Achtundfünfzig
Als die Sonnenfinsternis begann und der Mond sich vor die Sonne schob, erkannte Dante, dass er eine Chance hatte. Jemand stand auf seiner Seite – vielleicht sogar der Allmächtige höchstpersönlich –, doch wer auch immer es war, er hatte ihm eine Rettungsleine zugeworfen. Er hatte Dante eine einmalige Gelegenheit verschafft, zusammen mit Kacy lebend aus der Tapioca Bar zu entkommen.
All die anderen Leute am Tisch waren von Unsicherheit übermannt, teilweise sogar von Panik, als es über Santa Mondega dunkel wurde. Niemand wusste, wer mit seiner Waffe auf wen zielte. Außer Dante. Er sah alles. Zu seiner Linken sah er die Kapuzengestalt des Bourbon Kid, die ein leeres Glas auf den Tresen knallte und zwei vollautomatische Skorpion-Pistolen aus dem langen Trenchcoat zog. Vor sich sah Dante Kacy, El Santino, Carlito, Miguel, Jefe, Jessica und die beiden Mönche, allesamt nervös angesichts der plötzlichen, wenn auch nicht unerwarteten Dunkelheit. Und diejenigen von ihnen, die Waffen hatten, wirkten sogar extrem nervös.
Es war nicht nur der größte Glücksfall aller Zeiten, es musste ein Moment göttlicher Intervention sein. Dante dankte dem Allmächtigen im Himmel und dem Kostümverleiher, der ihm die Terminator-Verkleidung vermietet hatte, denn es war etwas Spezielles daran. Der Verkäufer hatte nichts davon erwähnt, als Dante sich für das Kostüm entschieden hatte. Ein kleines Detail vielleicht, das der Verkäufer übersehen hatte? Sicherlich nicht, denn es war kein kleines Detail. Ganz gewiss nicht in Dantes gegenwärtiger, prekärer Lage. Es war eine ganz großartige Sache. Ein lebensrettender Bonus von den freundlichen Leuten bei Dominos Kostümverleih. Ohne Extragebühren.
In den Filmen verfügte der Terminator über Infrarotsicht. Jetzt, im letzten flüchtigen Tageslicht vor Einsetzen der totalen Sonnenfinsternis, stellte Dante voller Staunen fest, dass die billige Imitation von einer Sonnenbrille, die zu dem Kostüm gehörte, ebenfalls mit Infrarotsicht ausgestattet war. Infolgedessen konnte er von dem Moment an alles sehen, als die Sonne hinter dem Mond verschwand und der Bourbon Kid seinen ersten Schuss abfeuerte.
Zugegeben, die Einzelheiten waren nicht besonders deutlich, und alles war in dumpfem Rot, doch das reichte Dante völlig.
Jeder im Laden schien nach einer Waffe zu greifen, mit Ausnahme der beiden Barmänner. Sanchez, der die Übung längst kannte, duckte sich augenblicklich hinter den Tresen. Mukka war ein wenig zu langsam und bezahlte den Preis für seine Unerfahrenheit gleich zu Anfang, als Kugeln kreuz und quer durch das Lokal flogen. Jeder mit einer Waffe feuerte, was das Zeug hielt. Die meisten wussten sicherlich nicht, auf wen oder was sie schossen, doch es spielte keine Rolle. Selbsterhaltung war alles in einem Szenario wie diesem. Der Instinkt hatte die Kontrolle übernommen. Dante war keine Ausnahme, nur dass für ihn die Erhaltung von Kacy ebenfalls wichtig war. Sie war hergekommen, um ihn zu retten. Es war Zeit, sich zu revanchieren.
