Drei
Fünf Jahre waren vergangen seit jener Nacht, als der blonde Mann mit dem Kapuzenumhang in der Tapioca Bar aufgetaucht war. Das Lokal sah immer noch mehr oder weniger genauso aus wie damals. Die Wände waren vielleicht ein wenig nikotinfleckiger als früher und zeigten ein paar Löcher mehr von Querschlägern, doch ansonsten hatte sich nichts verändert. Fremde waren weiterhin unwillkommen, und die Stammgäste waren immer noch ausnahmslos Beutelschneider (allerdings waren es andere Stammgäste als vor fünf Jahren). Sanchez der Barmann war ein wenig fülliger in den Hüften geworden, doch ansonsten hatte auch er sich kaum verändert. Und so machte er, als die beiden merkwürdig aussehenden Fremden leise das Lokal betraten, Anstalten, ihre Drinks aus der Pissflasche auszuschenken.
Diese beiden Fremden hätten Zwillinge sein können. Ihre Köpfe waren vollkommen kahl geschoren, beide hatten olivfarbene Haut, und beide trugen die gleiche Kleidung: orangefarbene ärmellose Umhänge im Karatestil mit weiten schwarzen Hosen darunter und ziemlich unmännlich aussehenden spitzen schwarzen Stiefeln. Es gab zwar keine Kleiderordnung in der Tapioca Bar, doch hätte es eine gegeben, diese beiden Fremden wären nicht hereingelassen worden. Sie kamen zum Tresen und standen lächelnd vor Sanchez wie zwei zurückgebliebene Einfaltspinsel. Wie es Brauch war für Sanchez, ignorierte er sie. Unglücklicherweise jedoch – was ebenfalls Brauch war – hatten ein paar seiner weniger angenehmen (mit anderen Worten: höchst unangenehmen) Gäste die Neuankömmlinge bemerkt, und es dauerte nicht lange, ehe der Lärm im Schankraum einer erwartungsvollen Stille wich.
Die Tapioca Bar war normalerweise nicht sonderlich stark besucht, nicht um diese Tageszeit (es war noch früh am Nachmittag). Nur zwei der Tische waren besetzt, einer nahe beim Tresen mit drei Gästen, und einer in der anderen Ecke, wo zwei zwielichtige Gestalten über zwei Flaschen Bier hockten. Die Parteien an beiden Tischen unterzogen die beiden Fremden einer harten, eingehenden Musterung.
Die Stammgäste der Tapioca Bar waren nicht vertraut mit Mönchen von Hubal, weil diese sich nicht oft in dieser Gegend der Welt herumtrieben. Außerdem wussten die Gäste der Bar nicht, dass diese beiden Fremden in den merkwürdigen Kleidern die ersten beiden Mönche seit vielen Jahren waren, die die Insel von Hubal verließen. Der etwas größere und ältere von beiden war Kyle. Sein Begleiter Peto war lediglich ein Novize, der das Handwerk des Mönchtums erlernte. Nicht, dass Sanchez das hätte erkennen können. Oder dass es ihn interessiert hätte.
Die Mönche waren aus einem sehr speziellen Grund in die Tapioca Bar gekommen: Es war das einzige Lokal in Santa Mondega, von dem sie schon einmal gehört hatten. Sie hatten sich an Vater Taos’ Instruktionen gehalten und ein paar Einheimische gefragt, wo sie mit größter Wahrscheinlichkeit einen Mann finden würden, der nicht getötet werden konnte. Die Antwort hatte gelautet: »Versucht es in der Tapioca Bar.«
Einige wenige Leute waren so freundlich gewesen und hatten sogar einen Namen für den Mann vorgeschlagen, nach dem Kyle und Peto suchten. »The Bourbon Kid« wurde bei mehreren Gelegenheiten genannt. Der andere Name war der eines Mannes, der vor kurzem in der Gemeinde angekommen war. Er lautete einfach »Jefe«. Ein vielversprechender Anfang für die Suche, auf die sich die beiden Mönche begeben hatten. Oder zumindest dachten sie das.
