Zweiundsechzig
Somers und Jensen saßen in dem neu zugeteilten Streifenwagen des älteren Detectives und jagten über die Hauptstraße im Zentrum von Santa Mondega, als eine knackende Stimme im Lautsprecher erklang. Es war die Information, auf die sie gewartet hatten.
»Der gesuchte gelbe Cadillac wurde vor dem County Motel auf der Gordon Street gesichtet«, sagte die Stimme.
»Wir sind auf dem Weg, danke«, sagte Somers in das Mikrofon, das er in einer Hand hielt, während er den Wagen mit der anderen lenkte. Er hatte noch nie etwas am Hut gehabt mit den dämlichen Kodes im Polizeifunk.
»Glauben Sie, Bourbon Kid ist noch dort?«, fragte Jensen auf dem Beifahrersitz.
»Keine Ahnung. Aber es besteht eine gute Chance, dass das Auge des Mondes dort ist, und zumindest kriege ich meinen Wagen zurück. Und vielleicht erwische ich sogar den Hurensohn, der die Karre geklaut hat.«
Plötzlich kurbelte er wild am Lenkrad, und sie bogen nach links in eine Seitenstraße ein, ohne ihre Fahrt zu verlangsamen. Rechts und links parkten Fahrzeuge am Straßenrand. Somers trat das Gaspedal durch und jagte rücksichtslos mitten über die Straße. Glücklicherweise war niemand so dumm, sie ausgerechnet in jenem Augenblick überqueren zu wollen.
Es dauerte nicht viel länger als zehn Minuten, das County Motel zu erreichen. Somers raste durch zahllose Seitenstraßen und Gassen, wobei er unterwegs wegen des Gegenverkehrs oder eines sorglosen Fußgängers mehrmals heftig ins Schleudern geriet.
Das County Motel war ein schmuckloses, heruntergekommenes Etablissement mit dreißig Zimmern entlang dem Highway, der aus Santa Mondega heraus nach Westen führte. Es war eine gute Station für Neuankömmlinge, die ihre erste Nacht in der Stadt verbrachten. Die Zimmer waren billig, die Parkplätze waren umsonst.
Die Parkplätze waren nur zur Hälfte belegt, als sie dort eintrafen. Die meisten Fahrzeuge waren Pick-up-Trucks oder Kombis. Nirgendwo eine Spur von einem Cadillac gleich welcher Farbe, und ganz gewiss keine von einem gelben. Somers parkte den Streifenwagen auf dem mittleren von drei freien Parkplätzen keine zwanzig Meter links vom Haupteingang entfernt. Auf einem mutwillig beschädigten Schild über der Tür stand:
WILLKOMMEN IM C UNTY MOTEL.
Unter dem Schild führte eine einzelne Treppenstufe aus Beton zu einer gläsernen Doppeltür mit einem hässlichen limettengrünen Rahmen.
»Ich gehe zur Rezeption«, sagte Somers und öffnete die Fahrertür. »Sie warten hier und drücken auf die Hupe, wenn Sie irgendwas sehen.«
»Wird gemacht«, antwortete Jensen und nahm sein Mobiltelefon aus der Tasche, während sein Partner aus dem Wagen stieg.
Somers eilte durch die Glastür ins Innere des Gebäudes, während Jensen sein Mobiltelefon einschaltete. Es war ausgeschaltet gewesen, seit Somers ihn in der vorangegangenen Nacht aus der Scheune – und möglicherweise vor der Vogelscheuche – gerettet hatte. Innerhalb weniger Sekunden nach dem Einschalten gab das Mobiltelefon eine Serie von Pieptönen von sich, und auf dem Display erschien eine Textzeile:
1 neue Nachricht.
