Einundvierzig
Obwohl sich der Himmel mit zunehmender Dämmerung verdunkelte, hatte Jensen keine Mühe, das Anwesen von El Santino zu finden. Es gab im Umkreis von mindestens einer Meile kein anderes Anwesen.
Er war in seinem alten, klapprigen BMW Kilometer um Kilometer über eine schmale, gewundene Straße gefahren, gesäumt von einem dichten Wald voll hoher Bäume, bis er nach vielleicht zwanzig Minuten auf der rechten Seite das Haus des Verbrecherbarons erblickt hatte, die »Casa de Ville«. Er entschied rasch, dass es klüger war weiterzufahren, bis er eine Lücke im Wald fand, wo er den Wagen abstellen konnte, ohne dass jemand ihn sogleich bemerkte.
Er musste noch fast einen Kilometer fahren, bevor er endlich einen sandigen Fleck auf der linken Straßenseite ausmachte, auf dem er halten konnte. Der Wald ringsum stand ganz besonders dicht. Jensen wusste zweierlei nicht, was diesen Platz betraf: Zum Ersten war er äußerst beliebt bei Paaren, die sich hier mit ihren Wagen einfanden und sich allen möglichen sexuellen Aktivitäten mit Fremden aus anderen Wagen hingaben. Zum Zweiten war der Polizist zu früh angekommen, um irgendetwas von derartigen Aktivitäten zu bemerken. Die Dunkelheit war soeben erst angebrochen, und bis zum Eintreffen der ersten Wagen würde es noch mindestens eine Stunde dauern.
Im Interesse der Diskretion war es sinnvoll, so überlegte er, den Wagen nicht in Sichtweite zur Straße zu parken. Also bugsierte er das Fahrzeug mit dem Geschick eines Zwölfjährigen über eine Reihe von Bodenwellen und zwischen einigen Bäumen hindurch hinter eine Ansammlung dichter Büsche, wo es nicht ohne Weiteres gesehen werden konnte.
Langsam stieg er aus und schloss leise hinter sich die Tür, wobei er sich bemühte, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Für ein paar Sekunden verharrte er und überlegte. Was sollte er als Nächstes anfangen? Gab es irgendetwas, das er im Notfall würde gebrauchen können? Er hatte den Pager von Somers dabei, und er hatte sein Mobiltelefon. Was sonst konnte er benötigen, wenn die Dinge nicht so liefen wie geplant? Und wieso war er mit einem Mal so nervös? Er gehörte normalerweise nicht zu denen, die Angst hatten wegen irgendetwas, das mit seiner Arbeit zusammenhing, ganz gleich, wie gefährlich es sein mochte.
Dann dämmerte es ihm. Es war die Tatsache, dass Somers ihm den Pager gegeben hatte, die ihn so nervös machte. Es ließ vermuten, dass der ältere Detective die Gefahr sehr genau kannte, in die sich Jensen begab. Doch was machte er schon, außer sich im dichten Unterholz zu verstecken und ein Haus zu beobachten, das mitten im Nichts stand? Mochte es auch das Haus von Santa Mondegas berüchtigtstem Gangster sein, jemandem, der sich sehr wohl als ein modernes Äquivalent von Graf Dracula und Vito Corleone in einer Person herausstellen konnte.
Als er sich auf den Weg durch den Wald in Richtung Villa machte, achtete er darauf, zu jeder Zeit in Sichtweite der Straße zu bleiben. Es war viel schwieriger, bis zur Villa zurück zu gelangen, als er angenommen hatte. Der Waldboden war übersät von freiliegenden Wurzeln, Reben und Ranken versperrten ihm den Weg, und alles schien begierig, ihn zum Stolpern zu bringen oder sich um Arme und Beine zu schlingen und ihn festzuhalten. Leise zu sein war demzufolge genauso schwierig, wenn nicht unmöglich. Jeder Schritt ließ einen Zweig knacken, und in der umgebenden Stille hallte das Geräusch durch den Wald wie ein Donnerschlag.