Er packte ihr weites Clownskostüm und zerrte sie zu Boden, und sie ließ vor Schreck eine der Schrotflinten fallen. Sie war eindeutig verblüfft, doch es war keine Zeit, ihr zu versichern, dass alles in Ordnung war. Stattdessen nahm er sie bei der Hand und zog sie in kriechender Haltung hinter sich her in Richtung der Toiletten im hinteren Teil der Bar. Der Lärm der Schüsse war ohrenbetäubend und machte es unmöglich, mit Kacy zu kommunizieren. Dante konnte nur hoffen, dass sie an seiner Hand erkannte, wer es war, der sie durch das dunkle Lokal zog. Es waren Augenblicke wie dieser, wo er sich wünschte, er hätte ihre Hand häufiger gehalten, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs gewesen waren. Doch sie würde sicherlich auch so erkennen, dass er es war? Richtig? Es waren die kleinen Dinge, die Kacy wichtig waren. Sie würde seine Hand instinktiv erkennen. Gar keine Frage, sie würde sie erkennen.
Nachdem sie die Damentoiletten erreicht hatten, rammte Dante die Tür mit der Schulter auf und zog Kacy hinter sich her in den Waschraum. Noch immer flogen Kugeln durch die Luft, und er spürte, wie zwei an ihm vorbeizischten und in die geflieste Wand schlugen. Er hatte Kacy nicht aufschreien hören, also hoffte er, dass sie unverletzt war.
Sobald sie die relative Sicherheit der Damentoilette erreicht hatten, brach Kacy zu einem Häufchen Elend zusammen. Sie atmete schwer und unregelmäßig, als würde sie jeden Augenblick eine Panikattacke erleiden.
»Dante, bist du es?«, fragte sie mit erstickter Stimme, die im Widerhall der Schüsse draußen in der Bar kaum zu hören war. Auch im Waschraum brannte kein Licht, und obwohl Dante sie mithilfe seiner Terminator-Brille sehen konnte, herrschte für Kacy völlige Dunkelheit.
Anstatt zu reden, streichelte er ihr über die Wange, um ihr zu zeigen, dass er bei ihr war. Es hatte den erwünschten Effekt, und ihr Atem beruhigte sich so weit, dass er fast wieder normal klang. Dante war dennoch nicht bereit, ein Risiko einzugehen. Er hielt die Tür zum Waschraum einen Spaltbreit geöffnet, sodass er die Vorgänge draußen im Auge behalten konnte.
Der erste Teilnehmer am Patt an El Santinos Tisch, der ins Gras beißen musste, war Carlito. Bourbon Kid durchlöcherte ihn förmlich mit Kugeln. Überhaupt schien er aus seinen beiden Pistolen mehr Schüsse abzugeben als sämtliche anderen Personen im Lokal zusammengenommen. Es war kein willkürliches Feuern: Jeder Schuss fand sein Ziel, und die ersten zehn oder so galten Carlito. Kyle war der Nächste, der starb, gefolgt von El Santino. Der riesige Gangster war außerdem derjenige, der für Kyles Tod verantwortlich war. Er hatte seine Pistole einfach in alle Richtungen abgefeuert, und dabei war ihm als Erster Kyle vor den Lauf geraten. Der ältere der beiden Mönche stürzte mit weggeschossenem Hinterkopf zu Boden wie ein vom Blitz gefällter Baum. Noch während er fiel, sah Dante, wie der Bourbon Kid mit einer seiner Skorpions auf Jefe zielte. Wie El Santino schoss der mexikanische Kopfgeldjäger blindlings um sich in der Hoffnung, irgendjemanden zu treffen, gleichgültig ob Freund oder Feind.