»Entschuldigen Sie bitte, Sir«, sagte Kyle, indem er Sanchez höflich zulächelte. »Wir hätten gerne zwei Gläser Wasser.«
Sanchez nahm zwei leere Gläser, füllte Pisse aus der Flasche hinein und schob sie den beiden Fremden hin.
»Sechs Dollar.« Wenn die Fremden keine Herausforderung in diesem unverschämt hohen Preis bemerkten, war sie seinem Tonfall umso deutlicher zu entnehmen.
Kyle stieß Peto in die Rippen und flüsterte ihm etwas ins Ohr, während er Sanchez die ganze Zeit über sein erzwungen strahlendes Lächeln zeigte.
»Peto, gib ihm das Geld«, zischte er.
Peto schnitt eine Grimasse. »Aber Kyle, sind sechs Dollar nicht sehr teuer für zwei Gläser Wasser?«, flüsterte der junge Mönch zurück.
»Gib ihm einfach nur das Geld«, erwiderte Kyle drängend. »Wir wollen nicht wie Idioten aussehen.«
Peto blickte über Kyles Schulter zu Sanchez und lächelte den ungeduldig dreinblickenden Barmann an.
»Ich denke, dieser Kerl zieht uns über den Tisch.«
»Gib ihm einfach nur das Geld«, wiederholte Kyle. »Rasch.«
»Okay, okay, aber hast du nicht gesehen, was er uns für Wasser gegeben hat? Es ist so … so gelblich.« Peto holte Luft und fügte hinzu: »In meinen Augen sieht es aus wie Urin.«
»Peto – bezahl den Mann.«
Peto nahm eine Handvoll Banknoten aus einer kleinen schwarzen Tasche an seinem Gürtel, zählte sechs Ein-Dollar-Scheine ab und reichte sie Kyle. Kyle seinerseits reichte sie an Sanchez. Sanchez schüttelte missbilligend den Kopf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand sich diese beiden komischen Käuze schnappte. Es war ihre eigene Schuld, so wie sie aussahen und sich verhielten. Er drehte sich um und wollte das Geld in seine Registrierkasse legen, doch wie üblich hatte er die Kurbel noch nicht zu Ende gedreht, als einer der Stammgäste den beiden Fremden die erste Frage zurief.
»Hey, was wollt ihr Blödmänner hier?«, rief eine der zwielichtigen Gestalten vom Tisch in der Ecke.
Kyle sah, dass der Mann, der diese Frage gerufen hatte, in seine Richtung blickte, also lehnte er sich zurück und flüsterte Peto zu: »Ich glaube, er redet mit uns.«
»Tatsächlich?«, fragte Peto und klang überrascht. »Was ist ein ›Blödmann‹?«
»Ich weiß es nicht, aber es klingt, als könnte es eine Beleidigung sein.«
Kyle drehte sich um und sah, dass sich die Männer am Tisch in der Ecke von ihren Sitzen erhoben hatten. Die Holzdielen erbebten heftig, als die beiden sehr zwielichtigen, sehr niederträchtig aussehenden Schläger quer durch den Laden zu den beiden Mönchen schlenderten. Sie sahen entschieden wenig einladend aus. Eher nach Ärger und Scherereien. Selbst zwei naive Landeier wie Kyle und Peto vermochten das zu erkennen.
»Was auch immer du tust«, flüsterte Kyle an Peto gewandt, »verärgere sie nicht. Sie sehen ziemlich gemeingefährlich aus. Besser, du überlässt alles Reden mir.«
Die beiden Schläger blieben kaum einen halben Meter vor Kyle und Peto stehen. Beide sahen ungewaschen aus, eine Eigenschaft, die durch den ihnen anhaftenden Geruch untermalt wurde. Der größere der beiden, ein Bursche namens Jericho, kaute auf einem Stück Tabak, und ein brauner Speichelfaden troff ihm aus dem Mundwinkel. Er war unrasiert und trug den allem Anschein nach obligatorischen unhygienischen Schnurrbart, und nach seinem Aussehen zu urteilen, konnte er durchaus bereits ein paar Tage in der Bar verbracht haben, ohne zwischendurch nach Hause gegangen zu sein. Sein Begleiter Rusty war ein gutes Stück kleiner, roch aber genauso übel. Er hatte verfaulte schwarze Zähne, die er nun zeigte, als er Peto angrinste – einer der wenigen Männer in der Stadt, die klein genug waren, um ihm auf Augenhöhe gegenüberzustehen. Wie Peto der Lehrling von Kyle war, war Rusty der von Jericho, einem in einheimischen Kreisen bereits bekannteren Kriminellen. Und wie um zu betonen, wer von beiden der Anführer war, unternahm Jericho den ersten aggressiven Schritt. Er tippte Kyle unsanft mit dem Finger gegen die Brust.