Es dauerte gut zwanzig Minuten, bis die Villa auf der anderen Straßenseite in Sicht kam, eine dunkle Silhouette vor dem nächtlichen Himmel. Eine hohe Steinmauer umgrenzte das gesamte Grundstück.
Nachdem er das ganze Anwesen in Ruhe betrachten und nicht nur aus dem Wagenfenster im Vorbeifahren kurze Blicke darauf werfen konnte, begriff Jensen allmählich, in welcher Pracht der Gangsterbaron lebte. Dieser El Santino besaß ein gewaltig großes Stück Land. Von seiner Position direkt vor dem Haupttor konnte Jensen sehen, dass sich die Mauer zu beiden Seiten der Straße entlangzog, so weit das Auge reichte. Sehr beeindruckend.
Nachdem er länger als geplant und ohne jede Absicht gegafft hatte, besaß er endlich die Vernunft, sich hinter einem Busch gegenüber dem Eingang zu verstecken. Das zweiflügelige Tor war beinahe doppelt so hoch wie die Mauer – sicher zehn Meter, schätzte Jensen. Irgendwie wirkten die massiven schwarzen Eisenstangen finster und bedrohlich, überwuchert von Efeu und gekrönt von Stacheldraht. Es war ein einschüchternder Anblick, besonders in der Nacht – allerdings bezweifelte Jensen, dass er bei Tag viel anders war. Vom Tor führte ein Schotterweg bis zum Herrenhaus hinauf, das gut fünfzig Meter von der Straße weg stand. Es war ein altes Steingebäude und sah aus, als stünde es bereits seit Jahrhunderten dort – hätte es vor Jahrhunderten schon Menschen in dieser Gegend gegeben oder zumindest irgendjemanden, der mit Steinen derartige Gebäude errichtete.
Das Haus erinnerte stark an eine mittelalterliche Burg und war zweifellos ein Vermögen wert, Millionen Dollar, vielleicht sogar Hunderte Millionen Dollar, je nach Erhaltungszustand. Von außen betrachtet sah es alt und unheimlich aus, doch Jensen hatte das Gefühl, dass ein reicher Gangsterboss wie dieser El Santino es im Innern sicher mit hochwertigen Armaturen und Mobiliar und sämtlichem Komfort modernen Lebens eingerichtet hatte.
Dieses riesige Gebäude auszukundschaften konnte ein ziemlich interessanter Job werden. Es gab eine Menge zu bewundern an der Casa de Ville, und Jensen überlegte, dass er entlang der Straße wandern und sehen konnte, welche sonstigen architektonischen Glanzpunkte es noch zu bestaunen gab, sollte ihm langweilig werden.
Wie die Dinge standen, hatte er keine zwanzig Minuten auf seinem Posten verbracht, als ihm unvermittelt dämmerte, dass ihm eine leichte Fehleinschätzung unterlaufen war. Sein Mobiltelefon klingelte. Laut.
Das Geräusch, das weit in die dunkle Nacht hinaus hallte, ließ ihn vor Schreck fast aus der Haut fahren. Er zerrte das Gerät hervor und drückte hastig auf die grüne Taste.
»Hallo, sind Sie das, Somers?«, flüsterte er in den Apparat.
»Wer sonst? Wie kommen Sie voran?«, drang Somers’ Stimme knackend aus dem kleinen Gerät.
