Sechzig

Captain Rockwell stieg die Stufen zum Haus der Mystischen Lady hinauf und fand Lieutenant Scraggs hinter einem Tisch in einem Stuhl gleich neben dem mit dem enthaupteten Leichnam der alten Frau. Der Lieutenant blätterte durch die Seiten eines schweren alten Folianten und erschrak furchtbar, als er den Captain eintreten sah.

»Gottverdammt, Scrubbs, habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie nichts anrühren sollen?«, knurrte Captain Rockwell aufgebracht.

»Doch, das haben Sie, Sir. Aber das hier müssen Sie sich ansehen! Dieses Buch erklärt alles!«

»Das sollte es auch verdammt noch mal!«

Scraggs blätterte ein paar Seiten zurück und drehte das offene Buch zu Rockwell, der sich dem Tisch näherte, während er seinen Untergebenen die ganze Zeit eisig anstarrte, um ihn wissen zu lassen, wie ungehalten er über die Missachtung seiner Befehle war.

»Schön. Und was genau soll ich mir ansehen?«, raunzte er.

Scraggs deutete auf die linke Seite. Auf ihr war eine farbige Zeichnung von zwei Männern, die sich die Arme über die Schultern gelegt hatten. Beide trugen lange Gewänder, was vermuten ließ, dass sie vor Hunderten von Jahren gelebt hatten – eine Vermutung, die durch die vergilbten Pergamentseiten des Buches gestützt wurde. Einer der gewandeten Männer hielt einen goldenen Kelch, aus dem er rote Flüssigkeit verspritzte. Beide sahen vollkommen glücklich aus, beinahe ekstatisch.

»Sir, lesen Sie den Untertitel unter dieser Zeichnung«, empfahl Lieutenant Scraggs.

Rockwell mochte es überhaupt nicht, sich von Scraggs herumkommandieren zu lassen, doch er las die deutliche schwarze Handschrift nichtsdestotrotz.

Armand Xavier und Ishmael
Taos fanden im Jahre des Herrn 526 den Kelch Christi
und tranken daraus.

»Das ist alles?«, fragte Rockwell. »Was zum Teufel soll das heißen? Ich verstehe überhaupt nichts!«

»Sehen Sie sich das Bild der beiden Männer genau an, Sir. Erkennen Sie keinen der beiden?«

Captain Rockwell beugte sich vor und konzentrierte sich diesmal auf die Gesichter der Männer. Nach ein paar Sekunden hob er fragend eine Augenbraue und blickte Scraggs an.

»Der Linke sieht aus wie dieses Arschloch Somers«, sagte er.

»Das ist Armand Xavier.«

»Gibt es noch mehr Bilder von ihm in diesem Wälzer?«

»Ja. Hier, sehen Sie.« Scraggs blätterte eine Reihe von Seiten vor und zeigte dem Captain eine weitere Illustration. Diesmal zeigte das Bild eine Gruppe von Leuten. »Sie erkennen vielleicht einige von denen hier, Captain.«

Erneut studierte Rockwell die Zeichnung, auf der vier Männer und eine Frau zu sehen waren. Die Zeichnung war untertitelt:

Der Dunkle Lord Xavier und seine Familie,
von der es heißt, dass sie in Santa Mondega lebt,
einer Stadt in der Neuen Welt.

»Der Dunkle Lord Xavier«, sagte Rockwell. Er klang mehr als nur ein wenig verwirrt. »Aber das ist ohne Zweifel Somers! Und diese anderen drei Kerle … das sind El Santino und seine beiden schwulen Handlanger. Das soll wohl ein verdammter Witz sein!«

Scraggs schüttelte den Kopf. »Ich habe ein wenig in diesem Buch gelesen, Captain. Hauptsächlich die Seiten mit den Zeichnungen, aber nach dem, was ich gelesen habe, haben dieser Armand Xavier und sein Freund Ishmael Taos vom Blut Christi getrunken und wurden unsterblich.«

»Das ist lächerlich!«

»Ja, ich weiß. Aber hören Sie, es geht weiter. Sie haben sich wegen einer Frau zerstritten. Der Frau auf dem Bild, nehme ich an.«

»Wer zum Teufel ist sie?«

»Ich glaube, ihr Name lautet Jessica. Verstehen Sie, nach dem Buch war Xavier frustriert wegen seiner Unsterblichkeit und weil er nicht imstande war, sein Leben bis in alle Ewigkeit mit jemandem zu teilen. Dann begegnete er dieser Jessica, und es stellte sich heraus, dass sie ein Vampir oder so was war. Sie biss ihn, und er wurde mehr als nur unsterblich. Er hat das Blut Christi und das Blut eines Vampirs in den Adern, und deswegen schätze ich, wurde er zum Oberblutsauger. Zum Dunklen Lord, sozusagen.«

Rockwell hatte noch nie im Verlauf seiner langen und ereignisarmen Karriere etwas derart weit Hergeholtes gehört. Andererseits ergaben vielleicht tatsächlich allmählich ein paar Dinge einen Sinn. Rockwell atmete durch und blies die Backen auf, als er einen tiefen Seufzer ausstieß.

