Achtundvierzig
Die Atmosphäre in der Tapioca Bar war ein wenig angespannt, und das schon seit einigen Stunden. Es fing im Grunde mit Jefes Auftauchen an, der sich gesondert von den anderen hinsetzte und anfing zu trinken. Sanchez spürte, dass etwas Unangenehmes im Schwange war: Der Kopfgeldjäger zeigte außergewöhnlich üble Laune, noch vor dem ersten Glas Bier, und jeder weitere Schluck verschlimmerte seinen üblen Zustand weiter. Sanchez vermutete, es habe damit zu tun, dass Jefe das Auge des Mondes immer noch nicht wiedergefunden hatte und dass er sich nun entscheiden musste, dies gegenüber El Santino zuzugeben oder verdammt schnell aus der Stadt zu verschwinden.
Jefe saß ganz allein am Ende der Theke, kippte sich Bier um Bier hinter die Binde und beschimpfte jeden, der sich ihm weit genug näherte. Die ihn umwabernde Rauchwolke, von einer ungebrochenen Kette gerauchter Zigaretten erzeugt, tat ein Übriges.
Die Theke der Tapioca Bar war gut zehn Meter lang, und Jefe hatte davon sicher fünf Meter auf der linken Seite für sich allein. Auf der anderen Seite saßen sechs unangenehm aussehende Typen auf Hockern vor dem Tresen, schwere haarige Hell’s Angels, die ohne Zweifel der Boxkämpfe wegen in die Stadt gekommen waren und weil sie ihrem Helden Rodeo Rex zujubeln wollten. All diese Männer waren durchaus kampfstark, doch nicht dumm genug, sich auf Jefes Seite des Tresens zu verlaufen. Er war von genauso viel Anspannung umgeben wie Rauch, und jeder in der Bar spürte das. Sämtliche Gäste, die von den Tischen nach vorn kamen, um sich einen Drink zu bestellen, taten dies auf der volleren Seite der Theke, wo die Hell’s Angels saßen – aus Angst, Jefe zu nahe zu kommen oder womöglich respektlos zu erscheinen.
Er hatte seine Sorgen seit vielleicht zwei Stunden in Bier ertränkt, als der Ärger durch die Tür spaziert kam. Er erschien in Gestalt zweier muskulöser Männer in schwarzen Anzügen. Sanchez erkannte sie auf der Stelle; es waren Carlito und Miguel, die Handlanger von El Santino. Carlito erspähte Jefe am Ende der Theke und ging geradewegs auf ihn zu, wie immer gefolgt von Miguel. Die beiden zogen sich je einen Hocker heran und nahmen rechts und links von Jefe darauf Platz.
»Nett, dich zu sehen, Jefe«, sagte Carlito.
»Verschwinde, fick dich selbst.«
»Oh, das klingt irgendwie recht feindselig, meinst du nicht, Miguel?«
»Ja, mein ich auch. Ich würde sagen, unser Freund Jefe ist überhaupt nicht erfreut, uns zu sehen. Woran könnte das wohl liegen?«
»Ich weiß es nicht, Miguel. Vielleicht, weil er den Stein nicht mehr hat? Vielleicht hat er ihn verloren?«
»Oder vielleicht wurde er von jemandem namens Marcus das Wiesel ausgenommen?« Die beiden Männer lachten spöttisch auf. Es war kein herzliches Geräusch.
Jefe legte die Hände rechts und links auf den Tresen und drückte sich aus seiner kauernden Haltung hoch, bis er aufrecht saß.
»Woher wisst ihr beide von Marcus dem Wiesel?«, grollte er.
»Uns kommt so einiges zu Ohren«, antwortete Carlito. »Beispielsweise dass du mit irgendeiner jungen Braut herumhängst anstatt nach dem Stein zu suchen, der dir abhandengekommen ist.«
Jefe war bei seinem derzeitigen Alkoholpegel durchaus imstande, die Auswirkungen seiner Trunkenheit zu kontrollieren. Obwohl er Sekunden zuvor noch als plappernde Schnapsdrossel dagestanden hatte, ließ die bloße Andeutung einer Gefahr Adrenalin in seinen Kreislauf schießen, das seine sämtlichen Sinne aus ihrem betäubten Zustand riss.