»Ich hab dir eine Frage gestellt. Was macht ihr Blödmänner hier drin?«
Beide Mönche bemerkten eine gewisse raue Qualität in seiner Stimme.
»Nun, ich bin Kyle, und das hier ist mein Novize Peto. Wir sind Mönche, kommen von der pazifischen Insel Hubal und sind auf der Suche nach einem Mann. Vielleicht könnt ihr uns helfen, ihn zu finden?«
»Kommt drauf an, wen ihr sucht.«
»Äh, nun ja, wie es scheint, ist der Mann, den wir suchen, unter dem Namen ›The Bourbon Kid‹ bekannt.«
Schlagartig herrschte völlige Stille in der Tapioca Bar. Selbst der Deckenventilator verstummte. Dann erklang hinter dem Tresen ein klirrendes Geräusch. Sanchez hatte das Glas, das er in den Händen gehalten hatte, vor Schreck fallen lassen. Dieser Name war schon seit sehr langer Zeit nicht mehr in seiner Bar erwähnt worden. Seit sehr langer Zeit. Er weckte schreckliche Erinnerungen in Sanchez. Die bloße Erwähnung des Namens ließ den Wirt der Tapioca Bar erschauern.
Jericho und sein Kumpan kannten den Namen ebenfalls. Sie waren in jener Nacht nicht in der Bar gewesen, als Bourbon Kid sein Gesicht gezeigt hatte. Sie hatten ihn nie gesehen. Sie hatten nur von ihm gehört und von jener Nacht, als er im Tapioca Bourbon getrunken hatte. Jericho starrte Kyle in die Augen, um zu sehen, ob dieser seine Frage ernst meinte. Es hatte den Anschein.
»Bourbon Kid ist tot«, grollte er. »Sonst noch irgendwas?«
Sanchez kannte Jericho und Rusty ziemlich gut und schätzte, dass die beiden merkwürdigen Gestalten noch vielleicht zwanzig Sekunden zu leben hatten. Doch selbst diese Schätzung erschien plötzlich ein wenig optimistisch, als Peto sein Glas vom Tresen nahm und einen großen Schluck daraus trank. Sobald die Flüssigkeit seine Geschmacksknospen berührte, wurde ihm klar, dass er etwas Unheiliges trank, und instinktiv spie er es voller Abscheu wieder aus. Und zwar – über Rusty! Sanchez hätte beinahe laut aufgelacht, doch er war schlau genug, um zu wissen, dass so etwas kaum in seinem besten Interesse gewesen wäre.
Wie dem auch sei, plötzlich war Rusty voller Pisse. Seine Haare, sein Schnurrbart, seine Augenbrauen. Peto hatte ihn von oben bis unten vollgespuckt. Rustys Augen drohten vor Wut aus den Höhlen zu quellen, als er die goldfarbene Flüssigkeit anstarrte, die von seiner Brust tropfte. Es war der Gipfel der Demütigung. Genügend Demütigung, um in ihm den Wunsch zu wecken, Peto auf der Stelle umzubringen, ohne einen weiteren Gedanken. In einer flüssigen, blitzschnellen Bewegung griff er nach der Pistole im Halfter an seiner Hüfte. Sein Kumpel Jericho war genauso wütend, denn er zog ebenfalls die Waffe.
