Siebenundfünfzig
Die einkehrende absolute Dunkelheit in der Tapioca Bar war der Funke, der das Pulver entzündete. Das Licht wich aus dem Lokal und wurde von dem Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe ersetzt. Ob sie saßen oder standen, ob sie bewaffnet waren oder nicht, die Gäste in der Tapioca Bar warteten still darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, als ob sie wüssten, dass die Zeit abgelaufen war.
Sanchez vermochte nicht zu sagen, wer als Erster feuerte, doch es war in der Tat ein einzelner Schuss, der die Stille durchbrach. Dem Schuss folgte eine Pause von einer halben Sekunde, und dann brach die Hölle los. Der Lärm der Schüsse war ohrenbetäubend. Schüsse kamen von überallher, Kugeln flogen in alle Richtungen.
Sanchez warf sich hinter der Theke zu Boden, wie er es bei derartigen Gelegenheiten immer tat. In der Dunkelheit hörte er nur Schüsse, Schreie, Flüche und das gelegentliche Hinplumpsen eines Körpers – einer davon ohne Zweifel der von Mukka. Er spürte ihn dicht neben sich, und er spürte außerdem, dass der Koch tot war. Er hatte nicht geschrien, nicht gestöhnt, sich nicht gewunden, sondern war einfach nur umgefallen. Eine Kugel in den Kopf oder ins Herz wahrscheinlich. Der arme Bastard.
Die Sonnenfinsternis dauerte gut über zwei Minuten, und der Schusswechsel dauerte ebenso lang. Sanchez verbrachte die ganze Zeit mit den Händen über den Ohren hinter dem Tresen in der vergeblichen Hoffnung, dem trommelfellzerreißenden Lärm auf diese Weise zu entgehen, dem Knallen von Schüssen, dem Bersten von Glas, dem Schreien der Leute und dem Fluchen. Dem Stöhnen und Sterben.
Als die Schüsse weniger wurden und die Sonne allmählich wieder hinter dem Mond hervorkam, wurde es langsam heller in der Tapioca Bar. Noch immer bewegten sich vereinzelt Leute im Lokal, auch wenn es in Sanchez’ Ohren klang, als lägen sie in den letzten Zügen. Hin und wieder war ein Stöhnen oder ein Husten zu hören, durchsetzt vom Klang zusammenbrechender Tische, berstender Gläser und zu Boden tropfender Flüssigkeiten.
Endlich, nach etwa zwanzig Sekunden ohne weitere Schüsse und nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, erhob sich Sanchez in eine kauernde Haltung. Er suchte an sich selbst nach Schusswunden und überzeugte sich, dass er unverletzt geblieben war, dann zog er sich hoch, um vorsichtig über den Tresen ins Lokal zu spähen. In der Luft hing eine Menge Pulverdampf. Eine höllische Menge Pulverdampf, die es schwierig machte, irgendetwas zu erkennen. Er brachte seine Augen zum Brennen, und sie füllten sich rasch mit Tränen, als würde er im nächsten Moment weinen.
Als sich der Qualm allmählich wegen der Zugluft von der offenen Tür zu lichten begann, fühlte sich Sanchez an jenen Tag vor fünf Jahren erinnert, als Bourbon Kid seine gesamte Kundschaft ausgelöscht hatte. Die Tapioca Bar sah ganz genauso aus wie damals.
Der erste Leichnam, den Sanchez erkannte, war der von Carlito. Sein Hemd war vollgesogen mit Blut, und aus seinen Wunden stiegen dünne Rauchfäden auf. Nicht weit von ihm, Komplize im Tod wie im Leben, lag sein Partner Miguel. Zumindest nahm Sanchez an, dass es Miguel war, denn er trug das gleiche Lone-Ranger-Kostüm wie Carlito. Ansonsten war es unmöglich zu sagen, wer der Tote war. Der halbe Kopf war weggeschossen, und seine Gliedmaßen waren gespickt mit Einschüssen.
Sanchez blickte zur nächsten leblosen Gestalt. Sie gehörte einem der beiden Mönche, auch wenn es schwierig war zu sagen welchem. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden, und Kyle und Peto sahen sich selbst in normalen Zeiten zum Verwechseln ähnlich. Wie dem auch sei, dieser Mönch hatte eine Kugel in den Hinterkopf bekommen und war mit großer Wahrscheinlichkeit der Erste, der erschossen worden war. Er musste frühzeitig zu Boden gegangen sein, denn die tödliche Wunde schien die einzige zu sein, die er erlitten hatte. Die gelbe Kobra auf dem Rücken seiner Jacke bildete einen hübschen Kontrast inmitten von all dem dunkelroten Blut.
