KAPİTEL 70

Palombara traf nur einen Tag nach Vicenze in Rom ein. Zwar war die Überfahrt in jeder Hinsicht gut verlaufen, doch hatte ihm das Bewusstsein der Niederlage jede Freude daran vergällt. Er war in Ostia an Land gegangen und hatte schon nach kurzer Rückfrage erfahren, dass ihm sein Amtsbruder um vierundzwanzig Stunden zuvorgekommen war.

Der Papst hatte bereits die Kardinäle versammelt, als Palombara hereinkam, nach wie vor in seinen durchgeschwitzten und von Staub bedeckten Reisekleidern. In diesem Aufzug hätte man ihm wohl zu jeder anderen Zeit den Zutritt zu den Privatgemächern des Papstes verweigert, doch jetzt lag eine so starke Erregung in der Luft wie vor einem Sommergewitter. Alle redeten durcheinander, Blicke gingen hin und her, und bei Palombaras Anblick legte sich ein Lächeln auf die Züge der Anwesenden. Bildete er sich nur ein, dass man über ihn spottete, oder verhielt es sich tatsächlich so?

Eine geöffnete Kiste stand mitten im Raum; nur ein Tuch bedeckte noch die Ikone der Heiligen Jungfrau, die Kaiser Michael bei der Rückkehr seines Volks in die Heimat mit sich geführt hatte.

Vicenze hielt sich ein wenig abseits. Auf seinem Gesicht lag unverhüllter Triumph, seine blassen Augen leuchteten im Bewusstsein seines Sieges. Nach einem kurzen Blick zu Palombara wandte er sich gleich wieder ab, als sei dieser völlig unbedeutend, ein Mann, der ab sofort nicht mehr zählte.

Auf ein Zeichen Vicenzes hin trat ein Diener vor und griff nach dem schützenden Tuch. Man hörte nicht den geringsten Laut, keines der schweren Gewänder raschelte, kein Fuß rührte sich. Selbst der Papst schien den Atem anzuhalten.

Jetzt nahm der Mann das Tuch ab.

Der Papst und die Kardinäle beugten sich gespannt vor. Es herrschte absolute Stille.

Palombara sah hin, kniff die Augen zusammen und sah erneut hin. Grundgütiger! Was er da sah, waren nicht die Gesichtszüge der Muttergottes, sondern eine mit großer Detailfreude und Genauigkeit gemalte Darstellung von viel nacktem Fleisch. Die in der Bildmitte lächelnde Gestalt schien alles andere als eine Jungfrau zu sein. Sie war von so offenkundiger Weiblichkeit, dass sich bei ihrem Anblick der Puls beschleunigte, das Blut heiß und voll Begierde in die Adern schoss. Eine ihrer üppigen Brüste hatte sie entblößt und ihre schmale Hand auf die unbekleidete Lende des Mannes gelegt, der neben ihr stand.

Einer der Kardinäle konnte sich nicht länger beherrschen, platzte vor Lachen heraus und versuchte das sogleich mit einem vorgetäuschten Hustenanfall zu überdecken.

Das Gesicht des Papstes war scharlachrot angelaufen, wofür es mehr als einen Grund geben konnte.

Mehrere Kardinäle räusperten sich, einer stieß ein angewidertes Schnauben aus, dann lachte ein anderer ungehemmt laut heraus.

Vicenze war bis an die Haarwurzeln erbleicht. Seine Augen schienen wie von Fieber zu glänzen.

Eine ganze Weile bemühte sich Palombara, seinen Lachreiz zu unterdrücken, doch es misslang ihm. Die Situation war einfach zu köstlich. Ihm kam zu Bewusstsein, dass er in jemandes Schuld stand, ohne sie je begleichen zu können.



