Fünfundfünfzig

Peto hatte keine rechte Vorstellung, was dieser ganze Verkleidungs- und Kostümzirkus überhaupt sollte, doch Kyle hatte ihn überzeugt, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Am vorangegangenen Morgen hatten sie zwei Kostüme gemietet. Obwohl sie keine Ahnung hatten, wer die Cobra Kai waren, fanden beide rasch Gefallen an den neuen Kostümen. Der Besitzer des Kostümverleihs hatte erzählt, dass die Cobra Kai eine Bande von Martial-Arts-Kämpfern aus einem Film namens Karate Kid waren. Die Kostüme waren aus einem stabilen schwarzen Material gefertigt. Die Hosen waren weit und komfortabel, und die ärmellosen Wickeljacken zeigten auf dem Rücken eine recht künstlerische gestickte Darstellung einer gelben Kobra. Zum ersten Mal in ihren Leben hatten Kyle und Peto eine Vorstellung, wie es sich anfühlte, cool auszusehen.

Sie hatten ungefähr zwanzig Minuten draußen vor der Nightjar Bar gewartet, bevor sie sich gezwungen sahen zu akzeptieren, dass Dante nicht mehr kommen würde. Peto war besonders enttäuscht, weil er den jungen Mann mochte und ihn als einen der angenehmeren Zeitgenossen betrachtete, denen sie bisher in Santa Mondega begegnet waren. Wie es aussah, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder würde Dante nicht auftauchen und hatte dies von Anfang an nicht vorgehabt, oder er war früher am Morgen da gewesen, hatte gesehen, dass die Nightjar Bar geschlossen war, und war deswegen in ein anderes Lokal gegangen. Diese zweite Möglichkeit brachte Kyle und Peto darauf, ihr Glück in der Tapioca Bar zu versuchen. Sie mussten sich allerdings beeilen, denn die Zeit wurde allmählich knapp. Ein Blick hinauf zum Himmel zeigte, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sich der Mond vor die Sonne schob.

Während die beiden Mönche in flottem Laufschritt durch die Straßen eilten, wurde ihnen alsbald klar, dass sie buchstäblich gegen den Mond rannten. Auf dem ganzen Weg blieb er immer einen Schritt hinter ihnen, während er sich weiter und weiter vor die Sonne schob, die nun direkt über Santa Mondega im Zenit stand.

Nachdem sie sich einen Weg durch die unablässig wachsende Menschenmenge auf den Straßen gebahnt hatten, erreichten sie schließlich die Tapioca Bar, doch es blieb ihnen nur noch sehr wenig Zeit. Als sie zum Eingang trotteten, wurde ihnen klar, dass es zu spät war, um jetzt noch einen Plan zu schmieden, also betraten sie die Bar einfach so durch den Haupteingang. Sobald sie drinnen waren, erkannte Peto, dass sich an einem der Tische Ärger zusammenbraute. Ein paar unglaublich lächerlich angezogene Gestalten schienen sich alle zusammen auf einen Kerl mit einer dunklen Sonnenbrille und einer schwarzen Ledermontur stürzen zu wollen. Es sah aus wie ein Verhör unter Folter, obwohl Peto nicht sicher sein konnte, weil er sich alle Mühe gab, sich nicht beim Gaffen erwischen zu lassen.

Sie gingen zur Theke, hinter der wie immer Sanchez stand, nur dass er heute ein merkwürdig eng sitzendes Kostüm mit einer schwarzen Kapuze über dem Kopf und einer Maske vor dem Gesicht trug. Die beiden Mönche von Hubal waren von all den fantasievollen Kostümen inzwischen ziemlich entnervt, denn einige sahen unheimlich echt aus, und Kyle und Peto hatten nicht die geringste Ahnung, welche Berühmtheiten die jeweiligen Träger darstellen wollten. Wie stets in potenziell gefährlichen Situationen überließ Peto klugerweise Kyle das Reden, wenigstens zu Anfang.

»Zwei Gläser Wasser bitte, Sanchez«, sagte Kyle zu dem Barmann.

»Hey, Robin – bring den beiden Mönchen zwei Bier … auf Kosten des Hauses!«, befahl Sanchez dem Koch Mukka, dann wandte er sich wieder an Kyle und Peto. »Damit ihr Bescheid wisst, ihr beiden – heute bin ich nicht Sanchez. Heute bin ich Batman.«

»Bat … Man?«, fragte Kyle und bewunderte insgeheim, wie schlau es war von Sanchez, die beiden Worte zu einem zusammenzusetzen. »Bat-Man. Das gefällt mir. Ein großartiges Kostüm. Und diese anderen Leute – wen wollen sie mit ihren Verkleidungen darstellen?«

