Fünf

Jefe schrak aus dem Schlaf. Sein Herz hämmerte wild, und all seine Instinkte sagten, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war definitiv nicht so, wie es sein sollte. Doch was mochte das sein? Was war passiert, dass er so unvermittelt aus dem Schlaf hochgeschreckt war, übermannt von einem Gefühl der Angst? Und Bedrohung? Es gab nur einen Weg, eine Antwort zu finden – er musste die Ereignisse des vorhergehenden Abends rekonstruieren. Das sollte nicht allzu schwierig werden. Erstens: Marcus das Wiesel hatte ihm sämtliche Drinks spendiert. Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Marcus hatte sich vor Jefe gefürchtet, und das mit Recht. Jefe hatte eigentlich vorgehabt, Marcus zu töten, sobald dieser seinen Zweck erfüllt hatte, nämlich zum einen Jefe die ganze Nacht mit Drinks zu versorgen und ihn zum anderen anschließend zu El Santino bringen. Doch Jefe hatte El Santino noch nicht gesehen, und Marcus das Wiesel war ebenfalls verschwunden.

Jefe lag auf dem Rücken in einem klapprigen alten Bett in einem heruntergekommenen Zimmer in einem billigen Motel. Er war dehydriert, zweifellos von all den Drinks, die er und Marcus am Abend zuvor hinuntergekippt hatten. Es war kein schlechter Abend gewesen. Wenn Jefe sich recht erinnerte, war Marcus ein guter Gesellschafter gewesen, ein Partner, der einiges an Whisky und Tequila vertragen konnte. Er war trotzdem ein Arschloch, doch er hatte wenigstens das Tempo mithalten können. Inzwischen erinnerte sich Jefe an mehr und mehr Details des vorangegangenen Abends. Marcus hatte, wie es schien, eine unglaubliche Menge vertragen, selbst dann noch, als Jefe schon angefangen hatte, doppelt zu sehen. Das war höchst ungewöhnlich, denn Jefe vertrug eine ziemliche Menge. Er konnte tagelang am Stück trinken und sich trotzdem noch zusammenreißen. Warum also war er so völlig unerwartet so völlig stockbetrunken gewesen?

O nein.

Ein kalter Schauer erfasste ihn.

Wie auf ein Zeichen begann sein Schädel zu pochen, und der Kater ergriff von ihm Besitz. War er etwa auf einen der ältesten Tricks der Welt hereingefallen? Hatte Jefe einen Kurzen nach dem anderen gekippt, während sein neuer Freund Marcus die ganze Zeit über nur Wasser getrunken hatte, als Tequila getarnt? Wenn das der Fall war, hätten zwei Dinge passiert sein können. Erstens: Er hätte im Schlaf ermordet worden sein können. Was offensichtlich nicht der Fall war. Oder zweitens: Ausgeraubt. Höchstwahrscheinlich war genau das geschehen.

Scheiße.

Er betastete seine Brust in der Hoffnung, dort den kostbaren blauen Stein zu spüren, den er in den vergangenen Tagen um den Hals getragen hatte. Doch seine Hand berührte nichts als dünne Luft an der Stelle, wo der Stein hätte sein sollen. Er setzte sich kerzengerade auf.

»Dieser verdammte Strolch!«

Sein Schrei hallte durch das heruntergekommene Gebäude. Das waren schlimme Neuigkeiten, in jeder Hinsicht. Jefe war über den Tisch gezogen worden, von einem Mann, der hier in der Gegend bei allen als absoluter Feigling und Schleimbeutel bekannt war, als ein Wiesel. Wie hatte er so dumm sein können, so unglaublich einfältig? Was für ein schwachsinniger Idiot er gewesen war! Dieses verdammte Wiesel Marcus! Der Kerl war so gut wie tot!

Jefes Verstand war voller Fragen, die in seinem Kopf umherrasten wie Füchse in einem Hühnerstall. Wusste Marcus um die Macht, die der Stein besaß? Wusste er, dass der Stein das Auge des Mondes war, der kostbarste und mächtigste Stein im gesamten Universum? Und wusste er, dass Jefe nun kein anderes Ziel mehr im Leben haben würde, als Marcus zu jagen und zu töten und den Stein zurückzuholen?

Was den Kopfgeldjäger mehr als alles andere sorgte, war seine Verabredung an diesem Tag. Eine Verabredung mit einem Mann, dessen Ruf schlimmer war als der des Teufels höchstpersönlich. Er brauchte das Auge des Mondes, wenn er eine Chance haben wollte, dieses Treffen zu überleben. El Santino erwartete, dass der Stein vor Mitternacht abgeliefert wurde. Jefe hatte es ihm versprochen.

El Santino war kein Mann, den Jefe enttäuschen wollte, auch wenn er ihm nie zuvor begegnet war – doch das war nicht einmal das größte seiner Probleme. Wenn Marcus das Wiesel die Macht des Steins entdeckte, war es praktisch unmöglich, ihm das Auge des Mondes wieder abzunehmen. Genauso, wie es eigentlich völlig unmöglich hätte sein dürfen, dass der Stein Jefe gestohlen worden war.

Ein weiterer Gedanke kam ihm. Es bestand nämlich durchaus die Gefahr, dass Marcus von jemand anderem überfallen wurde. Es gab mehr als genug Leute, die scharf waren auf das Auge des Mondes. Viele von ihnen waren so brutal wie Jefe, andere noch brutaler. Wenn einer von ihnen den Stein in die Hände bekam, würde Jefe ihn niemals vor Ablauf des Tags zurückholen können.

Falls überhaupt jemals.

Er dachte für einen Moment über seine Möglichkeiten nach. Er konnte die Stadt verlassen und niemals wieder nach Santa Mondega zurückkehren – doch er hatte so viel Mühen auf sich genommen, um den Stein zu finden. Es war quasi ein Wunder, dass er bis jetzt überlebt hatte. Allein die Suche nach dem Stein und dessen Diebstahl hatten erfordert, mehr als Hundert Leute umzubringen, und mehr als einmal war Jefe selbst kurz davor gewesen, getötet zu werden. Und doch hatte er bis hierher überlebt. Er war unbeschadet bis in dieses Dreckskaff gekommen, nur um ausgerechnet dann unachtsam zu werden und auszurutschen, als er sich der letzten Hürde näherte.

Es mochte sich als beinahe unmöglich erweisen, den Stein von Marcus dem Wiesel zurückzuholen, doch er rief sich ins Gedächtnis, wie viel Geld er für ihn wert war. Eine ganze Menge. Davon abgesehen hing sein Leben davon ab.

Scheiße. Er würde frühstücken, und dann würde er sich auf die Suche begeben.

Das Wiesel war so gut wie tot.

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