Mönche Hubals schätzen Frieden über alles, lernen und üben allerdings von Kindesbeinen an Kampfeskünste. Für Kyle und Peto war es demzufolge ein Kinderspiel (buchstäblich, angesichts ihrer Erziehung), zwei betrunkene Schläger auszuschalten, und das, obwohl die Männer mit ihren Kanonen auf sie zielten. Beide Mönche reagierten wie auf ein geheimes Zeichen hin und mit geradezu verblüffender Geschwindigkeit. Ohne jedes Geräusch duckten sich beide und traten ihrem jeweiligen ungewaschenen Gegenüber mit voller Wucht zwischen die Beine. Dann hakten sie den Fuß hinter das Knie ihres Opponenten und wirbelten herum. Vollkommen überrascht von der Geschwindigkeit des Angriffs brachten Jericho und Rusty nicht mehr als ein erstauntes Grunzen zustande, während die Mönche ihnen die Pistolen entwanden. Fast im gleichen Moment gab es zwei schwere polternde Geräusche, als die beiden Männer rücklings auf die erzitternden Dielen krachten.
Einen Moment zuvor waren sie in der Position der Überlegenen gewesen, und nun lagen sie auf dem Boden und starrten an die Decke. Schlimmer noch, die beiden Mönche zielten mit ihren eigenen Pistolen auf sie. Kyle trat vor und stemmte einen spitzen schwarzen Stiefel auf Jerichos Brust, um ihn am Aufstehen zu hindern. Peto machte sich nicht die Mühe, es seinem Mentor gleichzutun – hauptsächlich, weil Rusty beim Fallen so hart mit dem Kopf aufgeschlagen war, dass er im Moment wohl nicht einmal mehr wusste, wo er war.
»So. Wisst ihr jetzt, wo Bourbon Kid ist, oder nicht?«, fragte Kyle, indem er den Stiefel gegen Jerichos Brust drückte.
»Fick dich!«
PENG!
Kyles Gesicht war plötzlich von Blutspritzern übersät. Er sah nach links und bemerkte Rauch, der aus dem Lauf von Petos Pistole aufstieg. Der jüngere Mönch hatte Rusty ins Gesicht geschossen. Auf dem Boden war eine riesige Sauerei, die sich auf der Garderobe der beiden Mönche fortsetzte.
»Peto! Warum hast du das getan?«
»Es … es tut mir leid, Kyle, aber ich hab noch nie eine Pistole in den Händen gehabt! Sie ging einfach los, als ich den Abzug durchgedrückt habe!«
»Dazu ist so ein Abzug da, weißt du?«, sagte Kyle, doch er sagte es nicht unfreundlich.
Peto zitterte so sehr, dass er die Waffe kaum festhalten konnte, so groß war der Schock, der ihn erfasst hatte. Er hatte soeben einen Mann getötet, etwas, was er niemals für möglich gehalten hätte. Niemals. Und doch, in seinem Bemühen, Kyle nicht zu enttäuschen, verdrängte er den Mord fürs Erste, so gut es ging. Es war nicht einfach, mit all dem Blut überall als quasi ständige Erinnerung.
Kyle für seinen Teil sorgte sich mehr über die Tatsache, dass ihre Glaubwürdigkeit einen argen Schlag erhalten hatte. Er war dankbar, dass die Bar nicht voll war.
»Ehrlich, man kann dich nirgendwohin mitnehmen!«, sagte er in gespielter Missbilligung.
»Es tut mir leid.«
»Peto, tu mir einen Gefallen.«
»Selbstverständlich. Was denn?«
»Hör auf, mit diesem Ding auf mich zu zielen.«
Peto senkte die Pistole. Erleichtert wandte sich Kyle wieder seinem Verhör Jerichos zu. Die drei Männer am anderen Tisch hatten den Vorgängen den Rücken zugewandt und unterhielten sich bei ihren Drinks, als wäre all das völlig normal. Kyle stand über dem überlebenden Halunken am Boden, den Stiefel auf seiner Brust.
»Hör zu, Freund«, sagte er umgänglich. »Wir möchten nichts weiter als erfahren, wo wir Bourbon Kid finden können. Kannst du uns dabei helfen oder nicht?«
»Kann ich nicht, gottverdammt!«
PENG!
Jericho schrie auf und packte sich das linke Bein, aus dem nun Blut aus einer Wunde unter dem Knie in mehrere Richtungen spritzte. Einmal mehr stieg Rauch aus dem Lauf von Petos Pistole auf.