»Nun ja«, antwortete Sanchez leise, indem er sich zu ihnen vorbeugte und auf den Tisch mit den grotesken Gestalten zeigte. »Hört genau zu, weil das, was ich euch jetzt sage, wichtig ist. Seht ihr diese beiden Kerle, die sich als Cowboys verkleidet haben? Das sind Carlito und Miguel, zwei niederträchtige Bastarde, die für El Santino arbeiten. Der Kerl in dem rot-schwarz gestreiften Pullover mit der komischen Maske, das ist Jefe, der Kopfgeldjäger, nach dem ihr gesucht habt. Der muskulöse Kerl mit dem schwarz-weiß geschminkten Gesicht, das ist der Mann. El Santino persönlich. Allerdings denke ich, dass der Bursche in den schwarzen Lederklamotten mit der Sonnenbrille euch am meisten interessieren dürfte. Er ist als Terminator verkleidet hergekommen und hatte euren blauen Stein bei sich.«

»Hatte er? Ich meine, hat er?« Halb fragte Kyle, halb stellte er fest.

»Hatte er. Aber jetzt hat Jefe ihn, der Typ in dem gestreiften Pullover mit der komischen Maske.«

Peto wusste, dass das ihr Stichwort war. Es war keine Zeit für einen Drink oder für irgendwelche freundlichen Unterhaltungen. Sie waren nur aus einem einzigen Grund hergekommen: das Auge des Mondes in ihren Besitz zu bringen, bevor die Sonnenfinsternis begann, und das war jeden Augenblick so weit, jede Sekunde.

Nicht ohne Nervosität näherten sie sich dem Tisch. Kyle ging vor, Peto folgte ihm dicht auf dem Fuß. El Santino, der mächtige Mann mit dem langen dunklen Haar und dem schwarz-weiß geschminkten Gesicht war damit beschäftigt, den Terminator zu verhören. Miguel stand mit geballter Faust neben dem Terminator, bereit zuzuschlagen, falls der Terminator die Fragen des großen Mannes nicht zufriedenstellend beantwortete.

»Hey, Kyle!«, flüsterte Peto. »Der Typ, der als Terminator verkleidet ist – ist das nicht Dante?«

»Ja. Ich denke, das ist er. Wie es aussieht, hat er uns also doch nicht sitzen lassen.«

Dante sah aus, als hätte er auf die meisten Fragen bisher keine zufriedenstellenden Antworten gewusst. Sein Gesicht war geschwollen, und seine Nase blutete ein wenig, was den Verdacht nahelegte, dass er bereits einiges an Prügel hatte einstecken müssen.

Für die beiden Mönche hieß es »Jetzt oder Nie«. Kyle schob sich als Erster zwischen Dante und seine Folterer, um sicher zu sein, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Alles am Tisch erstarrte in seinem Tun und gaffte voller Staunen auf den Cobra Kai, der die Kühnheit besaß, eine sehr ernste Vernehmung zu stören.

»Entschuldigung«, sagte Kyle höflich an den gesamten Tisch gewandt, doch er deutete auf Jefe. »Wenn ich richtig informiert bin, hat dieser Gentleman hier etwas, das uns gehört. Wir hätten es gerne zurück, bitte.« Sein Tonfall war ruhig und gleichmütig, doch es schwang eine Spur von Stahl darin.

Alle am Tisch starrten Kyle an, als hätte er den Verstand verloren. Selbst Peto war nicht sicher, ob das Verhalten seines Mentors klug war.

»Wer zum Teufel sind diese beiden Clowns?«, donnerte El Santino, indem er so heftig von seinem Stuhl aufsprang, dass das Möbel nach hinten kippte.

»Ich schätze, sie haben sich als Cobra Kai verkleidet«, antwortete Carlito, der unerschrocken an El Santinos Seite stand.

»Wow, cool!«, krähte Miguel im Tonfall eines aufgeregten Knaben. »Aus Karate Kid, richtig?« Er nahm sich einen Augenblick Zeit und richtete seine Aufmerksamkeit von Dante zu den Mönchen, um sie eingehend zu studieren. Seinem Gesicht war anzusehen, wie sehr er von ihren Kostümen beeindruckt war, zum großen Ärger seines Bosses. El Santino hämmerte beinahe ansatzlos eine krachende Faust auf den Tisch, der unter der Wucht des Schlages fast zerborsten wäre. Seine Nüstern waren gebläht, und auf seiner Stirn trat wie aus dem Nichts eine dicke Ader hervor, die aussah, als könnte sie jeden Moment platzen.

»Scheiß auf Karate Kid, und scheiß auf die Cobra Kai!«, fluchte er. »Ich geb einen verdammten Dreck auf diesen Mist! Ich will wissen, was zum Teufel diese beiden Clowns mit meinem Auge wollen!«

»Sieh sie dir genauer an, El Santino«, sagte Jefe cool. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind diese beiden Jungs Mönche von Hubal.«

Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
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