Zweiundzwanzig
Jefe und Jessica blieben noch mehrere Stunden in der Tapioca Bar und tranken. Der Kopfgeldjäger putzte zwei weitere Whiskys, acht Bier und drei Tequilas weg. Nach den ersten paar Drinks war er wieder ganz der unausstehliche, arrogante Alte. Jessica mit ihren insgesamt fünf Bloody Marys blieb ein wenig reservierter. Je mehr die beiden tranken, desto besser schienen sie sich zu verstehen, sehr zu Sanchez’ Ärger. Er konnte nicht umhin festzustellen, dass Jessica tief beeindruckt war von Jefe. Er erzählte ihr Geschichten von seinen Abenteuern als Kopfgeldjäger und wie er Männer für Geld gefangen genommen und manchmal auch getötet hatte. Er war in der ganzen Welt herumgekommen und hatte steckbrieflich gesuchte Verbrecher gestellt. Von den tiefsten Dschungeln bis zu den höchsten Bergen gab es keinen Ort auf der Welt, an dem Jefe seine Beute nicht verfolgte und schließlich stellte.
Auch wenn er sorgfältig darauf achtete, keine Namen zu nennen, ließ er den einen oder anderen Hinweis fallen, aus dem hervorging, dass er verantwortlich war für den Tod mächtiger, einflussreicher Personen, von denen man immer geglaubt hatte, sie wären bei Unfällen ums Leben gekommen. Es war ziemlich geschickt gesponnenes Garn, das niemand nachprüfen konnte. Nicht, dass irgendjemand lebensmüde genug gewesen wäre, seine Worte infrage zu stellen – jeder wusste, wie gut er in seinem Job war. Wenn die Leute, die ihn bezahlten, wollten, dass ein Mord wie ein Unfall aussah, dann sah er eben genau wie ein Unfall aus und nichts anderes.
Sanchez konnte nicht mit einem so dramatischen Lebenslauf konkurrieren, und so war es keine Überraschung für ihn, als Jessica leicht angetrunken eine Stunde vor Schließung der Bar mit Jefe zusammen ging. Die beiden lehnten sich aneinander und stützten sich gegenseitig, während sie nach draußen und auf die Straße torkelten. An der frischen Luft angekommen fingen sie an, irgendein Lied zu grölen, dessen Text Sanchez nicht verstand. Dann waren sie verschwunden.
Die Tapioca Bar war inzwischen fast leer bis auf eine kleine Gruppe von Stammgästen, die an einem Tisch in einer Ecke Karten spielten – und zwei Männer mit Kapuzen über den Köpfen an einem weiteren Tisch näher beim Tresen. Sanchez hatte ihnen vorher nicht viel Beachtung geschenkt. Mukka hatte die Arbeit hinter dem Tresen gemacht, während sein Boss herumgeflitzt war, mit dem einen oder anderen Gast geschwatzt und sein Bestes gegeben hatte, um Jessicas Blick zu erhaschen.
Es gab eine Regel in der Tapioca Bar (auch wenn es eine ungeschriebene war), die den Gästen verbot, ihre Kapuzen in der Bar aufzusetzen. Sanchez hatte sie kurze Zeit nach dem Zwischenfall mit dem Bourbon Kid vor fünf Jahren erlassen. Bis zur Mondfestival-Kostümparty waren es noch ein paar Tage, doch diese beiden schienen sich bereits jetzt dafür verkleidet zu haben, wie es schien als Jedi-Ritter. Jeder trug einen langen braunen Umhang über weiten, wallenden Hosen aus einem dicken Material. Sanchez fand sich mit einem Mal in einem Dilemma: Sollte er die beiden ansprechen und verlangen, dass sie ihre Kapuzen abnahmen, oder sollte er es lassen? Ehrlich gesagt, er war müde, und die Nachricht von Elvis’ Ende hatte ihn geschockt. Er wollte keine weiteren Scherereien mehr, deswegen beschloss er, für dieses eine Mal den Mund zu halten.
Wie es der Zufall wollte, erhoben sich die beiden Männer von ihren Plätzen und kamen zu der Stelle, wo Sanchez am Tresen lehnte. Einer ging hinter dem anderen, mit gesenktem Kopf, als wäre er weniger zuversichtlich als sein Begleiter. Als sie nahe genug gekommen waren, um eine erste Spur von Unbehagen in Sanchez zu erzeugen, warfen sie ihre Kapuzen zurück und enthüllten ihre Gesichter. Sanchez erkannte sie auf der Stelle. Es waren die beiden Mönche. Mit übergezogenen Kapuzen hatten sie einen sehr bedrohlichen Eindruck erweckt. Jetzt sahen sie wieder ganz und gar aus wie die beiden unbedarften Narren, die vor ein paar Tagen in der Bar gewesen waren.
»Was zum Teufel wollt ihr hier?«, herrschte Sanchez die beiden an. Es konnte nur weitere Scherereien bedeuten, dachte er bei sich und seufzte innerlich.
