Neunundvierzig
Miles Jensen saß seit dem Abgang von Carlito und Miguel in nahezu völliger Dunkelheit in der Scheune. Sie hatten das große Tor hinter sich geschlossen und das wenige Mondlicht ausgesperrt, das durch den Eingang ins Innere gefallen war. Jetzt war es so dunkel, dass er gerade noch die Umrisse der Vogelscheuche ausmachen konnte, die vor ihm in der Schubkarre saß. Es war inzwischen fast ein Uhr morgens und Zeit, dass der Alarm seines Mobiltelefons summte.
Die Vogelscheuche hatte sich während der ganzen Zeit nicht bewegt, was für Jensen keine Überraschung gewesen war. Trotzdem war er begierig auf das Ende der Geisterstunde. Die Geschichte, die Carlito ihm über die zum Leben erwachenden Vogelscheuchen erzählt hatte, war ausgesprochen lächerlich gewesen, doch mit jeder verronnenen Minute war Jensen ein klein wenig nervöser geworden. Es war zu dunkel, um die Zeit auf dem Display seines Mobiltelefons abzulesen, das noch immer in seinem Schoß ruhte, und allmählich kamen ihm Zweifel, ob der Alarm überhaupt gestellt worden war. Zu erzählen, er hätte den Alarm auf ein Uhr gestellt, obwohl er in Wirklichkeit nichts Derartiges getan hatte, wäre typisch für Typen wie Carlito gewesen, um Jensens Qualen zu verlängern.
Jensens Schädel schmerzte noch immer von dem Schlag, den er früher am Abend erhalten hatte, und das erschwerte ihm das Wachsambleiben. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als die Augen zu schließen und für ein paar Stunden zu schlafen. Tatsächlich stand er ganz dicht davor einzunicken, als er von der Vorderseite der Scheune ein knarrendes Geräusch vernahm. Instinktiv holte er tief Luft durch die Nase und hielt sie ein, um keinen Laut von sich zu geben. Er starrte nach vorn und strengte seine Augen an in dem verzweifelten Bemühen zu erkennen, wer oder was für das Geräusch verantwortlich war.
Es war das Scheunentor, und es öffnete sich sehr, sehr langsam. Jensen erkannte es daran, dass plötzlich ein schmaler Strahl Mondlicht ins Innere der Scheune und auf den Kopf der Vogelscheuche fiel. Das Strohgesicht sah mit einem Mal aus, als hätte es Augen, wo zuvor keinerlei Gesichtszüge erkennbar gewesen waren. Doch die Vogelscheuche war nicht Jensens Hauptsorge. Er musste wissen, wer der Mann war, der dort im Tor stand, umhüllt von Nebel und umrissen vom silbernen Mondlicht. Es war ein großer Mann, der einen Anzug und auf dem Kopf einen Panamahut zu tragen schien. Außerdem hielt er eine Pistole in der rechten Hand, deren Lauf nach unten zeigte.
»Somers?«, rief Jensen leise. »Sind Sie das?«
Der Mann antwortete nicht. Stattdessen betrat er die Scheune und schob das Tor hinter sich wieder zu, bis nur noch ein schmaler Spalt blieb, durch den fast kein Licht mehr fiel. Dann näherte er sich langsam Jensen und der Vogelscheuche in der Schubkarre, während er die Pistole hob und auf den Strohmann zielte. Als er nur noch drei Meter von Jensen entfernt war, blieb er stehen und zielte mit der Pistole auf den Kopf der Vogelscheuche.
In diesem Moment geschah etwas, das Jensen das Leben hätte kosten können. Der Alarm seines Mobiltelefons ging los. Er spielte eine Melodie aus dem Film Superman, und das zu allem Übel grauenhaft laut. Es war schwer zu sagen, ob Carlito Jensens Mobiltelefon auf höchste Lautstärke gestellt hatte oder ob das Geräusch wegen der vorangegangenen, entnervenden Stille so schockierend war.
Jedenfalls erschrak der Mann mit dem Panamahut und wirbelte herum. Er richtete die Pistole auf Jensen, und sein Finger um den Abzug zitterte. Der Mann hatte einen heiligen Schreck erlebt.
»Jensen, sind Sie allein?«, flüsterte er heiser.
»Allmächtiger Gott, sind Sie das, Scraggs?«
»Ja. Sind Sie nun allein oder was?«
»Ja, ich denke schon – abgesehen von dieser verdammten Vogelscheuche.« Er war fast überwältigt vor Erleichterung beim Klang der vertrauten Stimme von Lieutenant Paolo Scraggs.