Nach einem wilden und extrem leidenschaftlichen Beischlaf, der sehr entspannend sowohl auf Dante als auch auf Kacy wirkte, hatten sie sich angezogen und aus dem Motel ausgecheckt. Seitdem sie sich von ihm aus der Wäsche hatte reden lassen, vermochten sich beide nicht mehr recht zu erinnern, warum sie so verzweifelt aus der Stadt flüchten wollten. Sicher, die Polizei würde nach ihnen suchen, doch angesichts der Anzahl von Leichen an diesem Tag würde die Polizei buchstäblich Hunderten von Spuren nachgehen müssen, bevor sie die Zeit fand, sich um das junge Liebespaar zu kümmern.
Sie hatten ihre restlichen Besitztümer eingepackt und frische Kleidung angezogen, ohne dabei auch nur einen Bruchteil der Aufregung zu spüren wie vor ihrem sexuellen Zwischenspiel. Dante trug nun die Bluejeans, die Kacy ihm zugeworfen hatte, zusammen mit einem untadeligen roten, kurzärmeligen Hawaiihemd über einem sauberen weißen Unterhemd. Kacy hatte einen hellblauen Minirock angezogen und blaue hochhackige Schuhe. Ihre Garderobe wurde vervollständigt durch ein reizvolles, tief ausgeschnittenes weißes T-Shirt mit dem Bild eines 1966er Thunderbird, der über den Rand des Grand Canyon segelte.
Nachdem sie den gelben Cadillac auf den hinteren Parkplatz gefahren hatten, kehrten sie zur Vorderseite des Motels zurück. Dante hatte einen Arm um Kacys Schulter geschlungen. Nach allem, was sie in den letzten paar Tagen gemeinsam durchgemacht hatten, war sein Beschützerinstinkt ihr gegenüber stärker als je zuvor erwacht. Sie war wichtiger für ihn als alles andere auf der Welt, und so behielt er sie dicht bei sich in der verbleibenden Zeit in Santa Mondega.
Die beiden waren sehr entspannt und voller Zuversicht, als sie in der Rezeption erschienen, um ihre Rechnung zu begleichen. In einem Versuch, diskret zu erscheinen, trugen beide Sonnenbrillen, um wenigstens einen Teil ihrer Gesichter zu verdecken. Kacy trug Dantes Terminator-Brille und er eine Fliegerbrille, die er einem der Toten in der Tapioca Bar abgenommen hatte. Er hatte nicht die geringsten Schuldgefühle deswegen. Der Typ war schließlich tot gewesen.
Carlos, der Manager des Motels, saß mit hochgelegten Beinen hinter dem Empfangsschalter und las in einer Ausgabe des Empire Magazine. Obwohl Dante und Kacy gekommen waren, um ihre Rechnung zu begleichen, und Geld in seine Kasse bringen würden, reagierte er ungehalten angesichts der Störung, während er las. Er war ein kleiner Hispano mit Büscheln von dichtem schwarzen Haar um die Ohren herum und wenig bis gar keinem auf dem Kopf. Dies glich er aus durch einen extrem dicken schwarzen Schnurrbart, der unter seiner großen Nase wucherte und sich über die Mundwinkel nach unten zog.
In der Lobby hing ein so schwacher wie unangenehmer Gestank. Ob er von dem schmutzigen, kastanienbraunen Teppichboden herrührte, der verwitterten braunen Tapete, Carlos oder einer Kombination aller drei Faktoren war schwer zu sagen. Es war eine kleine, beengte Rezeption, kaum größer als das Zimmer, in dem Kacy und Dante gewohnt hatten. Es gab nur ein Fenster in der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Ecke. Es war klein und schmal, und der zerbrochene Griff stellte sicher, dass es nicht zum Lüften geöffnet werden konnte.
»Yo, Carlos, Mann. Wir wollen zahlen«, sagte Dante munter und warf dem Manager über den Tresen hinweg die Schlüssel zu. Sie trafen das Magazin und prallten zu Boden. Missmutig legte Carlos seine Zeitschrift beiseite und bückte sich nach den Schlüsseln. »Was ist das?«, fragte er misstrauisch und hielt sie hoch.
