Dreißig

Ernüchtert, wenn nicht sogar entsetzt nach ihrem Treffen mit dem Professor verließen Dante und Kacy das Museum und begaben sich mit einem frisch ausgebrüteten Plan zum Jahrmarkt. Wie so viele andere hielten sie schnurstracks auf das Boxzelt zu, wenngleich aus anderen Gründen als die meisten.

Sie hatten die Faustkämpfe etwas länger als eine Stunde verfolgt, bis sie zu einer offensichtlichen Schlussfolgerung gelangt waren. Hammerhead war der Mann, den sie für ihre Zwecke brauchten. Er hatte vier Kämpfe ausgetragen und alle vier locker gewonnen, ohne jedes Zeichen von Ermüdung. Dante und Kacy waren nicht hergekommen, um auf ihn zu wetten. Jedenfalls nicht mit Geld. Sie waren vielmehr hergekommen, um ihm ihre Leben anzuvertrauen.

Nach ihren Erfahrungen bei der Mystischen Lady und beim Professor hatte Dante beschlossen, dass sie einen Leibwächter benötigten. Wenn sie jemandem das Auge des Mondes für viel Geld verkaufen wollten, brauchten sie jemanden, der ihnen den Rücken freihielt. Der Boxring auf dem Jahrmarkt war ihnen als die beste Möglichkeit erschienen, diesen Jemand zu finden. Kacy war bereits überzeugt, dass Hammerhead der Richtige für die Aufgabe war, doch Dante hatte eine Reihe nagender Zweifel. Er wollte warten und den großen Burschen noch einmal kämpfen sehen – in ihm regte sich nämlich der Verdacht, dass sämtliche Kämpfe manipuliert waren.

Hammerheads nächster Gegner war nicht gerade dazu angetan, irgendjemandem im Zelt Furcht einzuflößen, als er in den Ring stieg. Es war ein recht kleiner, eigentümlich aussehender kahlköpfiger Bursche in einer schicken orangefarbenen Karatejacke und einer weiten schwarzen Hose darunter. Nach einer kurzen Diskussion mit dem Ringrichter, der ihn ohne Zweifel über die – ausgesprochen wenigen – Regeln des Kampfes informierte, wurde der kleine Mann dem Publikum vorgestellt. Der Sprecher in Frack und Zylinder nahm eins von Petos Handgelenken, führte ihn in die Mitte des Rings und bellte dann in sein Mikrofon:

»Ladys und Gentlemen! Der Herausforderer für unseren nächsten Kampf ist extra von einer kleinen Insel mitten im Pazifik nach Santa Mondega gekommen! Einen lauten Applaus für Peto den Unschuldigen!«

Der Betreuer des kleinen Mannes, nur ein klein wenig größer und genauso merkwürdig gekleidet, stand in seiner Ecke außerhalb des Rings und blickte zugleich aufgeregt und elend drein.

Der Ankündigung folgte ein lautes Buhen aus der Menge, hauptsächlich, weil sich alle nach Leibeskräften bemühten, den Herausforderer nervös zu machen in der Hoffnung, ein Blutbad zu erleben. Peto war kaum halb so schwer wie Hammerhead, und es sah nicht danach aus, als würden viele Leute ihr Geld auf ihn setzen.

Dante schüttelte den Kopf. Ganz gleich, wie überzeugend Hammerheads Sieg bei diesem Kampf ausfallen würde, er war immer noch nicht sicher, ob er diesem tätowierten Schläger sein Leben anvertrauen wollte. Kacy spürte seine Zweifel und gelangte zu dem Schluss, dass sie ihn auf andere Weise würde herumkriegen müssen. Sie wollte lieber früher als später raus aus diesem Zelt. Es war nicht sicher hier oder irgendwo sonst auf dem Jahrmarkt. Sie fühlte sich gegenwärtig nur noch an einem Ort sicher, und das war ihr Motelzimmer.