»Eine Vogelscheuche? Das ist also nur eine Vogelscheuche?«, fragte Scraggs verblüfft.
»Ja. Der Strohmann persönlich. Können Sie mich jetzt bitte losbinden, Scraggs?«
»Sicher.« Scraggs trat vor und sprang auf die Strohballen, auf denen Jensen saß. Er stellte sich direkt hinter den gefesselten Detective und tastete umher, bis er das Klebeband gefunden hatte, mit dem Jensens Hände aneinandergefesselt waren. Doch er unternahm keinerlei Anstalten, das Band zu lösen oder durchzuschneiden. Stattdessen schien er die Situation als eine Gelegenheit zu betrachten, den gefangenen Ermittler auszufragen, was er bisher herausgefunden hatte.
»Warum haben diese beiden Kerle Sie hergebracht, Jensen?«, wollte er wissen. »Und warum haben sie Sie nicht auf der Stelle erledigt?«
»Können Sie mich nicht einfach losbinden?«, stöhnte Jensen auf. Er war zu müde für eine Befragung durch einen Kollegen. Er hatte schon zu viel durchgemacht.
»Kommen Sie, Jensen. Ich hab Ihnen gerade den Arsch gerettet, also schätze ich, Sie können mir ruhig erzählen, was das alles zu bedeuten hat. Ich denke sogar, unter den gegebenen Umständen ist es das Wenigste, was Sie tun könnten. Ich könnte Sie einfach hier zurücklassen, wissen Sie?«
Scraggs war selbst unter normalen Umständen ein schwieriger, ermüdender Typ, und Jensen fing an zu begreifen, warum Somers so wenig Toleranz gegenüber dem Lieutenant zeigte.
»Hören Sie, Scraggs, man hat mich hier zum Sterben zurückgelassen. Die Kerle haben irgendwas erzählt von wegen der Vogelscheuche, die zur Geisterstunde zum Leben erwachen und mich fressen sollte. Sie haben mir nicht verraten, was sie von mir wollten oder irgendwas.«
»Da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen, Jensen«, sagte Scraggs und warf einen Blick zu der Vogelscheuche. »Sie erwarten nicht ernsthaft, dass ich Ihnen das glaube? Es muss einen Grund geben, warum man Sie hierhergebracht hat. Sie haben etwas herausgefunden, und ich schätze, es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Informationen mit uns Kollegen teilen. Wenn Sie hier gestorben wären, wenn diese beiden Schläger Sie umgelegt hätten, dann wären sämtliche Informationen, die Sie über unseren Serienkiller erlangt haben, verloren gewesen. Also, erzählen Sie mir endlich, was Sie herausgefunden haben, bevor ich die Geduld verliere?«
Jensen war unbeeindruckt von den Einschüchterungsversuchen des anderen. Er hatte etwas entdeckt – etwas, das seine Aufmerksamkeit weit stärker fesselte als die verzweifelten Bemühungen des Lieutenants.
»Scraggs …«
»Was denn, Jensen?«
»Passen Sie auf!«
»Was? Aaarrrghhh!«
Scraggs reagierte nicht schnell genug auf die Warnung von Jensen. Die Vogelscheuche war im Bruchteil einer Sekunde über ihm. Sie explodierte förmlich aus ihrer kauernden, zusammengesunkenen Position in der Schubkarre und rammte ihr ungezieferverseuchtes Strohgesicht in das des Lieutenants. Sie schlang die Arme um seinen Hals und raubte ihm den Halt und das Gleichgewicht. Er segelte mit der Vogelscheuche, die wie ein billiger Anzug an ihm klebte, schreiend und wild um sich schlagend von seiner erhöhten Position auf den Strohballen hinter Jensen zu Boden, während er sich zugleich verzweifelt bemühte, den rudernden Gliedmaßen seines Angreifers zu entgehen. Das Gesicht der Vogelscheuche war in seiner Halsbeuge und verursachte ein furchtbares Kitzeln und Jucken auf der weichen Haut unter dem Kinn.
In seinem Entsetzen hatte Scraggs die Pistole fallen lassen. Nach mehreren Sekunden, die er sich von einer Seite zur anderen gerollt hatte, um den teuflischen Strohmann daran zu hindern, ihn zu beißen oder zu kratzen, gelang es Scraggs schließlich, das Wesen von sich zu schieben und sich zur anderen Seite davonzurollen, doch dabei prallte er gegen einen weiteren Stapel Strohballen, der wankte und über ihm zusammenstürzte. Ein großer Ballen krachte ihm direkt gegen die Stirn. Dann folgte der schmerzvollste Augenblick von allen. Das verrückte Gackern. Scraggs erkannte es auf der Stelle wieder. Archibald Somers! Er hatte eines von diesen unglaublich irritierenden Lachen, und nun lachte er laut und aus vollem Herzen.