Am Schlüsselring befand sich der Schlüssel des Motelzimmers, aber auch ein Wagenschlüssel, den er nicht kannte. Er fingerte ihn frei von dem schweren Metallschild mit der Zimmernummer und dem Zimmerschlüssel und hielt ihn hoch.
»Das ist ein Dankeschön dafür, dass du uns hier hast wohnen lassen«, sagte Dante und grinste.
»Was zum Teufel ist das?«
»Wirf einen Blick durch das hintere Fenster«, empfahl Dante und nickte in Richtung des kleinen schmalen Fensters in der Ecke.
Carlos erhob sich aus seinem Sessel und musterte Dante mit einem gemeinen Blick, dann lächelte er Kacy zu und zwinkerte. Er ging zum Fenster und sah nach draußen. Vielleicht zwanzig Meter entfernt auf dem privaten Parkplatz hinter dem Motel stand der gelbe Cadillac, den er am Abend zuvor vor einem der Motelzimmer gesehen hatte. Da war es der einzige Wagen auf dem Parkplatz gewesen.
»Du schenkst mir den Wagen?«
»Jepp.«
»Wo ist der Haken? Ist die Karre geklaut?«
»Wo denkst du hin! Nichts dergleichen«, warf Kacy mit breitem Lächeln ein.
»Allerdings wäre es keine schlechte Idee, ihn umlackieren zu lassen«, empfahl Dante.
Carlos nahm sich ein paar Sekunden, um über das Angebot nachzudenken.
»Und vielleicht sollte ich auch die Nummernschilder austauschen?«
»Vielleicht«, stimmte Dante zu.
Carlos kehrte hinter den Empfangsschalter zurück und setzte sich wieder. Er blätterte durch das Gästebuch und schlug eine Seite mit einer Liste von Namen auf. Auf halber Höhe standen Dantes und Kacys Einträge mit ihren Unterschriften.
»Das Zimmer kostet hundertfünfzig Dollar«, sagte er und blickte hart in Dantes Sonnenbrille.
»Ich sag dir was.« Dante beugte sich über den Tresen und näherte sich Carlos’ Gesicht. »Was hältst du davon, wenn du uns das Zimmer umsonst lässt, als Dankeschön für den Wagen, den ich dir gerade geschenkt habe?«
Carlos klappte das Gästebuch zu und nahm sein Magazin zur Hand, um den Artikel aufzuschlagen, in dem er eben gelesen hatte.
»Sicher«, sagte er. »Und die Seite im Gästebuch mit euren Namen und Unterschriften willst du auch, richtig? Quasi als Erinnerung an euren Aufenthalt hier in Santa Mondega?«
»Äh, offen gestanden … na ja, es ist eine ziemlich gute Idee …«, sagte Dante. »Danke, Mann.«
»Das macht dann hundertfünfzig Dollar.«
Dantes Geduld näherte sich dem Ende.
»Hör zu, du dämlicher, unverschämter Halsabschneider«, schnaubte er wütend. »Ich hab dir gerade einen verdammten Wagen geschenkt! Treib es nicht auf die Spitze, hörst du?«
»Das Zimmer kostet einhundertfünfzig Dollar. Wenn dir das nicht passt, weißt du ja, was du tun kannst.«
Kacy spürte den Drang einzuschreiten, bevor Dante sie in mehr Schwierigkeiten brachte als nötig. Sie sprang mit einem breiten, strahlenden Lächeln vor und legte die Hände auf Carlos’ Schalter, dann beugte sie sich vor und zeigte ein wenig von ihrem Ausschnitt, während sie mit den Oberarmen ihre Brüste ein wenig zusammenquetschte. Ihr einladender Gesichtsausdruck sagte Hey, das sind meine Titten. Sie könnten dir gehören … für eine Weile.
