt keinerlei Spuren hinterlassen, mit denen wir etwas anfangen könnten. Wir können aufhören zu suchen – wir werden nichts finden. Was wir herausfinden müssen, ist, warum hat er sich ausgerechnet diesen armen Tropf vorgeknöpft? Marcus das Wiesel hätte Thomas Garcia und seine Frau Audrey niemals umbringen können, ganz gleich, was dieser Schwachkopf von Sanchez vielleicht glauben mag. Er ist … er war ein Dieb, kein Killer. Elvis hat eindeutig den falschen erledigt, falls er im Auftrag von Sanchez gehandelt hat.«
Jensen ärgerte sich über sich selbst, dass er nicht vorher mit Somers über Elvis geredet hatte. Vielleicht hätte es das Leben von diesem Marcus dem Wiesel gerettet, wenn er den Mund aufgemacht hätte. Die Lehre, die er daraus zog: Wenn jemand in Santa Mondega dir etwas erzählt, das ein wenig verrückt klingt, spricht eine ganze Menge dafür, dass es wahr ist.
»So«, sagte Jensen. »Und wo können wir diesen Elvis finden?«
»Nun ja, falls er immer noch nach dem Mörder von Sanchez’ Bruder und Schwägerin sucht, wird er wohl ziemlich bald im Leichenschauhaus auftauchen. Elvis ist ein gemeiner Hundesohn, ein richtig gemeiner Mistkerl, aber wenn es ihm gelingt, Bourbon Kid aufzuspüren, wird er ziemlich schnell feststellen, dass er ein Stück mehr vom Kuchen abgebissen hat, als er kauen kann.«