Sanchez spähte weiter in die Runde, bereit, sich beim kleinsten Anzeichen von Gefahr wieder hinter den Tresen zu werfen. Am meisten interessierte ihn die Frage, ob Jessica überlebt hatte, und – auch wenn es ein wenig lachhaft erschien und selbstsüchtig obendrein – er wollte auch wissen, was aus Jefe geworden war. Wenn Jefe tot war und Jessica noch lebte, konnte Sanchez sie vielleicht ein wenig trösten.
Wie es der Zufall wollte, war zumindest eines seiner Gebete erhört worden. Auf einem Tisch im Zentrum des Lokals lag – mit weit von sich gestreckten Gliedern und von Kopf bis Fuß in seinem eigenen Blut und seinen eigenen Eingeweiden – Jefe. Es war schwierig zu sagen, ob er nun besser aussah, nachdem er seine Freddy-Krueger-Maske verloren hatte. Er sah mehr oder weniger genauso aus wie Minuten zuvor, als er sie noch getragen hatte, so übel war sein Gesicht zugerichtet worden.
Doch was war mit Jessica? Sanchez entdeckte keine Spur von ihr. Die meisten Gäste in der Bar waren ihm völlig gleichgültig, doch er war mehr als nur ein wenig besorgt wegen des Schicksals der wunderschönen Frau, die er fünf Jahre zuvor schon einmal gerettet hatte.
Der nächste Leichnam war einer, von dem Sanchez geglaubt hatte, er würde ihn niemals sehen: El Santino, der Mann, von dem die Leute sagten, dass er niemals sterben konnte. Der Gene-Simmons-Doppelgänger sah aus, als wäre er geschlachtet worden. Sein Kopf und sein Gesicht waren über den Boden verteilt, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten. Er schien außerdem einen Arm und ein Bein verloren zu haben. Irgendjemand hatte ihn richtig in der Mangel gehabt, wie es schien.
Sanchez’ Gesichtszüge wurden hart, als er schließlich Jessicas blutverschmierte Gestalt entdeckte. Er begriff nicht, wieso er sie vorher hatte übersehen können. Sie lag unter dem mit dem Gesicht nach unten liegenden toten Mönch, den er Augenblicke zuvor gesehen hatte. Sie lebte noch, gerade so, doch sie hatte Mühe zu atmen. Ihr Ringen nach Luft wurde nicht begünstigt durch das Gewicht des toten Mönchs auf ihrer Brust. Sie stemmte den Leichnam ein wenig hoch, und Sanchez erkannte jetzt, dass es Kyle war. Von dem anderen Mönch war keine Spur zu sehen.
Und wo ist Bourbon Kid? Es war, als hätte er die Frage laut gestellt, denn er hatte sie noch nicht zu Ende gedacht, als er bereits seine Antwort erhielt.
»Ich bin immer noch hier. Denk nicht mal daran, Catwoman helfen zu wollen«, sagte eine Stimme aus den dunklen Schatten zu seiner Linken.
Aus dem Qualm und der Dunkelheit trat Bourbon Kid. Er hielt in jeder Hand eine rauchende Pistole und stieg langsam über Leichen auf dem Weg zu Jessica, die sich verzweifelt bemühte, Kyle von sich herunterzuschieben, sodass sie aufstehen konnte, bevor die nächsten Kugeln geflogen kamen.
Sanchez wünschte, er wäre ein tapfererer Mann, doch er wusste, dass es seinen sicheren Tod bedeutete, sollte er ihr zu Hilfe kommen. Abgesehen davon wusste er, dass sie eine ganze Menge Kugeln vertragen konnte. Er hatte vor fünf Jahren schon einmal zugesehen, wie Bourbon Kid versucht hatte, sie zu töten. Jessica hatte damals überlebt, und wenn sie diesmal überlebte, so schwor er sich, würde er erneut ein sicheres Versteck für sie finden und sich um sie kümmern.
