Acht
Archibald Somers sah ganz genauso aus, wie Jensen sich das ausgemalt hatte. Er war Ende vierzig, vielleicht Anfang fünfzig, und er sah aus wie der Moderator einer billigen Spielshow im Fernsehen. Zurückgegelte graue Haare, schicke graue Hosen mit messerscharfen Bügelfalten und ein weißes Hemd mit senkrecht verlaufenden schmalen braunen Streifen. In einem Schulterhalfter auf der linken Seite seines Brustkorbs baumelte eine Pistole. Für einen Mann seines Alters war er in einigermaßen guter Form. Kein unansehnlicher Bierbauch, keine bis unter die Achselhöhlen hochgezogenen Hosen. Jensen hoffte, in diesem Alter noch genauso in Form zu sein. Für den Moment jedoch war er Anfang dreißig und extrem fit und zufrieden damit.
Das Büro, das er sich mit Somers teilte, befand sich versteckt in einem dunklen Korridor im dritten Stock des Hauptquartiers. Sämtliche anderen Zimmer entlang dem Korridor besaßen ungefähr die gleiche Größe. Eines war ein Besenschrank, ein weiteres ein Erste-Hilfe-Raum, und dann gab es noch die Toiletten. Jensen wusste nicht zu sagen, welche Funktion ihr Raum gehabt hatte, ehe er zu dem Büro geworden war, das er sich nun mit Somers teilte, und er wollte es auch gar nicht wissen. Nichts Glamouröses, so viel war sicher. Der Raum verfügte dennoch über einen gewissen Charakter – die dunkle, mit Firniss überzogene Holztür und die antiken Schreibtische verliehen ihm entschieden mehr Charme als die abgeteilten Nischen draußen im Großraumbüro. Es waren die gefängnisgrünen Wände, die den ansonsten positiven Eindruck zerstörten.
Somers war irgendwann gegen Mittag im Büro aufgetaucht. Jensen hatte bis zu diesem Zeitpunkt bereits herausgefunden, dass der große Schreibtisch mitten im Zentrum ihres frisch umgebauten Büros Somers gehörte, also hatte er sich den kleineren in der Ecke genommen, wo das Licht schlecht war, und angefangen, seine wenigen persönlichen Sachen auszupacken und zu verstauen.
»Sie müssen Detective Somers sein!«, sagte er. »Erfreut, Sie kennenzulernen.« Er erhob sich und streckte dem anderen Mann, der das Büro betreten hatte, die Hand entgegen.
»Miles Jensen, richtig?«, antwortete Somers, ergriff seine Hand und schüttelte sie fest. »Sie sind mein neuer Partner, wie?«
»Das ist richtig.« Jensen lächelte. Bis jetzt machte Somers gar keinen schlechten Eindruck.
»Alle haben Ihnen erzählt, ich wäre ein Arschloch, richtig?«, fragte Somers und umrundete seinen großen Schreibtisch.
»Es wurde erwähnt, ja.«
»Sicher. Man mag mich nicht besonders. Ich gehöre zur ›Alten Schule‹, verstehen Sie? Die meisten der anderen Jungs da draußen haben nichts als ihre Karriere und die nächste Beförderung im Sinn. Sie geben einen Dreck auf die alten Ladys, die von irgendwelchen Trickbetrügern ausgenommen werden. Sie interessieren sich nur für Fälle, die sich schnell lösen und zu den Akten legen lassen. Sie wussten wahrscheinlich, dass diese Stadt die höchste Quote von Vermissten in der gesamten zivilisierten Welt aufweist, richtig?«
Jensen nickte grinsend, in der Hoffnung, dass Somers nicht jeden Satz mit »Richtig?« beenden würde. »Richtig. Obwohl ich nicht wusste, dass Santa Mondega zur zivilisierten Welt gerechnet wird.«
»Da sagen Sie was, mein Freund.«
Jensen nahm auf dem Drehsessel an seinem Schreibtisch Platz. Nach seinem ersten Eindruck hatte er das Gefühl, als würde er prima mit Somers zurechtkommen. Doch das war natürlich nur ein erster Eindruck.