»Ich bin an dem Ort, von dem wir gesprochen haben. Bis jetzt war noch nichts los. Wie steht’s mit Ihnen?«
»Ebenso. Ich hab ein paar Hotels überprüft, aber Sie wissen selbst, wie das ist. Eine Bande wenig hilfreicher Bastarde. Wie dem auch sei, der Grund für meinen Anruf ist – ich wollte Ihnen sagen, dass Sie unbedingt Ihr Mobiltelefon lautlos stellen müssen. Ich wusste nicht, wie vertraut Sie mit der Etikette beim Observieren sind.«
Jensen wand sich innerlich. »Selbstverständlich. Für was halten Sie mich? Abgesehen davon dachte ich, Sie hätten gesagt, dass wir das Telefon nicht benutzen sollen, außer es ist absolut notwendig?«
»Zugegeben, richtig. Entschuldigung. Es ist einfach so, dass wir nicht vorsichtig genug sein können. Wenn Sie das Gefühl haben, auch nur in der kleinsten Gefahr zu schweben, verschwinden Sie dort, okay?«
»Okay, Somers, mache ich. Keine Sorge.«
»Gut. Hören Sie, Jensen, ich melde mich bei Ihnen, wenn ich nachher Feierabend mache, also schalten Sie den Vibrationsalarm Ihres Handys ein, okay? Kleinigkeiten wie diese retten Leben, Jensen. Seien Sie bloß vorsichtig, es könnten überall bewaffnete Wachen rumlaufen. Wenn Sie nervös werden, schaffen Sie Ihren Hintern da weg.«
»Verstanden. Passen Sie auf sich auf.«
»Mach ich. Wir sprechen uns später.«
Jensen schaltete den Vibrationsalarm seines Handys ein und den Klingelton ab.
Verdammter Idiot, dachte er. So ein blutiger Anfängerfehler, sich vom Läuten des Telefons überraschen zu lassen.
Die Erkenntnis, dass er um ein Haar richtigen Mist gebaut hätte, verstärkte die Unruhe noch, die er bereits verspürte. Es wurde inzwischen sehr schnell sehr dunkel, und die Casa de Ville sah mehr und mehr unheimlich aus.
Jensen entschied sich, seinen Posten gegenüber dem Haupteingang nicht zu verlassen. Er blieb beinahe zwei Stunden dort und starrte hinüber zu einer herrschaftlichen Villa, in der sich nichts regte. Niemand kam, niemand ging, und merkwürdigerweise kam auch kein Fahrzeug die Straße entlang. Nicht ein einziges. Und kein Fußgänger. Nicht einmal ein im Wald lebendes Tier. Vielleicht wussten Mensch und Kreatur, dass man sich besser von diesem Ort fernhielt, nachdem es dunkel geworden war? Der Grund dafür war jedenfalls einfach zu erkennen. Sobald der Mond aufgegangen war und auf die Casa de Ville herab leuchtete, sah das Haus wirklich unheimlich aus, wie aus einem Alptraum. Zwei Stunden an diesem Ort waren mehr, als irgendjemand aushalten konnte.
Zur Hölle damit, dachte Jensen. Wenn die Wesen der Nacht, die Untoten, je aus ihren Höhlen kamen auf der Suche nach Beute, dann war er genau zur richtigen Zeit da. Und wahrscheinlich sogar am richtigen Ort.
Als die Zeiger der Uhr sich halb elf näherten, beschloss Jensen, dass es an der Zeit war, zum Wagen zurückzukehren. Der Rückweg würde schwierig genug werden durch das Gestrüpp, doch solange er die Straße sehen konnte, ohne sich selbst so weit zu nähern, dass man ihn von der Straße aus sah, war so weit alles in Ordnung.
Langsam erhob er sich aus seinem Versteck hinter dem Busch. Seine Beine waren in der Kälte ein wenig taub geworden, und er konnte spüren, wie sie anfingen sich zu verkrampfen. Er hatte gerade den ersten Schritt nach links gemacht, um zum Wagen zu marschieren, als er zum zweiten Mal in jener Nacht einen höllischen Schrecken erlebte.
Diesmal war es kein läutendes Telefon. Diesmal war es eine Stimme. Eine tiefe, kehlige Männerstimme von irgendwo hinter und über ihm.
»Ich dachte schon, Sie wollen die ganze Nacht da unten bleiben«, sagte sie. »Nicht viele Leute hätten so lange durchgehalten wie Sie.«
Jensens Herz drohte auszusetzen. Er wirbelte herum, um zu sehen, woher die Stimme gekommen war. Zuerst gab es nichts zu sehen außer dunklen Ästen und Zweigen. Dann entdeckte er die Umrisse einer noch dunkleren Gestalt; ein sehr großer Mann stand fast drei Meter über dem Boden oben in einem Baum auf einem Ast – genau über der Stelle, an der Jensen gekauert hatte.