»Okay, wenn Hammerhead diesen Kampf gewinnt, machen wir ihm ein Angebot«, sagte sie. »Wir können nicht ewig warten.«

Zögernd willigte Dante ein. »Okay. Aber überlass mir das Reden, okay?«

»Wie viel willst du ihm anbieten?«

»Ich dachte an fünf Riesen.«

»Fünf Riesen?«

»Du denkst also, es wäre zu viel, wie?«, fragte Dante, auch wenn er sehen konnte, dass sie genau das dachte.

»Es ist eine höllische Menge Geld! Aber wenn du meinst, dass er so viel wert ist, bin ich schätzungsweise deiner Meinung.«

»Das ist der Grund, warum ich dich liebe, Kacy«, sagte er, zog sie zu sich und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Es war genug, um ihr Herz zu wärmen und zugleich ihre Nerven zu beruhigen.

Sie bahnten sich einen Weg durch die lärmende, nach Bier und Schweiß stinkende Menge bis nach vorne zum Ring. Weiter vorne war tatsächlich mehr Platz, weil der Ring so hoch oben war, dass man nichts mehr sehen konnte, wenn man zu dicht heranging. Dante hoffte, ein paar rasche Worte mit Hammerhead zu wechseln, bevor der Kampf anfing, also ging er zum Rand des Rings.

»Hey, Großer! Du da, Schläger!«, brüllte er über den Lärm der Menge hinweg.

Es war augenblicklich klar, dass Hammerhead keine Chance hatte, ihn zu hören, also begab er sich in seine Ecke. Hammerheads Ringassistent war sein nächster Ansprechpartner. Er war ebenfalls ein großer, gemein aussehender Kerl und hatte Tattoos an Stellen, die andeuteten, dass er eine Menge Schmerzen auszuhalten imstande war. Einige waren groß, einige waren klein, alle sahen bedrohlich aus. Schlangen und Messer stellten das übergeordnete Thema dar, durchsetzt mit zufälligen Worten wie »Tod« und »Auserwählt«. Er hatte eine Menge Gesichtshaare, wenngleich nicht gerade einen dichten oder buschigen Bart, mehr eine Art Flaum, die genauso sehr den oberen Teil seines Gesichts bedeckte wie den unteren. Er war fast dreißig Zentimeter größer als der kleine kahle Bursche, der sich nun zu Hammerhead im Ring gesellte – und doch war er nur der Ringassistent.

»Hey, du! Können wir kurz miteinander reden?«, brüllte Dante dem Mann ins Ohr in dem Versuch, sich in dem umgebenden Lärm Gehör zu verschaffen.

»Nein! Mach, dass du verschwindest, Kerl!«

»Kann ich nach dem Kampf mit Hammerhead reden? Ich will ihm ein Geschäft vorschlagen.«

»Ich hab gesagt, du sollst verschwinden, Kerl! Mach, dass du Leine ziehst, bevor ich dir den Kopf zwischen die Schultern ramme!«

Dante mochte den Ton des Mannes nicht, und wenn er sich mit dem Ringassistenten prügeln musste, dann musste es eben sein. Die Messerwunde, die er in Professor Cromwells Büro erhalten hatte, war ziemlich gut verheilt (doch das sagte er Kacy nicht), und Dante wusste, dass er zuschlagen konnte, sollte die Situation es erforderlich machen.

»Fick dich selbst, Arschloch!«, grollte er zurück.

»Was war das?«

»Ich sagte fick dich selbst, du hässliches Affengesicht von einem Arschloch!«

Kacy hatte ständig Angst vor einer Situation wie dieser. Dante hatte die unberechenbare Angewohnheit, so zu reagieren. Immer wieder und in unregelmäßigen Abständen verspürte er den Drang, sich zu behaupten, wenn er von jemandem provoziert wurde, der ihm entweder vorgesetzt war oder – wie in diesem Fall – sicher fünfundzwanzig Kilo mehr auf die Waage brachte.

Der massige Ringassistent Hammerheads stellte den Spuckeimer beiseite, den er gehalten hatte, und brachte sein Gesicht so dicht vor das von Dante, wie es nur möglich war, ohne ihn zu berühren.

»Sag das noch mal, Sonnenschein. Los, sag es.« Sein Tonfall war beinahe freundlich.

