Fünfundzwanzig
Als Kyle und Peto im Santa Mondega International abgestiegen waren, hatte sie die Höflichkeit des Personals sehr beeindruckt. Der Manager hatte darauf bestanden, dass ein Portier ihr Gepäck nach oben trug, doch selbst unter diesen Gegebenheiten und trotz des angenehmen Auftretens von Manager und Portier hatte Kyle darauf bestanden, den schwarzen Aktenkoffer, den sie mitgebracht hatten, selbst zu tragen. Er hatte dem Manager versichert, dass er kaum mehr als ein Sack Federn wog und nichts weiter als ein Gebetbuch und ein paar Sandalen enthielt.
Kyle hatte Peto gegenüber immer und immer wieder betont, wie wichtig es war, dass sie nichts und niemandem vertrauten. Deswegen hatten sie darauf bestanden, dass niemand außer ihnen den schwarzen Aktenkoffer berührte, so vertrauenswürdig sich das Hotelpersonal auch gegeben hatte. Nachdem der Portier sie in ihrem Zimmer allein gelassen hatte, hatten sie den Koffer sogleich unter dem Bett versteckt. Kyle informierte Peto, dass niemand auf den Gedanken kommen würde, unter dem Bett nach etwas Wertvollem zu suchen. Er hatte eindeutig zu wenig ferngesehen, sonst hätte er gewusst, dass es der unsicherste Platz war, um irgendetwas zu verstecken. Jedes Zimmermädchen und jeder Portier, der darauf aus war, die Hotelgäste zu bestehlen, würde als Allererstes unter das Bett sehen.
Erst jetzt begriff Kyle allmählich in vollem Ausmaß, warum Vater Taos sie so überdeutlich ermahnt hatte, niemandem zu vertrauen, und warum er wieder und wieder betont hatte, wie wichtig es war, den Koffer nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Kyle war dem Beispiel des alten Mönchs gefolgt und hatte Peto gleichermaßen überdeutlich ermahnt. Allerdings traf den Novizen, so sehr Kyle es hasste, dies zugeben zu müssen, in diesem Fall keinerlei Schuld. Es war Kyles Idee gewesen, den Koffer unter dem Bett zu verstecken. Er hatte fälschlicherweise angenommen, dass das Absperren der Tür ihres Hotelzimmers, als sie zur Tapioca Bar gegangen waren, ausreichend Sicherheit bot. Mit dem Ergebnis, dass jetzt kein Koffer mehr unter dem Bett lag. Kein Koffer mehr und – wichtiger noch – keine hunderttausend Dollar mehr in gebrauchten Scheinen, die im Koffer gewesen waren. Sie waren gestohlen worden, und die beiden Mönche hatten keine Ahnung, von wem.
»Kyle, wer würde denn so etwas tun?«, fragte ein sichtlich aufgebrachter Peto, indem er zum tausendsten Mal unter dem Bett nachsah, nur für den Fall, dass der Koffer noch dort lag und sie ihn durch irgendeinen unwahrscheinlichen Zufall bis jetzt übersehen hatten.
Kyle hatte ebenfalls keine Idee.
»Nach allem, was ich von der Welt außerhalb von Hubal gesehen habe, könnte so gut wie jeder dies getan haben. Niemand scheint so etwas wie ein Gewissen zu besitzen oder auch nur eine Vorstellung von dem, was richtig ist und was falsch. Wir stecken in ernsten Schwierigkeiten, Peto. Dieses Geld war alles, was wir hatten, um mit der Außenwelt zu verhandeln. Nun bleibt uns nichts anderes übrig, als zu Dieben zu werden, genau wie alle anderen, wenn wir das Auge des Mondes zurückhaben wollen.«
Peto traute seinen Ohren nicht. Er gab seine sinnlose Suche auf und warf sich in einen Sessel am Fenster. Kyle schlug allen Ernstes vor, den Kodex zu brechen, nach dem sie ihr gesamtes Leben gelebt hatten. Und es war obendrein sein erster Vorschlag. Er hatte keine anderen Ideen. Es stand schlimm. Sehr schlimm.
»Aber das würde gegen den Kodex verstoßen!«, sagte Peto entsetzt. »Es würde allem widersprechen, was man uns gelehrt hat!«
»Ja, das würde es«, sinnierte Kyle. »Aber das, mein Freund, ist wahrscheinlich genau das, was all den anderen Mönchen ebenfalls zugestoßen ist, die jemals für eine Mission die Insel verlassen mussten. Das ist der Grund, warum nicht einer von ihnen zurückkehren und unter uns weiterleben kann. Ich denke, wir sehen nun das wahre Opfer dafür, die Auserwählten zu sein, die das Auge finden sollen.«
»Es muss einen anderen Weg geben, das Auge zurückzuholen. Einen, ohne zu stehlen!«, sagte Peto. »Es muss einfach!«
»Glaubst du ernsthaft, dass irgendjemand uns uneigennützig helfen würde, es zurückzuholen, wenn er es für fünfzigtausend Dollar an jemand anderen verkaufen kann?« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und rieb sich die müden Augen, bevor er fortfuhr. »Nein, Peto, wir haben keine andere Wahl. Wir müssen alles beiseiteschieben, was man uns gelehrt hat. Wir müssen jeden einzelnen unserer heiligen Eide brechen, wenn wir den Stein zurückholen wollen, der rechtmäßig uns gehört.«
»Heißt das etwa, wir müssen anfangen zu trinken, zu rauchen, zu fluchen, zu spielen und mit leichten Mädchen zu schlafen?«, fragte Peto.