»Tut-tut-tut mir leid«, stammelte Peto. »Sie ist wieder einfach losgegangen. Ehrlich, ich wollte das nicht …«
Kyle schüttelte verärgert den Kopf. Jetzt hatten sie einen Mann erschossen und den zweiten verwundet. Nicht gerade die diskreteste Art und Weise, um nach dem Verbleib des kostbaren blauen Steins zu forschen, dem Auge des Mondes. Obwohl er der Fairness halber einräumen musste, dass selbst er als der Ältere von beiden eine große Nervosität verspürte, weil er nicht auf Hubal war. Daher akzeptierte er, dass Peto wahrscheinlich doppelt so zittrig war.
»Na ja, egal. Versuch einfach, es nicht noch mal zu tun.«
Jerichos Fluchen ließ die Luft erröten, während er sich unter Kyles unerbittlichem Stiefel am Boden wand.
»Ich weiß nicht, wo Bourbon Kid ist, ich schwöre es!«, brüllte er heiser.
»Möchtest du, dass mein Freund noch einmal schießt?«, fragte Kyle.
»Nein, nein! Bitte! Ich schwöre, ich weiß nicht, wo er ist! Ich hab ihn noch nie gesehen! Bitte, ihr müsst mir glauben!«
»Also schön. Weißt du etwas über den Diebstahl eines kostbaren blauen Steins, der bekannt ist als das Auge des Mondes?«
Jericho unterbrach sein Winden für eine Sekunde, was den beiden verriet, dass er etwas wusste.
»Ja. Ja, ich weiß etwas!«, stöhnte er. »Ein Kerl namens El Santino ist hinter dem Stein her. Er hat eine große Belohnung ausgesetzt für den, der ihm den Stein bringt. Das ist alles, was ich weiß, ich schwöre!«
Kyle nahm den Stiefel von Jerichos Brust und kehrte zum Tresen zurück. Er nahm sein unberührtes Glas und trank einen großen Schluck, bevor er Petos Beispiel folgte und den Schluck voller Abscheu ausspie. Der einzige Unterschied war, dass er alles über Sanchez spie.
»Ich denke, Sie sollten ein paar Flaschen frisches Wasser beschaffen«, schlug er dem betröpfelten Barmann vor. »Das hier ist wohl schlecht geworden. Komm, Peto, wir gehen.«
»Warte«, sagte Peto. »Frag sie nach dem anderen Kerl, diesem Jefe. Vielleicht wissen sie, wo wir ihn finden können?«
Kyle blickte zu Sanchez, der sich mit einem schmutzigen Lappen, der früher vielleicht einmal weiß gewesen war, die Pisse aus dem Gesicht wischte.
»Barmann, haben Sie je von einem Burschen namens Jefe gehört, der in dieser Gegend leben soll?«
Sanchez schüttelte den Kopf. Er hatte von Jefe gehört, doch er war niemand, der andere verpfiff, oder jedenfalls verpfiff er niemanden an Fremde. Abgesehen davon mochte er vielleicht wissen, wer Jefe war, doch er hatte ihn nie persönlich kennengelernt. Der Mann war bekannt als Kopfgeldjäger, der durch die ganze Welt reiste. Zugegeben, es hieß, er wäre zurzeit in Santa Mondega, doch er hatte noch keinen Fuß in die Tapioca Bar gesetzt. Und das war, soweit es Sanchez anging, ein Segen.
»Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Und jetzt verpisst euch aus meiner Bar!«
Die beiden Mönche waren ohne weiteres Wort gegangen. Die bin ich los, dachte Sanchez erleichtert. Blut von den Dielenbrettern der Tapioca Bar aufzuwischen war eine seiner ungeliebtesten Beschäftigungen. Dank der beiden Fremden, die er gleich wieder des Lokals hätte verweisen sollen, als sie aufgetaucht waren, musste er nun genau das tun.
