Dreiundzwanzig
Als Jensen um zehn Uhr morgens im Büro eintraf, war Somers wie üblich bereits da und saß an seinem Schreibtisch. Wie üblich studierte er Polaroidfotos von Leichen.
»Ich schwöre, diese Stadt ist voller Halsabschneider und Lügner!«, beschwerte sich Jensen. Er zog seine braune Wildlederjacke aus und warf sie über die Stuhllehne. Sie prallte von der Lehne ab und glitt langsam zu Boden.
»Es gibt nicht einen einzigen anständigen Menschen in diesem Kaff!«, fuhr er fort. »Ich habe die ganze Nacht Personen befragt, die diesen Elvis erwiesenermaßen kennen, und nicht einer von ihnen hat mir eine einzige Information gegeben, die nicht ganz offensichtlich gelogen war. Wussten Sie, dass Elvis vor drei Jahren gestorben ist? Außerdem ist er vor vier Monaten nach Australien ausgewandert. Und das Neueste, er ist über das Wochenende nicht in der Stadt, weil er Priscilla besucht. Verlogene Bastarde, allesamt!«
»Jensen, der King ist tot«, sagte Somers.
»Fangen Sie nicht auch noch an!«
»Tue ich nicht. Elvis wurde in einem beschissenen Appartement gefunden, vor drei Stunden.«
»Sie machen sich über mich lustig!«
»Mitnichten. Man hat ihm die Augen ausgestochen und die Zunge abgeschnitten, wie bei allen anderen außer Marcus dem Wiesel, der, sehen wir den Tatsachen ins Auge, aller Wahrscheinlichkeit nach von Elvis umgelegt wurde.«
»Sind das die Fotos auf Ihrem Schreibtisch?«
Jensen starrte fragend auf die Polaroids.
»Ja.«
»Darf ich sie auch sehen?«
Jensen beugte sich vor und streckte die Hand aus. Somers reichte ihm einen Satz schwarz-weißer zehn mal fünfzehn Zentimeter großer Fotos.
»Sehen genauso aus wie alle anderen auch, Jensen. Sie verschwenden Ihre Zeit.«
»Verdammt, Somers!«, fluchte Jensen. »Dieser Typ war unsere heißeste Spur!«
»Nicht unbedingt. Da ist noch eine …«
»Was sind Sie jetzt … Yoda vielleicht?«
Somers beachtete Jensens ärgerliche Bemerkung nicht und schob seinem Partner stattdessen sein kleines Notizbuch hin. Auf der aufgeschlagenen Seite standen ein paar Worte in Bleistift. Jensen nahm das Buch und las laut vor, was dort geschrieben stand: Dante Vittori und Kacy Fellangi. Ein gut aussehendes junges Paar.
»Was soll das? Sind Sie jetzt einem Swingerclub beigetreten oder was?«, fragte Jensen sarkastisch. Auch wenn es noch früh am Tag war, hatte er bereits so viel Frustration angesammelt, dass er keine Geduld mehr übrig hatte für kleine Spielchen.
»Dante Vittori war der Nachtportier im Santa Mondega International Hotel«, sagte Somers leise. »Kacy Fellangi war Zimmermädchen im gleichen Hotel. Sie ist seine Freundin.«
»Schön. Und?«
»Und beide sind kurz nach dem Mord an Marcus dem Wiesel verschwunden. Und Elvis wurde tot in ihrer Wohnung gefunden.«
»Oh«, sagte Jensen und schob das Notizbuch zusammen mit den Polaroids wieder zu Somers zurück. »Was bedeutet das für uns?«
Somers beugte sich vor und nahm das Büchlein, um es in die Brusttasche seines weißen Hemds zu stecken. »Es bedeutet, dass Elvis aus irgendeinem Grund zu den beiden wollte, nachdem er Marcus das Wiesel erledigt hatte.«
»Dann haben sie wohl beobachtet, wie er Marcus umgebracht hat, richtig?« überlegte Jensen laut. »Und er wollte sie ebenfalls erledigen, weil sie ihn identifizieren konnten.«
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.«
»Dann weiß ich es nicht. Warum sonst sollte er hinter den beiden her gewesen sein? Oder haben sie etwa zusammengearbeitet?«
»Nein, glaube ich nicht. Elvis arbeitet allein. Er ist ein Solokünstler. Die Beatles waren eine Gruppe, eine Band. Elvis war immer allein. Nein, ich denke, sie hatten etwas, das er wollte. Was auch immer es war, Bourbon Kid wollte es ebenfalls. Deswegen ist Elvis tot. Er und Bourbon Kid müssen sich mehr oder weniger in der Wohnung unseres Pärchens über den Weg gelaufen sein. Das einzige Problem dabei – unsere Freunde Dante und Kacy hatten schon lange vorher alles gepackt und sind verschwunden. Natürlich sind sie die Miete schuldig geblieben.«
Jensen ging zu der Stelle, wo seine Jacke am Fußboden lag, und hob sie auf. Er klopfte sie ab, hängte sie ordentlich über seine Stuhllehne und setzte sich. Er sah Somers an, der darauf wartete, dass Jensen sich beruhigte und anfing, die Hinweise zu einem Bild zusammenzusetzen. Der ältere Mann war ihm offensichtlich ein ganzes Stück voraus – aber schließlich hatte er auch einen Vorsprung von drei Stunden, in welchen er die Einzelheiten zu Elvis’ Tod hatte verarbeiten können.