»Hey, hört zu, ihr zwei Scheißkerle. Ich suche immer noch nach dem Auge, capisce? Das Mädchen hilft mir dabei. Sie ist sehr einfallsreich, wisst ihr? Sie könnte euch beiden in den Arsch treten, wenn es sein muss.«
Carlito konnte nicht anders, er musste grinsen. Es war ihm gelungen, Jefe mit einem Minimum an Aufwand aufzustacheln.
»Weißt du was, Miguel?«, spottete er weiter. »Ich glaube, unser Jefe hat sich verliebt. Ist das nicht süß?«
»Sicher, Carlito. Zuckersüß. Aber es dauert nicht lang, weißt du? Du kannst schließlich nicht verliebt sein, wenn du kein Herz mehr hast.«
»Hör zu, Klugscheißer. Ich krieg den beschissenen Stein, okay?«, schnauzte Jefe und bedeutete Sanchez mit einem Wink, ihm noch ein Bier zu bringen. »Ich brauch einfach ein paar Tage länger, das ist alles.«
Carlito schüttelte den Kopf. »Ein paar Tage – wie in zwei? Das reicht nicht, Jefe. Du hast zehn Stunden. El Santino will diesen Stein vor Eintritt der Sonnenfinsternis morgen. Und weißt du was? Die Sonnenfinsternis tritt gegen Mittag ein. Du hast bis dahin Zeit, den Stein zurückzuholen.«
»Warum die verdammte Eile?«
Miguel packte Jefes Haare und riss seinen Kopf ein wenig zurück. »Das geht dich verdammt noch mal nichts an!«, sagte er drohend. »Tu das, wofür du angestellt wurdest, oder du bist morgen Mittag ein Fressen für die Geier.« Er ließ Jefes Haare los und blickte angewidert auf seine Hand.
»Fressen für die Geier? Hey, leck mich am Arsch, Mann.« Jefe stand kurz davor abzuheben. Er würde sich nicht in der Öffentlichkeit demütigen lassen, von niemandem. Nicht mal von Carlito und Miguel. Trotz der Menge, die er getrunken hatte, war er noch immer ziemlich schnell. Er packte Miguels Hand und drückte sie zusammen, während er aufstand und sich vor seinen ein wenig größeren Gegner stellte.
»Hey, leck dich selbst am Arsch, okay?«, schnarrte Miguel. Der Schmerz in seiner Hand wurde von Sekunde zu Sekunde stärker.
»Nichts da, das machst du«, knurrte Jefe, indem er losließ und sein Gesicht so dicht vor das von Miguel brachte, dass er fast dessen Stoppelbart spüren konnte.
»Haltet die verdammte Klappe, alle beide!«, unterbrach Carlito die Streithähne. Er war das Gehirn des Duos und entschied stets, wie weit eine Sache ging. »Los, Miguel, ich denke, wir haben ihm gesagt, was zu sagen war. Jefe ist entweder morgen Mittag mit dem Stein hier, oder aber er ist clever genug, den Planeten zu verlassen.«
Die beiden Handlanger von El Santino wandten sich ab und verließen die Tapioca Bar auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, wofür Sanchez ihnen äußerst dankbar war. Für eine Weile sprach niemand in der Bar. Sie alle wussten, dass es nicht klug war, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nachdem ein harter Brocken wie Jefe eine öffentliche Standpauke erhalten hatte. Sanchez bemühte sich, nicht zu dem großen Kopfgeldjäger zu sehen, der auf seinem Barhocker saß und schäumte wegen der unverschämten Art und Weise, in der Carlito und Miguel mit ihm umgesprungen waren. Es bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er seine Wut an jedem auslassen würde, der auch nur die kleinste Rechtfertigung dafür lieferte. Deshalb war Sanchez auch sehr erleichtert, als Jessica knapp fünf Minuten nach dem Abgang der beiden Handlanger in der Tapioca Bar erschien.
»Hey, großer Junge!«, sagte sie und versetzte Jefe einen zärtlichen Schubs in den Rücken. »Was ist denn in der Nightjar Bar passiert? Es war keine Menschenseele drin, als ich dort ankam. Abgesehen von einem riesigen Gorilla von einem Kerl. Der ganze Laden war voller Blut.«
»Ja, Baby«, sagte Jefe müde. Sein Tonfall war beträchtlich weicher geworden. »Es gab einen Zwischenfall in der Nightjar. Rodeo Rex ist wieder in der Stadt. Er hat offensichtlich ein paar Vampire kaltgemacht.«
»Was?«
»Er hat ein paar Vampire in der Nightjar kaltgemacht. Die Kundschaft hat fluchtartig den Laden verlassen.«
Sanchez konnte der Gelegenheit nicht widerstehen, sich der Konversation anzuschließen, nachdem negativ über die Konkurrenz geredet wurde.
