Einundfünfzig
Jefe gelangte zu dem Schluss, dass ein Besuch bei der Mystischen Lady so ungefähr seine einzige Chance wäre herauszufinden, wo das Auge des Mondes steckte. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo er suchen sollte, und inzwischen blieben ihm nur noch vier Stunden, ehe die Sonnenfinsternis einsetzte. Die verrückte Alte musste ihm aus der Klemme helfen. Wenn sie ihm behilflich war, das Auge aufzuspüren, konnte er es wie vereinbart an El Santino verkaufen. Auf diese Weise musste er nicht den Rest seines Lebens damit verbringen, sich ständig umzudrehen und darauf zu warten, dass Carlito oder Miguel ihm in den Rücken schossen. Und – beinahe genauso wichtig – er wäre endlich imstande, die Raten für den neuen Porsche zu bezahlen, den er jetzt fuhr.
Er hatte Jessica im Hotelzimmer gelassen, um sich fertig zu machen. Er hatte nicht die Zeit zu warten, während sie sich in das extrem sexy Catwoman-Kostüm zwängte, das sie für das Mondfestival gemietet hatte. Abgesehen davon passte es nicht so richtig zu seinem eigenen Freddy-Krueger-Kostüm. Nicht, dass er sich beschweren wollte. Sie sah verdammt heiß aus in ihrem Katzenkostüm, und er konnte es kaum abwarten, sie später zu treffen und sich mit ihr zu vergnügen. Er musste nichts weiter tun als bis zum nächsten Morgen überleben. Er benötigte eine unglaubliche Glückssträhne, und er hoffte, dass die Mystische Lady seinem Glück auf die Sprünge helfen würde.
Er parkte den Wagen vor dem winzigen Hexenhaus der Mystischen Lady und war überrascht, die Eingangstür offen vorzufinden. Er war vor zwei Wochen schon einmal hier gewesen und erinnerte sich deutlich an ihr Gekeife, dass er bloß die Tür richtig hinter sich schließen sollte. Sie mochte es nicht, wenn die Tür offen stand, weil »böse Geister in das Haus eindringen« konnten, wie sie behauptete.
Jefe hoffte zu beweisen, dass die Wahrsagerin in der Tat talentiert war, nachdem Jessica ihm von der Enttäuschung angesichts der Informationen erzählt hatte, die die Mystische Lady ihr bei ihrem eigenen Besuch am Abend zuvor hatte zuteil werden lassen.
Jefe vertraute voll und ganz auf das, was die Mystische Lady zu sagen hatte. Seit er die Untoten mit eigenen Augen gesehen hatte, war sein Verstand weit offen für Dinge wie das Übernatürliche, für schwarze Magie und selbstverständlich auch für Hellseherei. Außerdem hatte er nach seinem letzten Besuch festgestellt, dass die Vorhersagen der Mystischen Lady sehr akkurat waren.
Unglücklicherweise würde sie diesmal keine große Hilfe sein. Das wurde Jefe klar, sobald er das Haus betrat. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Irgendetwas war furchtbar schiefgegangen. Es war nicht so sehr das vollkommene Chaos oder die umgekippten Möbel. Nein, es war die Art, wie die Mystische Lady aussah. Sie saß in ihrer üblichen Haltung hinter dem Tisch, doch sie sah ganz, ganz anders aus. Der Grund war, dass ihr Kopf fehlte. Es sah nicht aus, als wäre er durch eine scharfe Klinge abgetrennt worden, sondern vielmehr, als hätte ihn irgendjemand oder irgendetwas mit unglaublichen Kräften einfach abgerissen. Blutspritzer, wohin man sah, auch über die Seiten eines Buches, das vor ihr auf dem Tisch lag.
Jefe konnte den Kopf der Mystischen Lady nirgendwo entdecken, bis die Tür hinter ihm krachend zufiel. Da hing er, auf der Rückseite der Tür. Die Augen waren ausgequetscht, und wie es aussah, war ihr die Zunge herausgerissen worden. Eine Menge getrockneten Blutes bedeckte ihre untere Gesichtshälfte, als wäre es aus ihrem Mund gespritzt und einen großen Teil der Nacht über ihre Lippen und das Kinn gelaufen und zu Boden getropft.
Jefe hatte nicht vor, eine Autopsie durchzuführen, doch er nahm den Kopf genauer in Augenschein. Er war brutal auf einen Kleiderhaken gespießt worden, der tief in das Gehirn der alten Frau eingedrungen war.
In seiner gegenwärtigen Verkleidung als Freddy Krueger war es sicher keine gute Idee, sich in der Nähe einer Leiche herumzutreiben. Es half auch nicht, dass er ein unglaublich scharfes Messer mit einer fünfundzwanzig Zentimeter langen Klinge mit sich herumtrug, ganz zu schweigen von zwei verdeckten Pistolen und genügend Munition, um ganz alleine einen Umsturz herbeizuführen und sich zum Diktator zu erheben.