Palombara blieb keine Wahl – dem Ruf des Heiligen Vaters musste man Folge leisten. Als er vor Papst Nikolaus stand, sagte dieser mit undurchdringlicher Miene: »Ich erwarte eine Erklärung von Euch, Enrico.« Seine Stimme zitterte, ohne dass Palombara hätte sagen können, ob vor Wut oder vor unterdrücktem Gelächter.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen, und so begann er ehrerbietig: »Es war mir gelungen, den Kaiser dazu zu bringen, dass er Euch die Ikone der Jungfrau nach Rom schickt. Man hat sie in das Haus gebracht, das Vicenze und ich für unseren Aufenthalt in Konstantinopel gemietet haben, und dort vor unseren Augen ausgepackt. Es handelte sich ganz eindeutig um ein sehr schönes Bildnis der Muttergottes. Dann hat man sie vor unseren Augen wieder eingepackt und zum Versand bereitgemacht. «

»Was Ihr da sagt, nützt mir nichts«, sagte Papst Nikolaus trocken. »Wer hat sie beschafft? Ihr?«

»Ja, Eure Heiligkeit.«

»Und was ist mit Vicenze? Sagt mir nicht, dass es sich bei diesem Streich um seine Rache für Euren Erfolg handelt. Unmöglich kann er sich selbst einen solchen Tort angetan haben. Euch muss klar sein, dass ihm Hohn und Spott aller bis ins Grab folgen werden.« Er beugte sich vor. »Das sieht mir eher nach einem Spaß aus, den Ihr Euch gemacht habt, Enrico. Ich bin aber bereit, Euch zu verzeihen …« Sein Mundwinkel zuckte kaum wahrnehmbar, und es gelang ihm, das Lachen zu unterdrücken. »Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Ihr mir so bald wie möglich die Ikone der Jungfrau übergebt. Natürlich ohne jedes Aufsehen.«

Auch wenn Papst Nikolaus nicht den unerschütterlichen Glauben und die Erleuchtung besitzen mochte, die nötig waren, um die Christenheit zu führen, besaß er fraglos einen ausgeprägten Humor. Diese Gabe genügte in Palombaras Augen, um so gut wie jede seiner Schwächen zu entschuldigen.

»Befindet sie sich noch in Konstantinopel?«, fragte der Papst.

»Das weiß ich nicht, Eure Heiligkeit, aber ich bezweifle es. Ich denke nicht, dass Kaiser Michael falsches Spiel mit uns getrieben hat.«

»So? Nun, dann will ich mich Eurer Meinung anschließen«, sagte der Papst nachdenklich. »Ihr seid ein Zyniker. Da Ihr selbst andere Menschen manipuliert, rechnet Ihr damit, dass diese Euch ebenso behandeln.« Er hob die Brauen. »Seht nicht so zerknirscht drein! Wo also ist die Ikone, und wer könnte sie haben? Ich möchte es nur wissen, wenn es Euch nicht peinlich ist, es mir mitzuteilen.«

»Ich habe die Vermutung, dass sie sich in Venedig befinden könnte«, gab Palombara zurück. »Der Kapitän, der Vicenze und das Bild nach Rom gebracht hat, war ein Venezianer – Giuliano Dandolo.«

»So, so. Ich habe von ihm gehört. Ein Nachfahre des großen Dogen«, sagte der Papst. »Das ist ja wirklich interessant. « Er lächelte. »Bei Eurer Rückkehr nach Konstantinopel werdet Ihr ein Handschreiben von mir mitnehmen, in dem ich Kaiser Michael nicht nur für das Geschenk danke, mit dem er die Union stärkt, sondern ihm auch versichere, dass sich Rom in allen Punkten buchstabengetreu an das Abkommen halten wird.« Er sah Palombara unverwandt an. »Vicenze wird Euch begleiten.«

Diese Vorstellung entsetzte Palombara sichtlich. Papst Nikolaus beschloss, das zu übersehen. »Ich möchte ihn nicht hier in Rom haben. Mir ist klar, dass auch Ihr ihn ungern in Eurer Nähe wisst, aber ich bin der Papst, Enrico, und nicht Ihr – zumindest noch nicht. Nehmt ihn also mit. In Byzanz gibt es noch Arbeit für Euch. Der König beider Sizilien ist zum Kreuzzug entschlossen, und wenn er erst einmal seine Flotte in Bewegung gesetzt hat, gibt es keine Möglichkeit mehr, ihm in den Arm zu fallen. Vielleicht findet Ihr in Byzanz jemanden, der imstande ist, ihn aufzuhalten. Gott sei mit Euch.«

Palombara blieb nichts anderes übrig, als es dem Papst zu überlassen, die Ikone zurückzugewinnen. Sofern Dandolo auch nur einen Funken Verstand hatte, würde er sie ohne das geringste Zögern herausrücken. Immerhin besaß Venedig weiß Gott eine Fülle von Heiligenbildern – und ganz davon abgesehen war es nicht ungefährlich, den Papst und damit die Kirche zu bestehlen.