»Ich hab immer gesagt, dass die Nightjar Bar ein mieser Schuppen ist. Seit Jahren hängen Vampire in diesem Drecksladen ab. Ich schätze, der Besitzer ist wahrscheinlich auch einer von denen. Ich würde diese Typen nicht in meinem Laden dulden. Blutsauger, elende. So hinterhältig wie Mäusescheiße, diese geizigen Bastarde.«
»Nehmt ihr beide mich auf den Arm?«, fragte Jessica ungläubig.
»Nein, Baby, wir meinen es todernst«, antwortete Jefe. »Die Nightjar Bar ist ein echtes Drecksloch.«
»Scheiße, ich rede nicht von der Bar!«, schimpfte sie. »Ich meine die Vampire. Gibt es ernsthaft Vampire in dieser Stadt?«
»Verdammt, ja!«, sagte Sanchez. »Diese Stadt hat ein Vampirproblem, solange ich mich zurückerinnern kann. Solange sich irgendjemand zurückerinnern kann! Deswegen ist es immer gut zu wissen, dass Rodeo Rex in der Stadt ist. Er ist der größte Vampirjäger von allen. Nicht mal Buffy kann ihm das Wasser reichen.«
»Wer zum Teufel ist Buffy?«
Sanchez und Jefe sahen einander an. Beide schüttelten fassungslos die Köpfe angesichts von Jessicas Ignoranz.
»Scheiße, Frau – weißt du denn überhaupt nichts?«, fragte Sanchez.
»Wie es aussieht nicht. Wie kommt es, dass vorher noch niemand mir gegenüber Vampire erwähnt hat?«
»Sorry, Baby«, sagte Jefe. »Ich schätze, das Thema kam einfach nie zur Sprache. Und um ehrlich zu sein, ich hab auch jetzt keine richtige Lust, darüber zu reden. Gehen wir zurück in mein Hotelzimmer, okay?«
»Wollen wir nicht zuerst noch einen Drink nehmen? Ich bin gerade erst angekommen.«
»Nein. Ich hab ungefähr so viel Bier intus, wie ich vertrage. Ich will jetzt nur noch vögeln, Jess, also wie sieht’s aus? Gehen wir zurück ins Hotel und hauen uns in die Kiste, okay?« Der letzte Vorschlag wurde von einem Zwinkern begleitet.
Jessica belohnte ihn mit einem frechen Grinsen und zwinkerte zurück. »Sicher, Honey«, sagte sie. »Hey, Sanchez, können wir vielleicht eine Flasche Wodka zum Mitnehmen haben?«
Es wäre eine Untertreibung zu schreiben, dass Sanchez mehr als ein wenig eifersüchtig war wegen der Aufmerksamkeit, mit der Jessica diesen Jefe überschüttete. Sie sahen allmählich aus und benahmen sich wie ein richtiges Paar. Wenn ich doch nur zuerst einen Versuch unternommen hätte, sinnierte er. Verdammter Jefe. Bastard. Doch er reichte Jessica eine Flasche Wodka auf Kosten des Hauses und machte eine tapfere Miene zum bösen Spiel. Er wollte nicht, dass Jefe merkte, wie scharf er auf diese Frau war. Das wäre nicht klug gewesen. Er starrte den beiden neidisch hinterher, als sie die Bar verließen. Jessica stützte den ziemlich betrunkenen Kopfgeldjäger auf dem Weg nach draußen. Sein Adrenalinstoß war offensichtlich abgeklungen, und er torkelte mühsam vor sich hin. Ohne Jessicas Hilfe wäre er sicherlich gestürzt.
Gerade als sie den Ausgang erreichten, rief Sanchez hinter ihnen her: »Wir sehen uns morgen. Vergesst nicht, dass Kostümzwang herrscht!«
Jessica drehte sich zu ihm um und zwinkerte ihm zu. »Keine Sorge, Sanchez«, sagte sie. »Ich komme verkleidet. Ich denke, mein Kostüm wird dir gefallen.«