Er verließ das Haus der Mystischen Lady in der festen Überzeugung, dass dies ein böses Omen für den vor ihm liegenden Tag war. Dann änderte sich sein Glück von einer Sekunde zur anderen. Er war noch nicht wieder bei seinem schönen silbernen Porsche angekommen, als er seinen alten gelben Cadillac vorbeifahren sah! Der Fahrer war ein junger Mann in einem Terminator-Kostüm, und er schien es ziemlich eilig zu haben. Noch Sekunden zuvor hatte Jefe geglaubt, keinerlei Spur zu haben, mit der er arbeiten konnte. Doch eine vitale Information war ihm im Gedächtnis haften geblieben. Sanchez hatte erzählt, dass jemand in einem gelben Cadillac seinen Bruder Thomas und dessen Frau kaltgemacht hatte und möglicherweise auch etwas mit dem Tod von Elvis zu tun haben könnte. Das war die einzige Spur, die Jefe verfolgen konnte. Abgesehen davon war Jefe ein verzweifelter Mann. Er rannte zu seinem Porsche, sprang hinein, startete den Motor und machte sich so diskret wie nur irgend möglich an die Verfolgung des großen gelben Wagens.
Das Herz hämmerte ihm so laut in der Brust, dass es den kernigen Klang des Porschemotors übertönte. Das war es. Alles oder nichts. Verlier diesen gelben Cadillac nicht, Jefe. Lass dich bloß nicht abschütteln, dachte er. Ganz egal, was kommt – lass dich nicht abschütteln.
Er folgte dem Cadillac fast zwei Kilometer durch die Stadt, bevor der Fahrer vor der Nightjar Bar – ausgerechnet vor der Nightjar Bar! – parkte. Jefe lenkte den Porsche ebenfalls an den Straßenrand. Sein Mund war trocken geworden, und sein Herz hämmerte lauter als je zuvor. Es war höchstens eine halbe Chance – genau genommen nicht einmal das –, doch vielleicht konnte er von diesem Burschen etwas erfahren. Er war nur nicht sicher, was das sein könnte.
Der Terminator stieg aus dem Cadillac und ging zum Eingang der Bar. Jefe sprang ohne eine Sekunde zu zögern aus dem Porsche und folgte ihm über den Bürgersteig.
»Sie kommen da sicher nicht rein, Mann«, rief er dem Terminator so freundlich er konnte hinterher. »Der Laden wurde soeben dichtgemacht. Ein paar Mönche haben sich gestern Nacht in Vampire verwandelt und wurden von Rodeo Rex erschossen.«
»Was?« Der falsche Terminator starrte Jefe schockiert an, was keine Überraschung war. Erst recht nicht, wenn der Betreffende nicht an Vampire glaubte.
»Ist nur das, was ich gehört hab, Mann. Wahrscheinlich ist es ohnehin nicht wahr«, räumte Jefe ein, während er sich dem überrascht stehen gebliebenen jungen Mann in der schwarzen Terminator-Kluft näherte. Als er so weit heran war, dass kein Zuschauer sehen konnte, was genau passierte, zückte er eine seiner Pistolen hinten aus dem Hosenbund und drückte sie dem Burschen in die Rippen.
»Wie heißt du, Kerl?«, knurrte er gefährlich.
»Dante.«
»Was würdest du dazu sagen, wenn ich dich ein paar Extra-Sekunden am Leben lasse, Dante?«
Der junge Mann blickte hinab auf Jefes Pistole. Es geschah nicht jeden Tag, dass ein Doppelgänger von Freddy Krueger einem eine Pistole in den Bauch drückte – andererseits war dies auch kein gewöhnlicher Tag.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er.
»Ich frage mich, wieso du in meinem alten gelben Cadillac durch die Gegend fährst«, erwiderte Jefe.
»Oh. Äh … ich hab ihn heute Morgen gebraucht gekauft, wissen Sie?« Ein Unterton von Panik hatte sich in Dantes Stimme geschlichen. Arnie hätte das sicherlich nicht gefallen.
»Blödsinn! Los, steig wieder in den Wagen. Wir machen eine Spazierfahrt. Es gibt da ein paar Leute, die möchten dich wirklich dringend kennenlernen.«
Dante machte ein paar Schritte auf den Cadillac zu, doch als er Jefes Pistole erneut zwischen den Rippen spürte, blieb er wie angewurzelt stehen.
»Warte eine Sekunde. Dreh dich um. Leg die Hände auf den Kopf.«
Dante tat wie geheißen. Jefe drückte ihn gegen die Tür der Nightjar Bar und machte sich daran, ihn zu filzen. Das Erste, was er fand, war die verborgene Pistole. Dann jedoch fand er genau das, was er mehr als alles andere wollte, einschließlich Jessica: Das Auge des Mondes. Er zerrte es aus der Innentasche von Dantes Lederjacke und hielt es fest gepackt, während er es anstarrte wie eine Mutter, die zum ersten Mal ihr neugeborenes Baby sieht.
»O mein Gott! Volltreffer …!«, hauchte er mit einem Unterton von Ehrfurcht in der Stimme. »Du schuldest mir eine ganze Menge Erklärungen, Terminatorlein.« Jefe kicherte, dann fügte er hinzu. »Du hast ja keine Ahnung, aber du hast mir soeben den beschissenen Tag gerettet.«