In diesem Moment dämmerte Dante, dass er nicht der Einzige war, der in der Dunkelheit sehen konnte. Bourbon Kid schien gleichermaßen perfekt zu sehen. Er zielte sorgfältig mit der Waffe in seiner linken Hand und sandte eine Serie von Schüssen durch die Augenlöcher von Jefes Freddy-Krueger-Maske. Der Kopfgeldjäger war auf der Stelle tot. Die Maske löste sich von Jefes Kopf und landete mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden, als die Gummibänder von Kugeln durchtrennt wurden. Es sah aus, als grinste sie spöttisch angesichts des Gemetzels ringsum. Während Jefe zu Boden ging, löste sich sein Griff um die Pistole in der rechten Hand. Wichtiger noch, das Auge des Mondes, der blaue Edelstein, den Jefe offensichtlich von der Halskette genommen hatte (möglicherweise, um die Kette später getrennt zu verkaufen), entfiel dem Klammergriff seiner linken Hand und rollte über den Boden zwischen den fallenden Körpern hindurch, als hätte er ein Eigenleben. Er rollte gut zehn Meter, bis er schließlich in der Hand von Peto dem Mönch landete, der sich unter einem der größeren Tische versteckt hatte. Peto, der den Stein sofort daran erkannte, wie er sich anfühlte, packte das plötzliche Geschenk und rollte sich aus seiner Deckung. Er sprang auf und rannte über Leichen und Mobiliar stolpernd in geduckter Haltung durch die Bar, bis er eine relativ gute Deckung hinter einem großen Holzfass fand – jedoch nicht, bevor eine Kugel seine Wade gestreift hatte.
Überall im Lokal gingen mit erschreckender Geschwindigkeit weitere Leute zu Boden. Von jenen, die Dante kannte, war Miguel das nächste Opfer, ebenfalls niedergestreckt von einem gezielten Schuss des Bourbon Kid. Normalerweise hätte Dantes hundertprozentige Aufmerksamkeit Bourbon Kid gegolten, nachdem er gesehen hatte, dass ein und der gleiche Killer so viele Leute umnietete. Doch nicht an diesem Ort und an diesem Tag. Denn die als Catwoman verkleidete Frau stahl Bourbon Kid die Schau.
Es war offensichtlich, dass auch sie perfekt in der Dunkelheit sehen konnte. Sie bewegte sich schneller als jede richtige Katze, wich Kugeln aus, sprang über Leichen und Sterbende, duckte sich unter Tischen hindurch und bemühte sich nach Kräften, zum Leichnam ihres toten Geliebten Jefe vorzudringen, was sich als äußerst gefährliches Unterfangen erwies. Jedes Mal, wenn sie in die Nähe des toten Kopfgeldjägers kam, richtete Bourbon Kid den Blick auf sie und fing wie besessen an zu feuern, und sie musste sich wieder zurückziehen. Zuerst glaubte Dante, es wäre reines Glück, dass sie nicht getroffen wurde, und fing bereits an, um ihr Überleben zu bangen. Doch dann geschah etwas, das ihn seine Meinung gründlich ändern ließ.
Catwoman – oder Jessica, nur, dass Dante ihren Namen nicht kannte – schien es leid zu sein, andauernd den Kugeln auszuweichen. Stattdessen sprang sie mit einem Mal über den großen Tisch, an dem alle gesessen und verhandelt hatten, und landete leichtfüßig auf der anderen Seite, gleich neben den blutigen Überresten von Jefe. Sie besaß offensichtlich gewaltige Kräfte, denn sie packte das tote Gewicht des Kopfgeldjägers bei den Schultern und hob es mit Leichtigkeit hoch. Während sie den Toten durchwühlte, fingen ihre Augen in hellem Rot zu leuchten an, und sie begann hektisch an ihm zu reißen. Zuerst durch die Kleidung, dann die Haut. In ihrem Mund war plötzlich eine Reihe von Fangzähnen, die einem bengalischen Tiger alle Ehre gemacht hätten, und ihre Fingernägel waren lange Klauen, die definitiv nicht zu ihrem Kostüm gehörten.
Okay, sie ist also keine Katze, dachte Dante. Aber sie ist auch kein Mensch.
Sie war so in ihrem Tun versunken, dass sie Bourbon Kid scheinbar vergessen hatte. Noch weniger Aufmerksamkeit schenkte sie dem einzigen Mann, der dämlich genug war, mitten in einer wilden Schießerei die stockdunkle Tapioca Bar zu betreten. Einem Mann, der aussah wie Elvis.