Er ging nach hinten zur Küche, um einen Mopp und einen Eimer Wasser zu holen, und kehrte gerade rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie ein Mann die Bar betrat. Ein weiterer Fremder genau genommen. Groß gewachsen. Gut gebaut. Eigenartig gekleidet. Genau wie die beiden letzten Mistkerle. Es versprach ein beschissener Tag zu werden. Sanchez hatte jetzt schon die Nase voll, und dabei war erst früher Nachmittag. Er hatte einen Toten auf den Dielen, dessen Gehirn in der ganzen Bar verspritzt war, und einen zweiten Kerl mit einer Kugel im Bein. Er würde die Polizei rufen müssen, auch wenn das noch eine Weile Zeit hatte. Eine ganze Weile, mindestens.
Sanchez ging zu Jericho, wickelte ihm einen alten Lappen um die Schusswunde im Bein und half ihm hoch, bevor er hinter die Theke ging und sich um seinen jüngsten Gast kümmerte. Jericho hockte sich auf einen Barhocker und blieb schweigend sitzen. Er würde nicht den Fehler machen, den Neuankömmling zu belästigen.
Sanchez nahm ein sauberes (säuberliches) Geschirrtuch und wischte sich das Blut von den Händen, während er seinen neuen Gast musterte.
»Was darf’s sein, Fremder?«
Der Mann hatte sich auf dem Hocker neben Jericho niedergelassen. Er trug eine schwere schwarze ärmellose Lederweste, die halb aufgeknöpft war und den Blick freigab auf eine üppig tätowierte Brust und ein großes silbernes Kruzifix. Dazu trug der Fremde passende schwarze Lederhosen und schwere schwarze Lederstiefel. Er besaß dichtes schwarzes Haar und darüber hinaus die schwärzesten Augen, die Sanchez jemals gesehen hatte. Und in dieser Gegend der Welt waren das wirklich sehr, sehr schwarze Augen.
Der Fremde ignorierte die Frage des Barmanns und nahm sich eine Zigarette aus dem dünnen Päckchen, das vor ihm auf dem Tresen lag. Er schnippte die Zigarette in die Luft und fing sie mit dem Mund auf, ohne sich zu bewegen. Eine Sekunde später hielt er wie aus der Luft ein brennendes Streichholz in der Hand, steckte sich damit die Zigarette an und schnippte es zu Sanchez, alles in einer einzigen, fließenden, schnellen Bewegung.
»Ich suche jemanden«, sagte er.
»Und ich verkaufe Drinks«, sagte Sanchez. »Wollen Sie jetzt einen Drink bestellen oder was?«
»Gib mir einen Whisky.« Dann fügte er hinzu: »Gib mir Pisse, und ich mach dich kalt.«
Sanchez war nicht überrascht, ein entschieden raues Element in der Stimme des Fremden zu entdecken. Er schenkte einen Whisky aus und stellte das Glas vor dem Fremden auf den Tresen.
»Zwei Dollar.«
Der Mann kippte den Drink hinunter und knallte das leere Glas auf die Theke.
»Ich suche nach einem Burschen namens El Santino. War er hier?«
»Zwei Dollar.«
Einen nervösen Moment lang fragte sich Sanchez, ob der Fremde bezahlen würde oder nicht, dann zückte er eine Fünf-Dollar-Note aus seiner Westentasche und legte sie auf den Tresen, ohne jedoch das eine Ende loszulassen. Sanchez zupfte am anderen Ende, doch der Fremde hielt die Banknote eisern fest.
»Ich soll mich hier in dieser Bar mit einem Burschen namens El Santino treffen. Kennst du ihn?«
Scheiße!, dachte Sanchez müde. Jeder sucht heute nach irgendjemandem, zuerst diese beiden durchgeknallten Killer, die nach Bourbon Kid fragen – der Name ließ ihn innerlich erschauern – und nach irgend so einem beschissenen Mondstein und diesem Kopfgeldjäger Jefe, und dann kommt dieser beschissene Fremde hier und fragt nach diesem Scheißkerl El Santino. Doch er behielt seine Gedanken für sich. »Ja, ich kenne ihn«, war alles, was er sagte.
Der Mann ließ sein Ende der Fünf-Dollar-Note los, und Sanchez schnappte sie hastig. Als er die Kurbel drehte und die Note in die Registrierkasse legte, begann einer seiner Stammgäste wie üblich mit dem Verhör des Neuankömmlings.