Bourbon Kid war nur noch vier oder fünf Meter von ihr entfernt, als es ihr endlich gelang, sich von der Leiche Kyles zu befreien. Sie stand im Begriff, sich auf die Beine zu kämpfen, als ihre Nemesis den rechten Arm hob, mit der Pistole in der Hand zielte und ihr zwei Kugeln in die Brust schoss. Sie wurde gegen einen umgekippten Tisch geschleudert und hustete Blut. Ihre Brust wogte, und sie sah aus, als würde sie an dem Blut ersticken, das plötzlich ihren Mund füllte. Sanchez schrak zurück vor dem grässlichen Anblick. Es gab keinen Zweifel, Jessicas Ende stand unmittelbar bevor.
»Du Bastard! Du verdammter Bastard!«, kreischte sie Bourbon Kid an, und das Blut troff ihr dabei aus dem Mund.
»Das stimmt. Ich bin ein Bastard, da hast du völlig recht, und ich bin hier, um dich zu töten. Es ist Zeit, die Arbeit zu beenden, die ich vor fünf Jahren angefangen habe. Und jetzt gib mir meinen blauen Stein, du verdammtes Miststück!«
»Fick dich. Ich hab ihn nicht«, sagte sie hustend und würgend. »Einer dieser Toten muss ihn haben.«
Jessica brauchte dringend Zeit, und ihr schien aufgegangen zu sein, dass ein feindlicher Tonfall gegenüber Bourbon Kid nicht hilfreich war. Plötzlich änderte sie ihre Strategie und schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Warum suchen wir nicht zusammen danach?«
Sanchez konnte sehen, dass der Bourbon Kid unbeeindruckt blieb. Er feuerte zwei weitere Schüsse auf Jessica ab, diesmal mit der Pistole in der linken Hand. Eine Kugel traf ihr linkes, die andere ihr rechtes Knie, und weiteres Blut spritzte über ihr schwarzes Katzenkostüm. Ihre Toleranz gegen Schmerzen wurde bis an die Grenze gefordert. Sanchez zuckte zusammen angesichts der Agonie, die sie erleiden musste. Wenn sie noch ein klein wenig länger am Leben blieb, würde Bourbon Kid vielleicht die Munition ausgehen, oder die Polizei würde eintreffen.
»Wir machen überhaupt nichts zusammen«, erwiderte die dunkle Gestalt rau, stieg über Carlitos Leichnam und näherte sich Jessica noch weiter. »Keiner dieser Toten hier hat den Stein, und das weißt du. Also heraus mit der Sprache – wo ist er?«
»Ich habe dir schon gesagt, ich weiß es nicht! Ich schwöre!«
»Die nächste Kugel geht in dein Gesicht. Wo ist der Stein?«
»Ich weiß es nicht. Einer von denen hat ihn.« Sie deutete auf die Toten. »Ich glaube, dass Jefe ihn als Letzter hatte.«
Bourbon Kid hielt inne und sah zu den Leichen, auf die Jessica zeigte. Es war nicht zu erkennen, ob er überhaupt wusste, wer Jefe war. Eines war jedoch klar: Das Auge des Mondes war nirgendwo zu sehen.
»Jetzt hat er ihn aber nicht mehr, richtig?«, grollte Bourbon Kid und drehte sich wieder zu Jessica um. »Hätte er den Stein, wäre er nicht tot. Das Auge des Mondes hätte ihn am Leben erhalten. Ich denke, wir können mit einiger Sicherheit behaupten, dass keiner der Toten das Auge bei sich trägt. Die einzigen lebenden Personen in diesem Laden sind du, der Barmann und ich. Ich hab den Stein nicht, der Barmann … er hat nicht den Schneid, ihn anzurühren. Also bleibst nur du übrig.«
Ein lautes Krachen am anderen Ende der Bar, in der Nähe der Hintertür, veranlasste Jessica und Bourbon Kid, die Köpfe herumzureißen. Ein großes Fass war umgestoßen worden, und dahinter kam der Mönch Peto in seinem nun blutbesudelten Cobra-Kai-Kostüm zum Vorschein. In der linken Hand hielt er das Auge des Mondes. Interessanter war jedoch das, was er in der Rechten hatte: eine abgesägte Schrotflinte.
»Noch eine Person ist nicht tot«, verkündete Peto das Offensichtliche und trat aus seiner Deckung nach vorn. Sanchez war erstaunt angesichts der Veränderung in seiner Stimme. Sie klang mit einem Mal unglaublich rau.
Der überlebende Mönch humpelte; er hatte einen Streifschuss an der linken Wade abbekommen. Außerdem sickerte ein dünner Blutstrom aus seinem Mund, auch wenn der Grund dafür nicht ohne Weiteres zu erkennen war.
