PROLOG

Der junge Mann verharrte auf den Stufen, bis sich seine Augen an die dunklen Schatten gewöhnt hatten. Im Licht der Fackeln, das auf dem Wasser tanzte, wirkten die Gänge der großen Zisterne wie eine versunkene Kathedrale. Nur die oberen Enden der Säulen, auf denen das Deckengewölbe ruhte, waren sichtbar. Außer dem Echo von Tropfen, die irgendwo in der Ferne fielen, hörte man keinen Laut.

Einige Fuß unter ihm stand Bessarion auf der steinernen Plattform dicht am Wasser. Im flackernden Licht der Fackeln war zu erkennen, dass er gut aussah und schwarzes gewelltes Haar hatte. Er schien von der nahezu überirdischen Gelassenheit einer Ikone zu sein und keinerlei Angst zu haben. War sein Glaube wirklich so unerschütterlich?

Der junge Mann fror. Sein Herz schlug heftig, seine Hände waren steif vor Kälte. Gab es denn nicht doch noch eine Möglichkeit, von dem Vorhaben abzulassen? Obwohl er sämtliche Argumente mehrfach durchdacht hatte, war er nach wie vor nicht bereit und würde es auch nie sein. Doch es blieb keine Zeit mehr. Schon am nächsten Vormittag wäre es zu spät.

Er tat einen weiteren Schritt nach unten. Bessarion wandte sich um. Einen flüchtigen Augenblick lang legte sich der Ausdruck banger Besorgnis auf seine Züge, doch als er den Näherkommenden erkannte, gewann er sogleich seine Fassung zurück. »Was gibt es?«, fragte er mit leichter Schärfe in der Stimme.

»Ich muss mit dir sprechen.« Er stieg die Stufen bis zum Rand des Wassers hinunter und blieb wenige Schritte von Bessarion entfernt stehen. Er zitterte. Seine Hände waren kalt und feucht. Er hätte allen Besitz darum gegeben, nicht tun zu müssen, was es hier zu tun galt.

»Worüber?«, fragte Bessarion ungehalten. »Alles ist, wie es sein soll. Was gibt es da noch zu besprechen?«

» Wir können es nicht tun«, sagte er schlicht.

»Hast du etwa Angst?« Bessarions Gesichtsausdruck ließ sich im flackernden Licht nicht deuten, doch die Festigkeit in seiner Stimme schien absolut. Waren seine Selbstsicherheit und sein Glaube so unerschütterlich, dass er nie schwankte?

»Das hat mit Angst nichts zu tun«, gab der junge Mann zurück. »Angst lässt sich mit heißem Blut besiegen. Aber sofern unser Vorhaben falsch ist, gibt es keine Rechtfertigung dafür.«

» Von falsch kann keine Rede sein«, erklärte Bessarion mit Nachdruck. »Wir verhindern mit einer entschlossenen, raschen Tat das langsame Versinken in geistige Barbarei und den Verfall unseres Glaubens. Darüber haben wir doch schon geredet.«

»Ich spreche nicht von der moralischen Seite. Mir ist durchaus klar, dass es mitunter nötig sein kann, einen zu opfern, um viele zu retten.« Er setzte zu einem Lachen an, brach dann aber ab. Ob Bessarion ahnte, welche Ironie in diesen Worten lag? »Ich gebe zu bedenken, dass wir die Dinge möglicherweise falsch einschätzen.« Er sagte das ungern. »Michael ist der richtige Mann – du bist es nicht. Wenn wir überleben wollen, sind wir auf seine Fähigkeiten angewiesen, auf seine Gerissenheit und seine Begabung, günstige Abkommen zu treffen, sich anderer zu bedienen, um unsere Feinde gegeneinander aufzuhetzen.«

Bessarion war wie vor den Kopf geschlagen. Das ließ sich sogar in den tanzenden Schatten auf seinen Zügen und an der Art erkennen, wie er den Kopf hielt.

» Verräter! «, stieß er ungläubig hervor. »Und was ist mit der Kirche? Würdest du auch Gott verraten?«

Die Dinge standen so schlimm, wie der junge Mann befürchtet hatte. Warum hatte er das nicht schon früher erkannt? Seine Zuversicht hatte ihn für diese Möglichkeit blind gemacht, und jetzt blieb ihm keine Wahl. Er selbst eignete sich nicht zur Führerschaft.

Seine Stimme zitterte. » Wir werden die Kirche nicht retten, wenn die Stadt fällt, aber genau dazu würde es kommen, wenn wir morgen unseren Plan ausführten.«

»Judas!«, stieß Bessarion voll Bitterkeit hervor. Er holte wütend aus und strauchelte, als er keinen Widerstand fand.

Es war entsetzlich. Es war, als wenn er sich selbst tötete – doch die Alternative war unvorstellbar schlimmer. Dem jungen Mann blieb keine Zeit nachzudenken. Während ihm die Übelkeit aus dem Magen in die Kehle stieg, stürmte er mit aller Kraft gegen Bessarion an, so dass dieser mit einem überraschten Aufschrei ins Wasser fiel. Der junge Mann sprang ihm nach, nutzte Bessarions Benommenheit und drückte dessen Kopf mit beiden Händen so kräftig er konnte in das kalte, klare Wasser.

Bessarion wehrte sich, versuchte nach oben zu kommen, konnte aber ohne Boden unter den Füßen nichts gegen den Sehnigeren und Stärkeren ausrichten, zumal dieser fest entschlossen war, für das, woran er glaubte, alles zu opfern.

Allmählich erstarben die Geräusche des Wassers, und die Stille der Schatten jenseits der Gänge gewann die Oberhand.

Der junge Mann hockte sich auf die Steine. Er fror, ihm war übel. Aber noch war seine Aufgabe nicht beendet. Er zwang sich aufzustehen. Mit Gliedern, die so sehr schmerzten, als habe man ihn durchgeprügelt, stieg er über die Stufen nach oben. Tränen liefen ihm über das Gesicht.

Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
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