»Hey, was zur Hölle willst du von El Santino?«, rief einer der drei Männer von seinem Platz an dem Tisch in der Nähe der Theke. Der ledergekleidete Fremde antwortete nicht sofort. Das war das Zeichen für Jericho, sich von dem Barhocker zu erheben, auf dem er sich ausgeruht hatte, und nach draußen zu humpeln. Er hatte genug Ärger für einen Tag gesehen und verspürte keine Lust, erneut beschossen zu werden, zumal einer von diesen diebischen Bastarden von Mönchen mit seiner Kanone aus dem Laden gestiefelt war. Auf dem Weg nach draußen stolperte er über den Leichnam seines toten Kumpels Rusty und fällte den wohl überlegten Vorsatz, für eine Weile nicht mehr zu den Stammkunden der Tapioca Bar zu zählen.
Nachdem Jericho gegangen war, beschloss der schwarz gekleidete Fremde an der Theke, die an ihn gerichtete Frage zu beantworten.
»Ich hab etwas, das El Santino haben will«, sagte er, ohne sich zu dem Fragenden umzublicken.
»Hey, du kannst es mir geben. Ich geb’s El Santino weiter«, sagte einer der Männer am Tisch. Seine Kumpane johlten.
»Kann ich nicht machen.«
»Sicher kannst du.« Der Tonfall war entschieden böswillig.
Es gab ein leises Klicken, ganz ähnlich dem Geräusch, das entsteht, wenn jemand den Hahn seines Revolvers spannt. Der Fremde am Tresen stieß einen Seufzer aus und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Die drei Taugenichtse am Tisch erhoben sich und machten sieben oder acht Schritte auf die Theke zu. Der Fremde drehte sich immer noch nicht zu ihnen um, obwohl sie sich direkt hinter ihm aufgebaut hatten.
»Hey, wie heißt du, Kerl?«, fragte der in der Mitte drohend.
Sanchez kannte den Burschen nur zu gut. Er war ein verschlagener kleiner Drecksack mit buschigen schwarzen Augenbrauen und zwei unterschiedlichen Augen. Das linke war dunkelbraun, das rechte hatte eine ganz eigene Farbe, die jemand einmal als »schlangenähnlich« beschrieben hatte. Seine beiden Kumpane Spider und Studley wirkten beide ein klein wenig größer als er, doch das konnte auch daran liegen, dass sie schmuddelige Cowboyhüte trugen, die eindeutig bessere Tage hinter sich hatten. Diese beiden Männer waren nicht das Problem. Sie waren nichts als die Eier. Es war der Schwanz in der Mitte mit dem merkwürdigen Auge, der die Scherereien brachte. Marcus das Wiesel war ein Gelegenheitsdieb, Gelegenheitsvergewaltiger und Gelegenheitsschläger. Und nun drückte er dem Fremden eine kleine Pistole in den Rücken. »Ich hab dir eine Frage gestellt«, sagte er. »Wie heißt du, Chef?«
»Jefe«, sagte der Fremde. »Mein Name lautet Jefe.« Scheiße, dachte Sanchez der Wirt, als er den Namen hörte. Ach du Scheiße.
»Jefe?«
»Ja. Jefe.«
»Hey, Sanchez!«, rief Marcus das Wiesel dem Barmann zu. »Diese beiden Mönche – waren die nicht auf der Suche nach einem Kerl namens Jefe?«
»Ja.« Der Barmann hatte beschlossen, so einsilbig wie möglich zu bleiben.
Jefe nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, dann drehte er sich langsam zu seinem Fragesteller um und atmete langsam aus, indem er Marcus die ganze Ladung Rauch ins Gesicht blies.
»Hast du ›Mönche‹ gesagt?«
»Ja«, antwortete Marcus und bemühte sich nach Kräften, nicht zu husten. »Zwei Mönche. Sie sind gerade eben erst gegangen, kurz bevor du gekommen bist. Du bist wahrscheinlich an ihnen vorbeigelaufen.«
»Ich bin an keinen beschissenen Mönchen vorbeigelaufen.«
»Sicher, Mann. Was immer du sagst.«
»Hör zu, Junge, tu dir selbst einen Gefallen und verrat mir, wo ich El Santino finden kann.«
Marcus das Wiesel zog die Pistole zurück und zeigte mit ihr in die Luft, dann senkte er sie wieder und zielte damit auf Jefes Nasenspitze.