»Scheiße. Das kann unmöglich sein!« Er kratzte sich am Kopf und runzelte die Stirn. »Aber ich schätze, es erklärt, warum ein Inspector für Übernatürliche Ermittlungen hergeschickt wurde. Ich frage mich, ob Jensen bereits über all das informiert ist?«

»Ich hab gerade versucht ihn anzurufen. Sein Mobiltelefon war ausgeschaltet, Sir. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen.«

»Gute Arbeit, Scrubbs. Was genau haben Sie ihm gesagt?«

»Nicht viel. Nur eine Warnung, sich von Somers fernzuhalten und zurückzurufen, sobald er eine Gelegenheit dazu findet.«

»Gut gedacht, ausgezeichnet, Lieutenant. Was haben Sie sonst noch in diesem gottverdammten Buch gefunden? Irgendetwas über den anderen Kerl, diesen Taos?«

»Na ja …«, sagte Scraggs und zog das Buch wieder zu sich. »Ich kam gerade dazu, Sir. Wie es scheint, hat er das Auge des Mondes gefunden und sich damit irgendwohin in Sicherheit gebracht, wo Xavier es nicht in die Finger bekommen konnte.«

»Sonst noch etwas?«

»Eigentlich nicht, nein. Oder besser gesagt, noch nicht. Aber ich habe kaum an der Oberfläche gekratzt. Es dauert ein paar Tage, dieses Buch zu lesen. Ich habe gerade erst angefangen.«

»Irgendeine Erwähnung des Bourbon Kid?«

»Nein, Sir. Nichts. Noch nicht jedenfalls.«

PENG!

Beide Männer zuckten erschrocken zusammen und blickten zum Eingang, während sie ihre Pistolen zogen, bereit zum Schießen. Scraggs sprang aus seinem Stuhl, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Das war ein Gewehrschuss gewesen!

Draußen stand Officer Quaid nicht länger auf seinem Posten an der Tür. Seine Stimme war von der Straße her zu hören.

»Scheiße, er ist es!«, brüllte er. »Schießen Sie! Verdammt, schießen Sie!«

Es folgte eine Serie von Schüssen. Nach dem Klang zu urteilen waren es sieben oder acht Pistolen, die gleichzeitig abgeschossen wurden. Die Schießerei dauerte höchstens zehn Sekunden, dann herrschte Stille. Rockwell und Scraggs sahen einander nervös an.

»Es war nett, Sie gekannt zu haben, Captain«, sagte Scraggs schließlich, während er sich verzweifelt bemühte, den Griff seiner Pistole fest gepackt zu halten. Beim Schießtraining wurde einem nicht beigebracht, wie man mit kaltem Schweiß und zitternden Händen gleichzeitig umgehen musste.

»Noch sind wir nicht tot, Scrubbs. Behalten Sie die Nerven, Mann. Vielleicht überstehen wir diese Geschichte lebend.«

»Nein, Captain. Wir haben das Buch gesehen, Sir. Wir sind erledigt. Und ich heiße Scraggs, Sir.«

»Schnauze. Da kommt jemand.«

Beide Männer hielten ihre Waffen auf die Tür gerichtet in Erwartung dessen, was dort kommen mochte. Sie vernahmen Schritte, die sich langsam von draußen dem Eingang näherten. Die Spannung war unerträglich. Die Schritte kamen näher und näher, und ihre Zeigefinger spannten sich. Ein Schatten tauchte im Eingang auf, unmittelbar gefolgt von der wankenden, blutüberströmten Gestalt von Officer Quaid.

PENG!

Instinktiv hatte Scraggs abgedrückt, angetrieben von nichts als blinder Panik. Die Kugel traf Quaid mitten in der Brust. Der uniformierte Beamte blickte ein letztes Mal verzweifelt und überrascht zu dem Lieutenant auf, dann kippte er vornüber und blieb mit dem Gesicht nach unten reglos liegen.

»Warum zum Teufel haben Sie das getan?!«, brüllte Rockwell und drehte sich zu Scraggs um, aus dessen Pistole sich noch immer Rauch kräuselte. »Das war einer meiner besten Männer, gottverdammt!«

»Es … es tut mir leid, Sir. Ich dachte, er wäre jemand anderes. Ich bin in Panik geraten.«

»Scheiße! Geraten Sie gefälligst woanders in Panik, Sie dämliches Arschloch!«

Scraggs Gesichtsausdruck veränderte sich. Er schien sich mit einem Mal völlig zu entspannen, als hätte jeder Muskel zusammengepackt und wäre nach Hause gegangen.

»Zu spät«, sagte er leise.

Captain Rockwell blickte zurück zum Eingang. Dort stand der Mann mit dem Kapuzenmantel.

Bourbon Kid.

Er hielt eine abgesägte Schrotflinte in jeder Hand.

Eine, um den Captain zu töten, und eine, um den Lieutenant zu erledigen.

Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
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