Es entstand eine nervöse Pause, während Dante seine Antwort überdachte. Kacy tat ihm einen Gefallen, indem sie einsprang und für ihn redete.

»Was würden Sie und Ihr Freund Hammerhead dazu sagen, fünftausend Mäuse für ein paar Stunden Arbeit zu verdienen?«, fragte sie und lächelte ihn mit ihrem strahlendsten, einladendsten Lächeln an.

Der Ringassistent starrte immer noch Dante in die Augen, doch er hatte Kacys Angebot gehört und schien darüber nachzudenken. Es dauerte nicht lange, und auf seinem Gesicht erschien ein breites Grinsen.

»Ich sag euch was, Leute. Ihr wartet hübsch, bis der Kampf vorbei ist, und dann setzen wir uns hin und reden. Hammerhead hat nach diesem Kampf eine Pause. Wir können nach hinten gehen und über euer Angebot reden.«

»Danke sehr«, sagte Kacy immer noch lächelnd, als hätte sie einen Kleiderbügel zwischen den Wangen.

Dante und der Ringassistent starrten sich noch ein paar Sekunden länger an, bevor Kacy ihren Freund mit sich zurück in die Menge zog.

Sekunden später ertönte der Gong, und der Kampf nahm seinen Lauf. Es war ein kurzer Kampf. Kacy und Dante beobachteten ehrfürchtig, wie Hammerhead durch den Ring sprang, um einen frühen Treffer zu landen, noch bevor der Gong verklungen war. Der kleine kahlköpfige Bursche in der orangefarbenen Jacke drehte sich in seiner Ecke um und erwischte einen Dampfhammer von Faustschlag, der ihn fast aus dem Ring befördert hätte, als die Runde noch keine zwei Sekunden lang dauerte.

Er erholte sich zur Überraschung aller rasend schnell von diesem schweren Treffer, und zum Erstaunen der Menge (einschließlich Dante und Kacy, doch nicht Sanchez) verpasste der kleine Bursche Hammerhead eine Tracht Prügel, wie dieser sie wohl seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte.

Zuerst lenkte der kleine Kerl einen unglaublich schnellen, kräftigen Schlag gegen Hammerheads Hals, der den Riesen rückwärts stolpern und nach Atem ringen ließ. Einen Sekundenbruchteil später wurde er von einem fliegenden Tritt an die Schläfe erwischt, und bevor Hammerhead begriff, was ihn getroffen hatte, befand er sich im Schwitzkasten und bekam keine Luft mehr. Er verlor das Bewusstsein.

Die ganze Angelegenheit war nach weniger als dreißig Sekunden vorbei.

Zuerst stand die Menge schweigend und wie betäubt da, nicht ganz sicher, was sie gerade mit eigenen Augen beobachtet hatte. Jeder Einzelne von denen, die auf Hammerheads Sieg gewettet hatten (und davon gab es nicht wenige), wollte am liebsten glauben, dass der Kampf manipuliert worden war. Jeder Kampf, bei dem ein viel kleinerer Bursche gegen einen Riesen gewann, sah immer aus wie manipuliert. Unglücklicherweise schien das diesmal jedoch nicht zu stimmen. Hammerhead hätte sich niemals so von einem derart lächerlich aussehenden Gegner wie »Peto dem Unschuldigen« verprügeln lassen. Es musste echt gewesen sein.

Als dem Publikum schließlich dämmerte, was passiert war, ging ein lauter Aufschrei durch die Masse, eine Mischung aus Johlen und Jubelrufen. So gut wie jeder hatte Geld verloren, doch es war eine Freude, einen Schläger so untergehen zu sehen wie diesen Hammerhead, noch dazu gegen einen so winzigen, unscheinbar wirkenden Gegner.

Verwirrt vom Lärm und Gejohle standen Kyle und Peto im Ring, während Hammerhead unter lauten Buhrufen auf einer Trage nach draußen gebracht wurde. Die beiden Mönche schätzten, dass Peto nun die Position des Kämpfers erobert hatte, den es zu schlagen galt. Jeder im Zelt wollte ihn erneut kämpfen sehen. Die Frage lautete nur: Wer würde sein nächster Gegner werden?

Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
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