»Du hast zu viel vor dem Fernseher gesessen, Peto. Ich denke nicht, dass wir diese Eide brechen müssen. Aber lügen und stehlen – wir müssen möglicherweise lügen und stehlen«, antwortete der andere Mönch.
Kyle saß auf dem großen Doppelbett, unter dem der Koffer voller Geld versteckt gewesen war. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Die heiligen Eide von Hubal brechen … das war nicht das, was er gewollt hatte, als er zu seiner Mission aufgebrochen war. Auch wenn ihm durchaus bewusst gewesen war, dass es möglicherweise eine Erfordernis sein würde, um den Auftrag zu erfüllen.
»Nun denn, wenn wir schon einen Eid brechen müssen und für immer von Hubal verbannt werden, können wir dann nicht gleich alle brechen und fertig?«, argumentierte Peto. »Abgesehen davon habe ich schon einem von diesen Schweinen – ah, Kerlen ins Gesicht geschossen und ihn getötet.«
»Das zählt nicht«, schnappte Kyle. »Das war ein Unfall.«
Kyle schien völlig die Kontrolle über seine Emotionen verloren zu haben, zu Petos großer Überraschung. Er hatte den älteren Mönch noch nie so gesehen. Kyle war eindeutig untröstlich, weil sie all ihr Geld verloren hatten, und der Gedanke, auch nur einen der Eide zu brechen, an die er sich sein ganzes Leben lang gehalten hatte, machte alles nur noch schlimmer. Peto auf der anderen Seite kam rasch mit der Vorstellung zurecht, die Regeln zu brechen. Um die Wahrheit zu sagen – er genoss diese Gelegenheit förmlich. Und mit dieser Erkenntnis sprang er auf.
»Scheiße, Kyle, wo ist die verdammte Minibar?«, fragte er trotzig.
»Hey, langsam, Peto!«, sagte Kyle und sprang ebenfalls auf. »Ich sagte, wir müssen vielleicht einige Eide brechen. Du hast bereits geflucht, und das reicht wohl für den Augenblick, hmmm? Wenn du am Ende von Hubal verbannt wirst, weil du in dem Bemühen, das Auge des Mondes zurückzuholen, gelogen und gestohlen hast, dann und nur dann darfst du darüber nachdenken, weitere Eide zu brechen, beispielsweise den, keinen Alkohol zu trinken.«
Peto blickte niedergeschlagen drein. Er hatte all die Betrunkenen in Sanchez’ Bar gesehen und sich bereits selbst sehr auf diese Erfahrung gefreut. Er wusste im Herzen, dass Kyle ihn niemals an die Minibar gelassen hätte, doch allein der Gedanke an so etwas hatte ihn sich irgendwie lebendiger fühlen lassen. Auch »verdammt« und »Scheiße« zu sagen hatte überraschend befreiend gewirkt.
»Du hast recht, Kyle. Natürlich hast du recht. Hör mich trotzdem an. Wenn wir das Auge zurückholen, ganz gleich von welchem Schweinehund … ah, Banditen, wäre es da nicht nützlich, wenn wir eine Vorstellung hätten, wie es ist, so wie sie zu sein? Du weißt schon, wenn wir uns quasi in ihre Köpfe versetzen?«
»Sicher wäre das nützlich, aber dazu brauchen wir uns nicht zu betrinken.«
»Was sonst?«
»Halten wir uns an das, worin wir gut sind«, sagte Kyle. Er sah – sehr zu Petos Erleichterung – jetzt zumindest so aus, als würde er einen Plan schmieden. »Der Kampf Mann gegen Mann beispielsweise, sei es, indem wir jemanden zusammenschlagen oder es für Geld tun. Das muss unser erster Plan sein.«
»Du glaubst allen Ernstes, dass wir unsere hunderttausend Dollar zurückkriegen, indem wir Leute zusammenschlagen?«
Kyle stemmte die Hände in die Hüften und blickte um Inspiration heischend zur Decke hinauf. »Nein, wahrscheinlich nicht. Aber es ist ein Anfang«, räumte er ein. »Wir haben im Augenblick kein Geld, also muss das unsere erste Priorität sein.«
»Und unsere zweite?«, fragte Peto, dem allmählich dämmerte, dass sie nicht einmal imstande sein würden, für ihr Abendessen zu bezahlen.
»Wir haben keine. Wir müssen ein paar Leute ausrauben und das Geld nehmen, das sie bei sich haben. Ich habe einige Leute in der Tapioca Bar erzählen hören, dass am Rand der Stadt ein Jahrmarkt ist. Wenn ich richtig verstanden habe, können wir dort mit unserem Geld spekulieren und auf diese Weise mehr verdienen.«
»Du meinst spielen?«, fragte Peto hoffnungsvoll.
»Nein. Das würde bedeuten, einen heiligen Eid zu brechen. Wir werden mit unserem Geld spekulieren in dem Versuch, mehr Reichtum anzusammeln, nicht zu unserem eigenen Vorteil, sondern zum Vorteil der Menschheit.«
»Das klingt gut«, sagte Peto lächelnd. »Das gefällt mir.«
»Gut. Komm, wir sehen noch für eine Weile fern und lernen dabei Näheres über die Welt da draußen vor der Sonnenfinsternis morgen.«
»Okay. Was läuft denn?«
»Immer Ärger mit Bernie.«
»Klingt gut.«