»Weißt du was, Carlos? Was sagst du dazu, wenn du uns ein Taxi rufst, während wir das Geld für dich zusammensuchen?«
»Sicher«, erwiderte Carlos, während er wie gebannt und mit einem schiefen Grinsen im Gesicht in Kacys Ausschnitt starrte. »Allerdings ist der Anruf nicht umsonst. Die Gebühr beträgt fünf Dollar.«
»Fick dich ins Knie, du dämliches Arschloch!«, brauste Dante auf. »Ich rufe mir selbst ein beschissenes Taxi! Los, Kacy, verschwinden wir von hier!«
»Dante, bitte gib ihm das Geld. Mach es einfach, okay? Es würde mein Gewissen beruhigen.«
Dante stand im Begriff zu antworten, als ein silberhaariger Mann in einem grauen Trenchcoat den Empfangsraum betrat. Carlos erkannte den Besucher sofort und begrüßte ihn freundlich.
»Guten Tag, Detective Somers!«, rief er ihm gut gelaunt zu, als wäre er erfreut, ihn zu sehen.
»Hallo Carlos«, antwortete Somers ernst.
Der Detective trat vor den Empfangsschalter und stellte sich neben Kacy. Er lächelte sie flüchtig an. »Hallo Miss. Hätten Sie was dagegen, wenn ich mich kurz vordränge? Es ist eine polizeiliche Angelegenheit.« Er hielt ihr sein Abzeichen hin.
»O nein, nur zu«, antwortete Kacy nervös.
Sie betete, dass Dante den Mund hielt. Vielleicht war es bereits zu spät. Er hatte Carlos verärgert, und jetzt stand ein Detective direkt neben ihm.
»Carlos«, begann Somers mit einem schwachen Lächeln und schob dem Manager über den Tresen hinweg eine Zwanzig-Dollar-Note zu. Carlos steckte sie flink ein. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass jemand hier wohnt, der einen gelben Cadillac fährt. Dieser Cadillac wurde gestohlen, und der Besitzer, ein Mann des Gesetzes – der rein zufällig ich bin! –, will ihn zurück. Er will außerdem den Namen des Fahrers wissen, falls du ihn gerade zur Hand hast. Wäre wirklich schön, wenn du mir helfen könntest, mein Freund.«
Kacy beobachtete, wie Carlos die Situation abschätzte.
Warum nur, o warum nur musste Dante ihn gegen sich aufbringen? Jetzt stecken wir schon wieder in Schwierigkeiten!
Sie wich einen Schritt vom Empfangsschalter zurück und versuchte, Blickkontakt mit ihrem Freund herzustellen. Wegen der dunklen Fliegerbrille konnte sie nicht sagen, ob er sie überhaupt ansah. Sie musste handeln, so viel stand fest. Falls Carlos ihre Namen verriet, würden sie ins Gefängnis wandern. Der Koffer voller Geld, der gestohlene Wagen und wahrscheinlich die Augenzeugen aus der Tapioca Bar würden dafür sorgen, dass sie ins Gefängnis kämen und wieder arm wären. Ganz zu schweigen von der Gefahr, die auf sie wartete. Kacy vertraute niemandem in dieser Stadt, nicht einmal der Polizei. Ganz besonders nicht der Polizei, auch wenn der alte Bursche eigentlich ganz in Ordnung aussah.
Carlos rieb sich das Kinn, während er über seine Antwort auf die Frage des Detectives nachdachte und zur gleichen Zeit rasch die Zwanzig-Dollar-Note einsteckte.
»Ja, da war jemand mit einem gelben Cadillac im Motel. Ich erinnere mich an den Kerl, der ihn gefahren hat. Ein richtiges Arschloch war das. Warten Sie, ich sehe nach, ob ich den Namen in meinem Gästebuch habe.« Einmal mehr legte er sein Magazin beiseite und blätterte suchend in dem Register, das aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag.