»Das Gleiche wie jeder andere in dieser Gegend offensichtlich auch«, antwortete der Mönch mit Namen Kyle, der vorne stand. »Wir wollen das Auge des Mondes zurück. Wir wollen es deswegen zurück, weil es unser rechtmäßiges Eigentum ist.«
»Meine Güte, lasst mich damit in Ruhe, okay? Ich bin nicht in der Stimmung!« Sanchez wollte ihnen zeigen, dass er verärgert war wegen ihrer Anwesenheit. Diese beiden Clowns hatten bereits bei ihrem letzten Besuch eine höllische Sauerei in seinem Laden veranstaltet, und im Licht dieser Ereignisse hatte er gehofft, dass sie den verdammten Anstand besaßen, von weiteren Besuchen in der Tapioca Bar abzusehen. Sein alles andere als einladendes Verhalten schien jedoch völlig von ihnen abzuprallen. Die beiden Mönche bemerkten es einfach nicht.
»Wir sind schon fast den ganzen Tag hier«, sagte Kyle. »Wir haben dagesessen und zugehört. El Santino hat Ihnen fünfzigtausend Dollar geboten, wenn Sie den Stein für ihn finden. Wir geben Ihnen hunderttausend Dollar, wenn Sie uns nur verraten, wer den Stein im Augenblick besitzt. Sie müssen ihn nicht für uns zurückholen. Das erledigen wir selbst. Zeigen Sie uns nur die richtige Richtung. Sobald wir den Stein haben, gehören Ihnen einhunderttausend Dollar. Ich wäre sehr überrascht, wenn Sie ein noch besseres Angebot als das unsrige fänden.«
Kyle hatte ein sehr gutes Angebot unterbreitet, das musste gesagt werden. Also sagte es Sanchez.
»Das ist ein sehr gutes Angebot«, bestätigte er.
»Ich weiß. Also sind wir uns einig? Oder nicht?«
Sanchez rieb sich für eine Weile das Kinn, als würde er über das Angebot nachdenken, was er unübersehbar längst nicht mehr tat. Es war ein großartiges Angebot. Ein Angebot, bei dem er nichts verlieren konnte. Die Mönche waren heilige Männer, was bedeutete, dass sie zu dem standen, was sie sagten. Wenn er herausfand, wo der Stein war, konnte er ihn für hunderttausend an die beiden verkaufen und dann Jefe und El Santino erzählen, dass die Mönche ihn hatten, und von den beiden auch noch jeweils ein paar Tausend Dollar kassieren.
»Okay, abgemacht«, sagte er schließlich. »Ich finde heraus, wer den Stein hat, und gebe euch Bescheid. Ihr gebt mir hundert Riesen, und alle sind glücklich, hab ich das richtig verstanden?«
»Das haben Sie richtig verstanden«, sagte Kyle. »Geben wir uns darauf die Hand.«
»Sicher.«
Sanchez war überrascht, dass ein Handschlag etwas war, mit dem Mönche sich auskannten. Vielleicht hatten sie ein paar Dinge über die einheimische Kultur herausgefunden? Oder vielleicht wollten sie ein paar Karategriffe an ihm ausprobieren, sobald sie seine Hand hatten? Wie dem auch sei, für einhundert Riesen war er nur zu bereit, mit den beiden die Hände zu schütteln. Es war ein Risiko, das er einzugehen bereit war, also gab er ihnen die Hand und stellte zu seiner Bestürzung fest, dass beide einen sehr schlaffen Händedruck hatten. Er schloss daraus, dass Händeschütteln ein Brauch war, den die beiden zwar gesehen, aber noch nie vorher selbst ausgeübt hatten.
»Wir melden uns bald wieder bei Ihnen«, sagte Kyle mit einem Kopfnicken. »Bitte stellen Sie sicher, dass Sie dann ein paar gute Neuigkeiten für uns haben.«
Mit diesen Worten wandten sich die beiden Mönche ab und gingen zur Tür. Sanchez war fasziniert von den Veränderungen in ihrem Verhalten, seit sie das letzte Mal in seiner Bar gewesen waren. Diesmal waren sie weit selbstsicherer und gefasster aufgetreten als beim ersten Mal, und sie hatten zumindest den Versuch erkennen lassen, sich einzufügen.
»Hey, Mönche!«, rief er ihnen hinterher. »Eine Frage noch, ihr beiden! Habt ihr zufällig einen Wagen?«
Kyle blieb stehen, und Peto rannte in ihn, was ihren gekonnten Auftritt ein klein wenig ruinierte. Er blickte sich nicht zu Sanchez um, als er antwortete.
»Nein. Wir haben keinen Wagen«, sagte er. »Warum fragen Sie?«
»Nur so. Kein besonderer Grund. Macht weiter, Jungs, wir sehen uns dann irgendwann.«