Ohnehin bestand die Möglichkeit, dass Dandolo sie dem Heiligen Vater von sich aus mit irgendeiner fadenscheinigen Erklärung über die Art gab, wie sie in seinen Besitz gelangt war. Vermutlich war Papst Nikolaus geneigt, ihm zu vergeben und so zu tun, als glaube er ihm, ganz gleich, was für eine Geschichte ihm Dandolo auftischen würde.

Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
titlepage.xhtml
e9783641055592_toc01.html
e9783641055592_ded01.html
e9783641055592_fm01.html
e9783641055592_fm02.html
e9783641055592_c01.html
e9783641055592_c02.html
e9783641055592_c03.html
e9783641055592_c04.html
e9783641055592_c05.html
e9783641055592_c06.html
e9783641055592_c07.html
e9783641055592_c08.html
e9783641055592_c09.html
e9783641055592_c10.html
e9783641055592_c11.html
e9783641055592_c12.html
e9783641055592_c13.html
e9783641055592_c14.html
e9783641055592_c15.html
e9783641055592_c16.html
e9783641055592_c17.html
e9783641055592_c18.html
e9783641055592_c19.html
e9783641055592_c20.html
e9783641055592_c21.html
e9783641055592_c22.html
e9783641055592_c23.html
e9783641055592_c24.html
e9783641055592_c25.html
e9783641055592_c26.html
e9783641055592_c27.html
e9783641055592_c28.html
e9783641055592_c29.html
e9783641055592_c30.html
e9783641055592_c31.html
e9783641055592_c32.html
e9783641055592_c33.html
e9783641055592_c34.html
e9783641055592_c35.html
e9783641055592_c36.html
e9783641055592_c37.html
e9783641055592_c38.html
e9783641055592_c39.html
e9783641055592_c40.html
e9783641055592_c41.html
e9783641055592_c42.html
e9783641055592_c43.html
e9783641055592_c44.html
e9783641055592_c45.html
e9783641055592_c46.html
e9783641055592_c47.html
e9783641055592_c48.html
e9783641055592_c49.html
e9783641055592_c50.html
e9783641055592_c51.html
e9783641055592_c52.html
e9783641055592_c53.html
e9783641055592_c54.html
e9783641055592_c55.html
e9783641055592_c56.html
e9783641055592_c57.html
e9783641055592_c58.html
e9783641055592_c59.html
e9783641055592_c60.html
e9783641055592_c61.html
e9783641055592_c62.html
e9783641055592_c63.html
e9783641055592_c64.html
e9783641055592_c65.html
e9783641055592_c66.html
e9783641055592_c67.html
e9783641055592_c68.html
e9783641055592_c69.html
e9783641055592_c70.html
e9783641055592_c71.html
e9783641055592_c72.html
e9783641055592_c73.html
e9783641055592_c74.html
e9783641055592_c75.html
e9783641055592_c76.html
e9783641055592_c77.html
e9783641055592_c78.html
e9783641055592_c79.html
e9783641055592_c80.html
e9783641055592_c81.html
e9783641055592_c82.html
e9783641055592_c83.html
e9783641055592_c84.html
e9783641055592_c85.html
e9783641055592_c86.html
e9783641055592_c87.html
e9783641055592_c88.html
e9783641055592_c89.html
e9783641055592_c90.html
e9783641055592_c91.html
e9783641055592_c92.html
e9783641055592_c93.html
e9783641055592_c94.html
e9783641055592_c95.html
e9783641055592_c96.html
e9783641055592_c97.html
e9783641055592_cop01.html