»So … man hat mir erzählt, Sie wären besessen davon, Bourbon Kid aufzuspüren. Warum habe ich das Gefühl, als würden alle Sie dafür hassen?«
Somers lächelte. »Das ist nicht der Grund, warum sie mich hassen. Sie hassen mich, weil ich es so will. Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ärgern. Keiner von ihnen wollte mir je helfen bei irgendeinem Fall, der sich nicht innerhalb einer Woche lösen ließ. Deswegen wurde der Fall Bourbon Kid geschlossen. Ich war der Einzige, der noch daran gearbeitet hat. Es gelang ihnen, mich loszuwerden, weil das Budget nicht erlaubte, weiter in diesem Fall zu ermitteln angesichts der Möglichkeit, dass der Bourbon Kid bereits tot war. Nun ja, jetzt bereuen sie es, richtig? Ich habe den Bürgermeister gleich gewarnt, dass Bourbon Kid zurückkommen würde, aber er hat nicht auf mich gehört, sondern auf all die anderen Idioten.«
»Also ist der Bürgermeister an allem schuld?«
»Nein.« Somers schüttelte den Kopf. »Der Bürgermeister ist im Grunde genommen einer von den guten Jungs, aber er hatte eine Menge Berater, die wollten, dass Bourbon Kid so schnell wie möglich in Vergessenheit gerät. Sie haben sich keinen Deut um all die Frauen geschert, die von diesem Bastard zu Witwen gemacht wurden. Abgesehen davon war er nie wirklich weg. Er hat Menschen umgebracht, an jedem einzelnen Tag in den vergangenen fünf Jahren, doch er hat ihre Leichen bis heute immer verschwinden lassen. Erst jetzt lässt er wieder zu, dass wir sie finden. Er bereitet ein weiteres Massaker vor, ganz ohne Zweifel. Sie und ich, Jensen, sind die Einzigen, die das verhindern können.«
»Sie wissen, dass ich nicht wegen Bourbon Kid hier bin, oder?«, fragte Jensen in der Hoffnung, dass er Somers damit nicht beleidigte. Der Detective war eindeutig leidenschaftlich, wenn es um seine Arbeit ging.
»Ich weiß, warum Sie hier sind«, sagte Somers breit grinsend. »Sie denken, dass bei den Morden übernatürliche Kräfte am Werk seien, und vermuten dahinter wahrscheinlich eine Art Satanskult. Ich will nicht lügen, Kumpel. Ich denke, das ist wahrscheinlich ein Haufen Blödsinn, aber solange Sie auf meiner Seite stehen und solange Ihre Ermittlungen helfen zu beweisen, dass Bourbon Kid diese Morde begeht und nicht Jar Jar Binks, solange haben wir kein Problem.«
Vielleicht war Somers eine Spur zu zynisch und ein klein wenig zu sehr fixiert auf seine eine und einzige Theorie, dass Bourbon Kid hinter mehr oder weniger jedem Verbrechen in dieser Stadt stand, doch er war bei Weitem nicht das absolute Arschloch, als das man ihn Jensen gegenüber dargestellt hatte. Mit einem gewissen Maß an Diplomatie war es sicher durchaus möglich, diesen zynischen alten Cop auf seine Seite zu ziehen, wo er sehr nützlich sein konnte. An Motivation schien es ihm nicht zu mangeln.
»Jar Jar Binks, wie? Sind Sie Kinofan?«
»Liebhaber.«
»Irgendwie sehe ich Sie nicht als Fan von Krieg der Sterne.«
Somers strich sich mit den Fingern durch die glänzenden grauen Haare und atmete tief durch.