Bourbon Kid bemerkte den Elvis-Doppelgänger und war für einen Augenblick abgelenkt von dieser großen, bärenhaften Gestalt von einem Mann. Die gelben Streifen an den Seiten seines roten Anzugs waren beinahe sichtbar in der Dunkelheit, doch das war es nicht, was Bourbon Kid auf Elvis aufmerksam gemacht hatte. Der Doppelgänger hielt eine schwere doppelläufige Schrotflinte in den Händen, mit der er in die Richtung zielte, wo der Bourbon Kid stand. Es war schwierig zu sagen, ob er wusste, auf wen er da zielte oder ob die Waffe rein zufällig auf den Schützen mit den meisten Treffern gerichtet war.
Dieser Kerl ist wahnsinnig!, dachte Dante. Warum sollte jemand auf die Idee kommen, in eine stockdunkle Bar zu marschieren, in der eine wilde Schießerei im Gange war? Bourbon Kid für seinen Teil war nicht in der Stimmung, zuerst Fragen zu stellen und dann zu schießen. Er ließ seine beiden Skorpions beim Anblick des Neuankömmlings fallen, und ohne Vorwarnung zuckten zwei weitere, kleinere Pistolen aus den Ärmeln seines langen Mantels. Die Pistolen landeten direkt in seinen Händen, und bevor der falsche Elvis seine Waffe abfeuern konnte, hatte er zwei Kugeln durch die Gläser seiner Sonnenbrille hindurch in jedem Auge. Er kippte langsam rückwärts um und landete mit einem schweren Schlag auf den Dielen, der die Bar erzittern ließ.
Selbst Dante, der im Waschraum in Deckung kauerte, spürte den Aufprall in den Fußsohlen.
Bourbon Kid schien bewusst zu sein, dass er Jessica aus den Augen gelassen hatte, denn er wirbelte erneut zu ihr herum und begann dabei zu feuern. Sie war noch immer damit beschäftigt, Jefes Überreste zu zerreißen, und schien alles andere ringsum vergessen zu haben. Es machte sie zu einem einfachen Ziel, und Bourbon Kid nutzte diesen Vorteil gnadenlos aus. Ein Schuss nach dem anderen traf sie.
Dante hatte sich inzwischen an seine merkwürdige infrarote Welt gewöhnt und konnte sehr genau sehen, wer auf wen schoss. So gut wie jeder in der Bar war tot oder im Sterben begriffen, und das war zweifellos auch der Zustand, in welchem Catwoman sich hätte befinden müssen. Die Kugeln des Bourbon Kid hatten sie durchlöchert, doch sie brach nicht zusammen. Während Dante staunend zu ihr hinsah, tat sie stattdessen etwas schier Unglaubliches: Sie sprang in die Höhe. In einer Demonstration unvorstellbarer Kraft sprang sie an die Decke und riss Jefes leblosen, schweren Leichnam mit sich. Er wog sicher doppelt so viel wie Jessica, doch sie hob ihn hoch, als wäre er nicht mehr als eine Feder. Sie knallte den Toten an die Decke und blieb unter ihm schweben, während sie die verbliebene Kleidung und die letzten Hautfetzen von seinem Leib riss. Sie suchte offensichtlich nach etwas, und Dante wäre jede Wette eingegangen, dass es das Auge des Mondes war. Was sie nicht wusste und was Dante gesehen hatte – Jefe besaß das Auge nicht mehr. Peto hatte es jetzt, und er versteckte sich ein paar Meter abseits hinter einem Fass, wo Catwoman ihn nicht sehen konnte.
Als Jessica endlich dämmerte, dass Jefe den blauen Stein nicht länger bei sich trug, stieß sie eine Klauenhand tief in seine Brust und riss ihm das Herz heraus. Es war, als wollte sie in seinem Innern nachsehen, ob er den kostbaren blauen Stein vielleicht verschluckt hatte. Ein Zeichen, wie verzweifelt sie sein musste. Blut und Eingeweide Jefes tropften wie ein zäher Brei zu Boden und bedeckten Tische, Stühle und Leichen. Kein besonders würdevoller Weg, einen so gefürchteten Mann nach dem Tod zu behandeln, dachte Dante völlig zusammenhanglos.