Dante wich einen Schritt vom Schalter zurück. »Weißt du was, Carlos?«, sagte er freundlich und reckte sich, als wäre er müde. »Wir kommen einfach später noch mal wieder. Danke erst mal.«
»Sie brauchen nicht wegzulaufen«, sagte Somers und packte Dante am Arm. »Ich brauche nur eine Minute. So lange können Sie und Ihre hübsche Lady doch wohl warten, oder nicht?«
»Ja«, sagte Carlos grinsend, ohne von seinem Gästebuch aufzublicken. »Ihr könnt ruhig warten. Es dauert nur einen Augenblick. Sobald ich diesem Officer die Informationen gegeben habe, die er sucht, habe ich Zeit für euch, keine Sorge.«
Er blätterte einmal mehr durch die Seiten des Gästebuches und blieb bei der Seite mit den Namen von Dante und Kacy stehen. Als er mit dem Finger die Liste entlangfuhr, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass sich Kacy ein wenig vom Schalter entfernte. Er setzte sich zurück und blickte auf, zuerst zu Somers, dann, als würde er angestrengt nachdenken, zur Seite und zu Kacy. Er trommelte mit den Fingern auf die aufgeschlagene Seite des Gästebuchs.
»Was ist denn?«, fragte Somers.
»Ich versuche mich an etwas zu erinnern, das ist alles«, antwortete Carlos und hob eine Hand, um dem Detective zu signalisieren, dass er sich noch ein paar Sekunden gedulden sollte. Er blickte völlig geistesabwesend drein, als versuchte er angestrengt nachzudenken.
Tatsächlich jedoch starrte er Kacy an. So, wie Somers und Dante am Empfangsschalter standen, konnten sie nicht sehen, was Carlos sah. Kacy hatte sich aus dem Sichtwinkel der beiden entfernt und ihr T-Shirt angehoben – und seinen früheren Verdacht bestätigt, dass sie darunter keinen Büstenhalter trug. Carlos starrte zufrieden auf ihre prachtvollen Brüste und bewunderte die kecken Nippel, während er so tat, als wäre er tief in Gedanken versunken. Schließlich, nach einer befriedigend langen Zeitspanne, zog Kacy das T-Shirt wieder herunter, und Carlos erwachte aus seiner Trance.
»Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte er und richtete den Blick auf Detective Somers. »Der Typ mit dem Cadillac war ein gewisser Pedro Valente.« Er zeigte auf den Namen im Gästebuch. »Er ist vor vielleicht zwanzig Minuten abgereist. Vielleicht holen Sie ihn noch ein; er hat gesagt, dass er die Stadt verlassen will.«
»Haben Sie vielleicht die Adresse von ihm?«, fragte Somers.
»Ich fürchte nein. Er gehörte nicht zu der Sorte von Leuten, die eine Adresse angeben, und ganz sicher nicht zu der Sorte, die ich deswegen belästigen würde, wenn Sie verstehen.«
»Okay«, sagte Somers, trat vom Tresen zurück und sah Kacy an. »Ich komme vielleicht noch einmal zurück, wenn ich diesen Kerl nicht finde. Danke für Ihre Hilfe, Carlos. Und noch mal Verzeihung, dass ich mich einfach vorgedrängt habe, Miss.«
Nachdem er Kacy sekundenlang bewundert hatte – Was für eine erstaunliche Schönheit, dachte er –, wandte er sich zu Dante um und äußerte seine Anerkennung.
»Sie sind ein richtiger Glückspilz«, sagte er. »Passen Sie gut auf Ihre Freundin auf, Sir.«
»Das mache ich immer.«
»Gut.«
Somers ging an Kacy vorbei und zwinkerte ihr ein letztes Mal zu, dann verließ er den Empfangsraum in Richtung Ausgang und des im Wagen wartenden Miles Jensen.
Dante griff in die Tasche und zückte etwas mehr als zweihundert Dollar. Er warf das Geld über den Tresen zu Carlos.
»Danke, Mann. Ich bin dir was schuldig.«
Carlos schüttelte den Kopf.
»Behalt das Geld«, sagte er lächelnd. »Ich rufe euch auch das Taxi umsonst, und wenn du willst, könnt ihr die Seite aus dem Gästebuch mitnehmen, für den Fall, dass die Bullen noch mal zurückkommen. Das eben war nur ein dummer Witz.«
»Wow! Danke, Mann!«, sagte Dante und nahm das Geld zurück, das Carlos ihm entgegenhielt. Er drehte sich zu Kacy um und zuckte die Achseln, um ihr zu zeigen, wie sprachlos er war angesichts des plötzlichen Meinungsumschwungs bei dem zuvor wenig zugänglichen Hotelmanager.