Scraggs stieß die Heuballen beiseite und setzte sich auf. Die Vogelscheuche lag an der Stelle reglos auf dem Gesicht, wo er sie im Verlauf des Kampfes hingeschleudert hatte. Jensen war an der gleichen Stelle wie vorher, gefesselt auf einem Strohballen sitzend. Vor ihm und umrissen vom Mondlicht, das durch das Tor in die Scheune flutete, stand Detective Archibald Somers.
»Scraggs, Sie sind wirklich ein richtiges Arschloch«, spottete Somers. »Mein Partner sitzt gefesselt im Dunkeln und wird zum Sterben in der Scheune zurückgelassen, und Sie, Sie dämliches Arschloch, haben nichts anderes im Kopf, als ein Verhör anzufangen! Sie haben nur Scheiße im Kopf anstatt eines Gehirns!«
»Sie dämlicher Volltrottel, Somers!«, bellte Scraggs, während er sich vom Boden aufrappelte. Er war wütend wegen der Demütigung, die er soeben erlitten hatte. Somers war offensichtlich hinter ihm in die Scheune geschlichen und hatte ihm die Vogelscheuche übergeworfen, als er nicht aufgepasst hatte. Dieser Bastard!
»Sie sind selbst der Volltrottel, Scraggs«, entgegnete Somers selbstzufrieden. »Was ich mit Ihnen gemacht habe, ist bei Weitem nicht so schlimm wie das, was Sie mit Jensen angestellt haben. Jetzt binden Sie Jensen los, bevor ich diesen Flüchtling aus dem Zauberer von Oz erneut auf Sie hetze!«
Der geknickte, betretene Lieutenant Paolo Scraggs tat zögernd, wie von ihm verlangt. Er ließ sich Zeit dabei und zog ein gewisses Vergnügen daraus, das Klebeband von Jensens Haut zu reißen in dem Wissen, dass es dem Detective wehtun würde.
»Danke, Somers«, sagte ein unendlich erleichterter Jensen, als schließlich die letzten Fesseln gefallen waren. »Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«
Er begann sich die Handgelenke zu reiben, dann öffnete und schloss er die Hände mehrfach, um die Steifheit und den Schmerz aus den Fingern zu vertreiben.
»Nun, ich muss schon sagen, Partner – es war nicht einfach. Aber dann hat dieser Clown dort«, er deutete auf Lieutenant Scraggs, »dieser unendlich beschränkte Verlierer und Schwachkopf die allgemeine Polizeifrequenz benutzt, um den Captain anzurufen und ihm zu berichten, dass er jetzt außerhalb der Scheune war – und zu fragen, ob er hineingehen sollte.«
»Ist das so?«, fragte Jensen an Scraggs gewandt. »Wie lange haben Sie vor der Scheune gewartet, bevor Sie den Mumm beisammen hatten, hereinzukommen und mich zu holen, Sie verdammtes Arschloch?«
Scraggs wich zurück und blickte sich suchend nach der Pistole um, die er hatte fallen lassen.
»Hören Sie, ich hab nur Befehle befolgt, okay?«, sagte er dümmlich. »Ich wusste nicht, dass Sie in Schwierigkeiten stecken!«
»Ein schöner Lieutenant sind Sie!«, murmelte Somers. »Kommen Sie, Jensen, verschwinden wir von hier. Ich denke, wir können beide eine Mütze Schlaf vertragen. Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns, und es gibt Gerüchte, dass Bourbon Kid in einer Bar namens Nightjar aufgetaucht ist.«
»Tatsächlich? Hat er schon jemanden umgebracht?«
»Ein paar Leute. Ich erzähle Ihnen alles Weitere unterwegs.«
»Was ist mit Annabel de Frugyn?«, fragte Jensen, während er aufstand und sich die wunden Handgelenke rieb.
»Komisch, dass Sie fragen. Ich habe selbst einen verdammt beschissenen Abend hinter mir, mit einer einzigen guten Neuigkeit: Ich hab ein Alias von Annabel de Frugyn herausgefunden. Sie ist in der Gegend bekannt als die ›Mystische Lady‹.«
»Die ›Mystische Lady‹? Was ist sie? Eine Wahrsagerin oder was?«
»Exakt.«
»Und? Taugt sie was?«
»Absolut nichts. Sie würde nicht mal dann sehen, dass Weihnachten vor der Tür steht, wenn sie mit dem Weihnachtsmann im Bett aufwachte.«