Bourbon Kid hatte inzwischen gesehen, was sie machte, und richtete seine Waffen nach oben. Da sonst niemand mehr am Leben war, auf den er hätte schießen können, konnte er sich endlich ganz auf Jessica konzentrieren. Er traf sie so häufig, dass es wenig überraschend war, als sie schließlich zu Boden stürzte und dort liegen blieb. Sie hatte ihre eigene Waffe längst verloren und konnte nur noch ihre Hände vor das Gesicht schlagen in dem Versuch, sich vor dem erbarmungslosen Sperrfeuer zu schützen. Bourbon Kid überzog sie noch weitere zwanzig Sekunden mit einem wahren Kugelhagel, bevor ihm die Munition ausging und er seine beiden Pistolen fallen ließ. Während er kurz durchatmete und seine Kleidung nach neuer Munition abtastete, entdeckte Jessica einen Leichnam in Reichweite und kroch los, um sich darunter zu verstecken, während sie überlegte, was sie als Nächstes machen konnte. In der sich anschließenden plötzlichen Stille durchwühlte Bourbon Kid sämtliche Taschen seines langen Kapuzenmantels auf der Suche nach Munition, bis ihm klar wurde, dass er alles verschossen hatte. Er blickte sich suchend nach einer Waffe um, und sein Blick blieb auf dem toten Elvis-Doppelgänger am Eingang haften. Er sprang zu ihm hin und riss die schwere Schrotflinte aus der Hand des Toten, bevor er hastig die Taschen des roten Anzugs nach Munition zum Nachladen durchwühlte.
Während er damit beschäftigt war, den Leichnam des Toten zu durchsuchen, verging die Sonnenfinsternis, und ein paar erste Sonnenstrahlen krochen beinahe zögernd zurück in die Tapioca Bar.
Dante schätzte, dass er nicht besonders viel wusste, doch eines war sicher: Er mochte diese Catwoman nicht. Sie war kein Mensch. Sie war definitiv eine extrem gefährliche Kreatur. Sie würde nicht sterben, ganz gleich, wie häufig sie von Kugeln getroffen wurde, und sie schien übernatürliche Kräfte zu besitzen (sie konnte beispielsweise fliegen). Wenn es wirklich einen Lord der Untoten gab, der gekommen war, um das Auge des Mondes in Besitz zu nehmen, musste sie das sein. Kein verdammter Zweifel, sie war ein gefährliches Miststück.
Dante schloss die Tür zum Waschraum leise und nahm sich einige Sekunden Zeit, um alles zu durchdenken. Kacy hockte verängstigt am Boden und hielt Dante ihre Waffe hin. Sie hatte am Ende doch noch den Mut verloren. Sie war die tapfere Frau gewesen, die zu seiner Rettung gekommen war, doch nun war es an der Zeit für ihn, sich als Gentleman zu erweisen und die Frau zu beschützen, die er liebte. Er betätigte den Lichtschalter hinter der Tür und warf in der plötzlichen harschen Helligkeit einen letzten Blick auf Kacys wunderschönes, zu Tode verängstigtes Gesicht. Er schätzte, dass es möglicherweise das letzte Mal war, dass er sie sah, und so bemühte er sich, den Moment zu genießen. Nachdem sich ihr Antlitz für immer in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, streckte er die Hand aus und nahm die Schrotflinte von ihr. Es war an der Zeit, sein Teil für die Menschheit zu leisten. Und wichtiger noch, für Kacy.
»Hast du noch mehr Patronen, Kacy?«, fragte er leise.
»Dante, geh nicht da raus!«, flehte sie. »Lass uns hier drin warten, bis die Polizei kommt!«
Er schüttelte den Kopf und lächelte. Dann griff er selbst in die Tasche ihres Clownskostüms und fand eine Handvoll Schrotpatronen.