Kacy erwiderte sein sprachloses Achselzucken. Sie wusste selbstverständlich ganz genau, was hinter Carlos’ plötzlicher Großzügigkeit steckte, doch sie behielt es für sich. Dante war nach außen hin tapfer und mutig und immer auf der Suche nach einem Grund, sie zu beschützen. Wenn er auch nur geahnt hätte, was sie alles tat, um ihn zu schützen.
Als Somers im Motel verschwand, betätigte Jensen mit dem Daumen die ENTER-Taste seines Mobiltelefons, um die neue Nachricht abzuhören. Zu seiner Überraschung stammte die Nachricht von Lieutenant Paolo Scraggs.
»Hey, Jensen, hören Sie, ich bin’s, Lieutenant Scraggs. Hören Sie gut zu, Mann, ich habe dieses Buch gefunden, nach dem Sie gesucht haben. Wenn Somers in Ihrer Nähe ist, bringen Sie sich in Sicherheit, so schnell Sie können! Ich denke, er ist der Killer, den Sie jagen. Diese ganze Bourbon-Kid-Geschichte ist nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver … oder so … ich bin nicht sicher. Rufen Sie mich oder den Captain an, sobald Sie können, aber reden Sie auf gar keinen Fall mit Somers, hören Sie? Ich habe ein Bild von ihm in diesem Buch gefunden. Da steht, er wäre der Dunkle Lord oder irgend so ein Scheiß. Rufen Sie mich zurück, Mann.«
Jensen saß sekundenlang da und dachte mit gerunzelter Stirn nach, während er die Nachricht in Gedanken noch einmal ablaufen ließ. Somers der Killer? Das war unmöglich … oder doch nicht? Warum sollte Scraggs lügen? Scraggs mochte Somers nicht, aber Somers mochte Scraggs ebenfalls nicht. Und … Moment, war es nicht Somers gewesen, der vergangene Nacht gekommen war, um Jensen zu retten, als Scraggs in der Scheune aufgetaucht war? Mehr noch … Somers war zu spät gekommen, weil sein gelber Cadillac geklaut worden war. Was, wenn er vor Scraggs in der Scheune eingetroffen wäre? Und wo er schon dabei war – hatte Carlito nicht sein Handy für ein paar Minuten mit nach draußen genommen, als Jensen gefesselt in der Scheune gesessen hatte? Was, wenn er es benutzt hatte, um einen Anruf zu tätigen? Jensen blätterte durch die Menüs seines Mobiltelefons. Da war sie, die Anrufliste. Abgehende Gespräche – Gestern – Somers – 23:52 Uhr – Dauer 1:47 Minuten.
Carlito hatte Jensens Mobiltelefon benutzt, um Somers anzurufen, während Jensen zusammen mit Miguel in der Scheune zurückgeblieben war. Nachdem Carlito mit Somers geredet hatte, war er mit der Vogelscheuche in der Schubkarre zurückgekommen. Somers hatte den Anruf von Carlito mit keinem Wort erwähnt. SCHEISSE !
Die Tastatur seines Handys war Jensen noch nie so winzig erschienen. Er drückte wenigstens dreimal die falsche Taste in seinen hektischen Bemühungen, Lieutenant Scraggs zurückzurufen. Er musste unbedingt mit dem Lieutenant reden, bevor Somers aus dem Motel zurückkam.
»Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.«
Das ist nicht lustig, dachte Jensen. Spielt dieser Scraggs mir vielleicht einen Streich oder was? Nein, unmöglich. Das würde Carlitos Anruf bei Somers von meinem Handy aus nicht erklären. Und … ah, wo wir gerade von Somers reden … da kommt er.