»Du hast nicht mit der Unverwüstlichkeit der Mönche Hubals gerechnet, stimmt’s?«, krächzte er rau. »Jetzt lass die verdammten Kanonen fallen, Mister, und geh von der netten Lady weg, oder ich pumpe dich so voller Blei, dass du es für den Rest deines erbärmlich kurzen Lebens ausscheißt.«
Bourbon Kid blickte den jungen Mönch nachdenklich an.
»Leck mich am Arsch«, sagte er schließlich.
In seiner früheren mönchischen Existenz wäre Peto entsetzt gewesen angesichts einer derartigen Bemerkung. Doch nach allem, was er in der kurzen Zeit, seit er in Santa Mondega war, durchgemacht hatte, gingen unflätige Kommentare wie der Bourbon Kids geradewegs an ihm vorbei.
»Du hast drei Sekunden, um deine beiden Kanonen fallen zu lassen, oder ich schieße dich über den Haufen«, sagte Peto. In seiner Stimme schwang echte Entschlossenheit.
Sanchez glaubte Peto aufs Wort. Er würde nicht zögern, Bourbon Kid in drei Sekunden über den Haufen zu schießen. Tatsächlich betete er sogar darum.
»Drei …«, schnarrte Peto.
»Zwei …!«, schnarrte der Bourbon Kid ohne jede Spur von Furcht zurück.
Sanchez wollte die Augen schließen, doch dazu blieb ihm keine Zeit. Wenn der Mönch das Herunterzählen nicht selbst beendete, würde Bourbon Kid es tun. Doch Peto war unbeeindruckt von dem Einschüchterungsversuch und zählte selbst weiter.
»Eins.«
KRACH!
Die Tür zu den Toiletten zur Linken Petos wurde so heftig aufgestoßen, dass sie fast aus den Angeln riss, und Dante, noch immer in voller Terminator-Montur, kam herausgestapft. Er richtete eine abgesägte Schrotflinte auf Petos Kopf.
»Tu das nicht, Peto«, warnte er.
»Dante, das geht Sie überhaupt nichts an.«
»Doch, das tut es. Nimm dein Auge des Mondes, und verschwinde damit so schnell wie möglich von hier. Ich kümmere mich um diesen Kerl.«
»Aber er hat Kyle getötet!«
»Peto, du bist ein Mönch. Mönche töten keine Menschen. Ganz egal, aus welchem Grund, Mönche töten niemals. Und jetzt verschwinde von hier. Nimm deinen kostbaren Stein, und geh dahin zurück, wo du hergekommen bist. Los, nur zu. Benutz die Hintertür und verschwinde.« Dante zeigte mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der Hintertür, der schnellsten Möglichkeit für Peto, die Tapioca Bar zu verlassen.
Sanchez beobachtete die neueste Entwicklung mit vor Staunen offenem Mund, während er darauf wartete, wie Peto sich entscheiden würde. Nach einer Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, senkte der Mönch seine Flinte und trat misstrauisch zurück. Er sah Dante tief in die Augen in dem Versuch, einen Sinn darin zu sehen, doch die dunklen Gläser der Terminator-Sonnenbrille ließen nichts erkennen. Überhaupt nichts.
Peto sah aus wie ein Mann, der betrogen worden war. Obwohl er Dante nicht besonders gut kannte, vertraute er ihm mehr als den meisten anderen Menschen, die er außerhalb von Hubal getroffen hatte.
Vor allem anderen wollte er den Tod Kyles rächen, und doch hatte Dante recht. Mönche brachten keine Menschen um. Niedergeschlagen wandte er sich ab und ging langsam an Dante vorbei zum Hinterausgang und nach draußen, wobei er den Blick und den Lauf seiner Flinte nie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde von Bourbon Kid abwandte. Und dann waren Peto und das Auge des Mondes verschwunden.
Zurück in der Bar blieben Bourbon Kid, der immer noch mit beiden Pistolen auf Jessica zielte, und Dante, der nun ebenfalls seine abgesägte Schrotflinte auf sie richtete. Sanchez in der vergleichsweise sicheren Deckung des Tresens war vollkommen sprachlos. Warum sollte dieser Junge, dieser Verlierer im Terminator-Kostüm, der wenige Minuten vorher noch ausgesehen hatte, als würde er sich jeden Augenblick in die Hosen machen, plötzlich aus dem Schatten ans Licht kommen, um Bourbon Kid zu helfen?
Wer war dieser Kerl?
Und was zum Teufel wusste er, was Sanchez nicht wusste?