Er wäre ihrem Ratschlag gerne gefolgt, doch er wusste auch, dass er Bourbon Kid helfen musste. Es war nicht nur ein Instinkt, der ihm das sagte, es war das Wissen, dass das Schicksal der gesamten freien Welt wahrscheinlich in den Händen des schnellen Schützen lag und seinem Versuch, die Fleisch fressende Hexe im Catwoman-Kostüm zu erledigen. Bourbon Kid musste also einer von den Guten sein, zwangsweise. Nun ja, vielleicht auch nicht, aber zumindest schien er menschlich zu sein. Dante hatte Geschichten von all den Morden gehört, die dieser Mann im Verlauf des letzten Mondfestivals begangen hatte, doch wenn er jetzt in diesem Moment die Seiten wählen musste, dann war es die des Serienkillers Bourbon Kid und nicht die der fliegenden Untoten im Catwoman-Kostüm. Was er auch tat – er wusste mit absoluter Gewissheit, dass er und Kacy sterben würden, wenn er Bourbon Kid nicht beistand. Die arme Kacy sah verwirrt aus. Sie starrte flehentlich zu ihm auf und betete, dass er bei ihr blieb.
»Keine Sorge, Baby«, sagte er. »Ich komme wieder.«
Das Schießen schien aufgehört zu haben, und aus der Bar drang Stimmengemurmel. Er wandte sich um und stieß die Tür so heftig auf, dass sie fast aus den Angeln flog. Dann atmete er einmal tief durch und sprang nach draußen. Dort, direkt vor ihm, stand Peto der Mönch und zielte mit einer Waffe auf Bourbon Kid. Er sah aus, als würde er jeden Moment schießen. Dante zielte mit seiner Waffe auf Petos Hinterkopf.
»Tu das nicht, Peto«, warnte er.
»Dante, das geht Sie überhaupt nichts an.«
»Doch, das tut es. Nimm dein Auge des Mondes, und verschwinde damit so schnell wie möglich von hier. Ich kümmere mich um diesen Kerl.«
»Aber er hat Kyle getötet!«
»Peto, du bist ein Mönch. Mönche töten keine Menschen. Ganz egal, aus welchem Grund, Mönche töten niemals. Und jetzt verschwinde von hier. Nimm deinen kostbaren Stein, und geh dahin zurück, wo du hergekommen bist. Los, nur zu. Benutz die Hintertür und verschwinde.« Dante zeigte mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der Hintertür.
Peto dachte ein paar Sekunden über das nach, was Dante gesagt hatte. Er schien unentschlossen, doch dann, als wüsste er nicht, was er sonst tun konnte, wich er rückwärts zur Hintertür, wie Dante vorgeschlagen hatte, ohne Bourbon Kid auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. Als er die Tür erreichte, trat er sie mit dem Absatz auf und zog sich rückwärts nach draußen zurück.
Dann waren sie nur noch zu dritt.
Jessica lag mit dem Rücken an einen umgestürzten Tisch gelehnt. Das Gesicht unter der Catwoman-Maske sah wieder völlig normal aus. Dante richtete seine Waffe auf ihren Kopf und feuerte ihr eine Ladung Schrot mitten in die Stirn. Blut und Gehirn spritzten in alle Richtungen davon. Es war das Zeichen für den Bourbon Kid, seine gesamte restliche Munition in sie zu pflanzen, die Patronen, die er der Leiche des Elvis-Imitators abgenommen hatte. Fast eine Minute lang schossen Dante und Bourbon Kid ununterbrochen auf die Catwoman, und die schwere Schrotflinte richtete furchtbaren Schaden an. Schon nach kürzester Zeit war praktisch kein Fleisch mehr an den Knochen, nur noch Blut, Brei und Knorpel.
Als beiden endlich die Munition ausgegangen war und sie ihre Waffen senkten, warf Dante einen Blick auf das, was sie angerichtet hatten.
Obwohl er wusste, dass diese Frau abgrundtief böse war und ihn und Kacy ohne mit der Wimper zu zucken abgeschlachtet hätte, verspürte er Gewissensbisse wegen dem, was er getan hatte. Es erinnerte ihn an eine Begebenheit, die mehrere Monate zurücklag, als er versehentlich seinen Hund Hector mit dem Wagen überfahren hatte. Es war nicht seine Schuld gewesen, doch er hatte sich furchtbar hohl gefühlt innerlich, als sein geliebter Hund seinen letzten Atemzug gemacht hatte. Es gab nichts Schlimmeres, als ein anderes Leben zu nehmen, sei es durch einen Unfall oder absichtlich. Es war einfach ein verdammt bescheidenes Gefühl, gleichgültig, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.