Somers wirkte ein wenig gereizt, als er vor dem Wagen vorbei und zur Fahrerseite ging. Jensen überlegte kurz, ob er die Tür von innen verriegeln sollte.
Nicht nötig. Somers ahnt nicht, dass ich mit ziemlicher Sicherheit weiß, wer der Killer ist. Ich hab Zeit zum Nachdenken. Also denk nach, Miles Jensen … denk nach, verdammt!
Somers öffnete die Wagentür, stieg ein und klemmte sich hinter das Lenkrad. »Alles okay?«, fragte er, als er die Bemühungen seines Partners bemerkte, ruhig zu wirken.
»Ja, sicher«, antwortete Jensen. »Und selbst?«
»Alles bestens. Allerdings hab ich nicht viel in Erfahrung gebracht da drin.« Er deutete mit dem Daumen zum Motel, dann musterte er seinen Partner eingehend. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja, ja«, antwortete Jensen ungeduldig. »Ich bin nur sauer, wissen Sie? Ich denke, wir haben unsere Chance verpasst. Wir sollten uns vielleicht beim Captain melden. Vielleicht hat er etwas in Erfahrung gebracht?«
Somers Blick fiel auf Jensens rechte Hand, die immer noch das Mobiltelefon umklammerte. Dann sah er auf und blickte ihm in die Augen. Jensen konnte die Angst tief in seinem Innern nicht verbergen.
»Du weißt alles, oder?«, fragte Somers leise, und seine Lippen bewegten sich kaum.
»Was weiß ich?«
Eine grauenvolle Pause entstand, und in diesem Augenblick wurde Jensen klar, dass Scraggs’ Warnung echt gewesen war. Somers war der Killer. Und nun wusste Somers, dass er es wusste. Ihre Freundschaft zählte überhaupt nichts. Die Zeit war abgelaufen. Somers zwang sich zu einem entschuldigenden Lächeln.
»Tut mir leid, Jensen«, sagte er. »Es ist nichts Persönliches, aber ich brauche das Auge des Mondes.«
»Die Sonnenfinsternis ist vorbei. Sie haben sie verpasst.«
»Das weiß ich selbst. Aber der Stein ist zu sehr viel mehr in der Lage, als nur den Mond anzuhalten. Er kann meine Jungs zu mir zurückbringen. Und meine Frau. Dieser Stein kann sie in null Komma nichts in ihre frühere Gestalt bringen. Wenn dieser elende Bourbon Kid nicht alle erschossen hätte, müsste ich das hier nicht tun. Es tut mir leid, mein Freund.«
Klick. Das Zentralverriegelungssystem des Streifenwagens machte Jensen zu einem Gefangenen. Nicht, dass er aus dieser Situation hätte entfliehen können, ganz gleich, was er unternommen hätte. Nicht ohne ein größeres Wunder.
Jensen betrachtete Somers’ Finger, die auf dem Lenkrad ruhten. Sie schienen länger zu werden, ganz allmählich. Seine Fingernägel ebenfalls. Sie wurden länger, dicker, spitzer. In tiefstem Entsetzen sah er, dass sich auch das Gesicht seines Partners veränderte. Blaue Adern erschienen unter der Haut, zuerst an seinem Hals, dann auf den Wangen, und sie traten deutlich hervor. Sie waren hungrig, und sie mussten mit Blut versorgt werden. Mit dem Blut von Miles Jensen. Somers drehte den Kopf zu seinem Partner und öffnete den Mund. Darin kamen riesige gelbe Fänge zum Vorschein, so groß, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie Somers imstande gewesen war, den Mund zu schließen. Es waren gezackte, rasiermesserscharfe Raubtierzähne. Ein fauliger Gestank erhob sich im Wagen. Zu spät fuchtelte Jensen nach seiner Pistole.
»Vielleicht sollten Sie die Augen schließen, mein Freund«, sagte Somers mit einer fauchenden Stimme, die aus den tiefsten Tiefen der Hölle zu entstammen schien. »Das wird jetzt weh tun …«