»Wie ich bereits sagte, warum gibst du mir nicht einfach, was du hast, und ich gebe es El Santino weiter, Chef … eh, wie heißt du überhaupt?«
Jefe ließ seine Zigarette zu Boden fallen und hob langsam die Hände als Zeichen, dass er sich ergab, während er die ganze Zeit grinste wie über einen Witz, den nur er verstand. Er legte die Hände hinter den Kopf, dann glitten sie langsam hinunter in seinen Nacken.
»Also schön, Mann«, sagte Marcus. »Ich gebe dir drei Sekunden, um mir zu zeigen, was du für El Santino hast. Eins … zwei …«
TOCK.
Simultan gingen Spider und Studley, die rechts und links neben ihrem Kumpan mit dem eigenartigen Auge gestanden hatten, zu Boden und rührten sich nicht mehr. Marcus machte den Fehler, nach unten zu sehen. Beide lagen auf den Dielen, tot wie Stein, jeder mit einem kurzen, zweischneidigen Messer in der Kehle. Als Marcus den Blick wieder hob, wurde ihm bewusst, dass er seine Pistole nicht länger in der Hand hielt. Sie war nun in Jefes Besitz und auf ihn gerichtet. Marcus schluckte mühsam. Dieser Kerl war schnell. Und tödlich.
»Hör mal«, erbot sich Marcus das Wiesel, dessen Überlebensinstinkte sich plötzlich und laut zu Wort meldeten, »warum bringe ich dich nicht zu El Santino, eh?« Sei großzügig, rief er sich ins Gedächtnis. Sei immer schön großzügig.
»Sicher. Warum nicht? Das wäre großartig.« Jefe grinste. »Aber warum kaufst du uns nicht zuerst zwei hübsche große Whisky?«
»Mit dem größten Vergnügen.«
Nachdem sie die Leichen von Rusty, Spider und Studley nach draußen in den Hinterhof geschleift hatten, wo sie niemand so schnell suchen würde, setzten sich die beiden Männer die nächsten paar Stunden an die Theke und tranken Whisky.
Marcus war derjenige, der die meiste Zeit über redete. Er versuchte seinen besten Fremdenführereindruck zu erwecken und belieferte Jefe mit den besten Adressen für den Fall, dass er sich amüsieren wollte. Er warnte seinen neuen Kumpan auch vor den Läden und Leuten, die aller Wahrscheinlichkeit nach versuchen würden, ihn über den Tisch zu ziehen. Jefe lauschte Marcus und tat, als würde er sich für das interessieren, was das Wiesel ihm erzählte, doch in Wirklichkeit suchte er nur jemanden, der für alle Drinks bezahlte. Zum Glück hatte Marcus die Geistesgegenwart besessen, sich Studleys Scheintasche anzueignen sowie die drei Dollar, die Spider in der Hemdentasche getragen hatte. Die Scheintasche war voller Banknoten, und so verfügte er über genügend Geld, um ein paar Tage lang die Getränkerechnungen zu bezahlen.
Am frühen Abend war Jefe sehr betrunken, und weder er noch Marcus hatten bemerkt, dass es in der Tapioca Bar ziemlich voll geworden war. Es gab noch immer reichlich freie Hocker und Tische, doch es gab auch zahlreiche Gäste – Stammgäste –, die sich in den Schatten herumtrieben. Irgendwie hatte sich herumgesprochen, dass Jefe etwas bei sich trug, das eine Menge Geld wert war. Er hatte sich einen Ruf als ein Mann erworben, den man fürchten musste, doch er war nicht besonders bekannt in dieser Gegend. Und er war inzwischen sehr betrunken, was ihn zu einem vorzüglichen Kandidaten für all die Halsabschneider und Diebe machte, die in der Tapioca Bar verkehrten.
Wie sich herausstellte, sollte das, was Jefe später in jener Nacht zustieß, der Katalysator für sämtliche sich daran anschließenden Ereignisse sein. Hauptsächlich jede Menge Mord und Totschlag.