»Bin ich offen gestanden auch nicht. Ich ziehe Filme vor, die mein Gehirn stimulieren und etwas für die Augen bieten, und ich schätze gute Schauspielerei. Die Hälfte der Top-Schauspieler dieser Tage werden nur wegen ihres Aussehens beschäftigt, nicht wegen ihrer Fähigkeiten. Deswegen verschwinden die meisten mit fünfunddreißig wieder in der Versenkung.«
»Ah. Dann mögen Sie also Pacino und de Niro?«
Somers schüttelte den Kopf und seufzte. »Mitnichten. Die beiden sind eindimensionale Typen und leben vom Ruhm der Siebziger- und Achtziger-Gangsterfilme, in denen sie geglänzt haben.«
»Sie nehmen mich auf den Arm, wie?«
»Nein. Ich ziehe nur Typen wie Jack Nicholson vor. Das ist ein Schauspieler, der jede Rolle in jedem Film übernehmen kann! Wenn Sie mich mit Ihren Filmkenntnissen beeindrucken wollen, Jensen, dann beantworten Sie mir doch folgende Frage«, sagte er und hob eine nicholsoneske Augenbraue. »Regisseure, die Scott-Brüder. Ridley oder Tony?«
»Keine Frage, Tony, unbesehen.« Jensen zögerte nicht mit einer Antwort. »Sicher, Ridley hatte ein paar starke Auftritte mit Blade Runner und Alien, aber Staatsfeind Nummer Eins und Crimson Tide lassen sich nicht einfach abtun. Es sind gute, intelligente Filme.«
»In denen der Held ein Schwarzer ist, wie?« Somers hatte angenommen, einen wunden Punkt zu berühren, doch die Bemerkung prallte von Jensen ab.
»Zugegeben, aber das ist nicht der Grund, warum ich sie mag. Tony hat auch bei True Romance Regie geführt, und das war ein guter Film ohne schwarzen Helden.«
»Zugegeben«, räumte Somers seufzend ein. »Ich ziehe trotzdem Ridley vor, wegen der Tatsache, dass Tony verantwortlich ist für diese Schwachsinns-Fernsehserie The Hunger. Wahrscheinlich der schlechteste Vampirfilm, den ich je gesehen habe.«
»Okay, es ist nicht The Lost Boys.«
»Verdammt richtig, ist es nicht!«, sagte Somers. Er wurde der Diskussion allmählich müde, deswegen fuhr er fort: »Okay, suchen wir etwas, worin wir beide übereinstimmen, und dann können Sie meinetwegen jedem erzählen, wir hätten uns verbrüdert. Hier ist eine ganze einfache Frage. Freddie Prinze Junior oder Robert Redford?«
»Redford.«
»Danke. Jetzt, nachdem wir eine Gemeinsamkeit gefunden haben – haben wir eine Abmachung, Partner?«
»Eine Abmachung? Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, ich nehme all Ihre übernatürlichen Theorien mit an Bord und helfe Ihnen, wo ich kann, und Sie tun das Gleiche für mich. Sie akzeptieren meine Bourbon Kid-Theorie, und wir nehmen uns gegenseitig ernst. Gott weiß, niemand sonst in diesem Police Department tut es!«
»Also abgemacht, Detective Somers.«
»Gut. Möchten Sie sehen, was Bourbon Kid mit diesen fünf neuen Opfern angestellt hat?«
Miles Jensen nickte. »Raus damit.«
Somers öffnete die Schreibtischschublade zu seiner Linken und zog einen durchsichtigen Plastikhefter hervor. Er schlug ihn auf und warf eine Anzahl Fotografien im Postkartenformat auf den Tisch. Jensen erhob sich, nahm den ersten glänzenden Abzug und starrte das Bild an. Was er dort sah, entsetzte ihn. Er war nicht sicher, ob er seinen Augen traute. Nach einigen Sekunden wandte er sich den übrigen Fotos auf dem Tisch zu. Als er alle begutachtet hatte, blickte er zu Somers auf, der nickte. Die Bilder waren schlimmer als alles, was Miles Jensen je gesehen hatte, und er hatte schon einige wirklich schlimme Dinge gesehen.
»Sind diese Aufnahmen echt?«, fragte er leise.
»Ich weiß, was Sie denken«, antwortete Somers. »Wie krank muss so ein Bastard sein, um einem anderen menschlichen Wesen so etwas anzutun?«