Bourbon Kid schien nicht unter dem gleichen inneren Aufruhr zu leiden wie Dante. Er ließ die Waffe in der linken Hand fallen und zog lässig eine Packung Zigaretten aus der Innentasche seines Mantels. Er schnippte mit dem Finger gegen den Boden der Schachtel, und oben schob sich eine Zigarette hervor. Er hielt das Päckchen an den Mund und nahm die Zigarette mit den Lippen heraus, dann rollte er sie mit der Zunge in den Mundwinkel, wo sie blieb. Er saugte an ihr, und sie entzündete sich wie von Geisterhand. Vielleicht hing noch so viel Pulverdampf in der Luft, dass er als Flamme dienen konnte. Was auch immer die Erklärung sein mochte, der Trick war extrem cool.
Bourbon Kid nahm einen weiteren Zug, dann sah er Dante an.
»Danke, Mann. Ich bin dir was schuldig. Jetzt entspann dich.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und spazierte aus der Bar nach draußen. Unterwegs stieg er über ein paar Leichen, doch er blickte nicht nach unten und drehte sich nicht ein einziges Mal um. Dann war er verschwunden.
Ringsum in der Bar waren die Spuren seines Werks nicht zu übersehen. Zerschmetterte, blutige Leichen, aus deren zahllosen Schusswunden zum Teil immer noch dünne Rauchfähnchen aufstiegen. Tische und Stühle waren übersät mit dem Fleisch und Blut von bösem Abschaum und unschuldigen Zuschauern, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Und dann war da noch Dante, der einzige sichtbare Überlebende inmitten des ganzen Chaos. Er drehte sich um und ging zur Damentoilette, an der Tür vorbei, die geborsten in ihren Angeln hing und aussah, als könnte sie jeden Augenblick völlig ausreißen und umfallen.
Im Waschraum angekommen, blieb er vor Kacy stehen, die mit den Armen über dem Kopf vor einem der Toilettenhäuschen lag. Die letzte, wütende Schießerei hatte sie in Todesangst versetzt, und sie hatte es nicht gewagt aufzustehen und nachzusehen, ob ihr Freund überlebt hatte oder nicht. Er grinste breit auf sie herab.
»Komm mit mir, wenn du leben willst«, sagte er in seinem besten Schwarzenegger-Tonfall.
Kacy blickte zu ihm auf und strahlte ihn an, als wäre sie der glücklichste Mensch auf der Welt.
»Ich liebe dich.«
»Ich weiß.« Dante erwiderte ihr Strahlen.
Auf dem Weg nach draußen, als sie über Leichen und zerborstenes Mobiliar stiegen und den Blutlachen auswichen, die sich überall gebildet hatten, hielt Kacy plötzlich inne und zupfte Dante am Arm.
»Hey – einer von diesen Kerlen hat vielleicht noch deine zehn Riesen. Willst du sie durchsuchen?«
Dante lächelte sie an und schüttelte den Kopf.
»Baby, wenn ich etwas gelernt habe aus dieser Geschichte, dann dass ich kein Geld brauche. Ich habe dich, Baby. Das ist alles, was ich mir wünsche.«
»Bist du sicher, Honey?«
»Absolut sicher. Dich und die hundert Riesen im Motelzimmer, okay?«
»Darauf kannst du wetten.«
Dante legte die Hände um Kacys Schultern und zog sie zu sich heran, um ihr einen lustvollen Kuss mitten auf den Mund zu geben.
»Du bist die beste Freundin auf der Welt, Kacy«, sagte er mit einem Zwinkern hinter seiner dunklen Sonnenbrille. Kacy zwinkerte geradewegs zurück.
»Ich weiß.«