»So«, seufzte Jensen. »Elvis hat also in ihrer Wohnung nach irgendwas gesucht, als unser Killer …«
»Bourbon Kid.«
»Richtig. Als Bourbon Kid in der Wohnung auftaucht und ebenfalls nach … sagen wir dem Auge des Mondes sucht und stattdessen Elvis vorfindet. Und weil er ein völliger Psycho ist …«
»Und wahrscheinlich obendrein ein Vampir …«
»… bringt er Elvis um, und dann fällt ihm etwas ein. ›Scheiße!‹, sagt er.«
»Tatsächlich? Er hält inne und sagt tatsächlich ›Scheiße!‹?«
»Ja, er hält inne und sagt ›Scheiße!‹, weil ihm klar wird, dass der King nicht besitzt, wonach er sucht.« Jensen zögerte für einen Moment, weil er selbst unsicher war, wohin seine Theorie führen würde. Mit weniger Inbrunst fuhr er schließlich fort: »Aber warum sollte Bourbon Kid glauben, dass diese beiden Kids Dante und Kacy das Auge des Mondes haben?«
Somers hob die Hand, um Jensen anzudeuten, dass er den Mund halten und zuhören sollte. Jensen verstummte.
»Wollen Sie meine Theorie hören?«
»Sicher.«
»Meine Theorie ist folgende: Wir wissen, dass Marcus das Wiesel ein Experte war, was Diebstahl angeht, richtig?«
»Richtig.«
»Nehmen wir also für den Moment an, dass Marcus das Auge des Mondes in seinem Besitz hatte. Dann bekommt er seine eigene Medizin zu schmecken, und diese beiden Kids Dante und Kacy rauben ihn aus. Sie nehmen ihm das Auge des Mondes ab und geben Fersengeld. Außerdem – das ist der Teil, wo ich mir nicht ganz sicher bin – können die beiden Elvis als den Killer von Marcus identifizieren, also beschließt Elvis, sie aus dem Weg zu räumen, nur zur Sicherheit. Er geht zu ihnen nach Hause, doch Bourbon Kid ist ebenfalls auf der Suche nach dem Stein, und die beiden begegnen sich in der Wohnung von Dante und Kacy. Peng! Der King ist Vergangenheit.«
»Sie haben lange darüber nachgedacht, wie?«, bemerkte Jensen, dem die Aufregung in Somers’ Stimme nicht entgangen war.
»Sehen wir den Tatsachen ins Auge, wer auch immer Elvis erledigt hat, es ist die gleiche Person, die auch unsere anderen Opfer ermordet hat, mit Ausnahme von Marcus. Das erkennen wir an den ausgestochenen Augen und der abgeschnittenen Zunge.«
Jensen grübelte einige Sekunden über Somers’ Theorie, dann räumte er ein: »Es ist zwar ziemlich dünn, aber mir gefällt die Idee, ehrlich. Gut möglich, dass Sie da auf was gestoßen sind, Partner. Eine Sache haben Sie allerdings nicht in Erwägung gezogen.«
»Oh? Und was wäre das?«, erkundigte sich sein Partner mit fragend erhobener Augenbraue.
»Ich weiß, dass Sie denken, Bourbon Kid steckt hinter alledem, und Sie haben wahrscheinlich Recht, aber was, wenn dieser Dante Vittori der Mörder von Elvis und all den anderen ist?«
Somers schüttelte entschieden den Kopf, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und stieß einen langen Seufzer aus.
»Sind Sie eigentlich fest entschlossen, mir nicht zu glauben, wenn ich Ihnen sage, dass Bourbon Kid hinter all diesen Morden steckt? Wie oft sollen wir das noch durchkauen? Ich meine, warum vertrauen Sie mir nicht einfach, Jensen?«
»Sie verstehen nicht, worauf ich hinauswill«, sagte Jensen und hob diesmal seinerseits die Hand, um Somers zu signalisieren, dass er ihn ausreden lassen solle. »Ich glaube ja, dass Bourbon Kid hinter praktisch all diesen Morden steckt – zumindest denen, von denen Sie diese Polaroids haben.«
»Und worauf wollen Sie dann gottverdammt noch mal hinaus?«, fragte Somers.
»Worauf ich hinauswill, Partner …«, sagte Jensen und starrte dem anderen Mann hart in die Augen, »… worauf ich hinauswill, ist, dass dieser junge Dante Vittori vielleicht in Wirklichkeit Bourbon Kid ist.«