KAPİTEL 32
Helena hatte ein nicht besonders schweres, wohl aber peinliches Leiden, und so ließ sie es lieber von Anna behandeln als von dem Arzt, den sie gewöhnlich hinzuzog.
Es war um die Mitte des Nachmittags, und Simonis weckte Anna, die sich, von der Behandlung der Verstümmelten und Sterbenden erschöpft, zu einem kurzen Erholungsschlaf hingelegt hatte. Als sie erfuhr, dass Helena nach ihr geschickt hatte, wollte sie zuerst ablehnen. Wie konnte sie ein leichtes Hautjucken behandeln, während Männer zu Tode gefoltert wurden?
»Ich weiß, dass Ihr müde seid, denn Ihr habt seit Wochen nicht richtig geschlafen«, sagte Simonis, »aber Helena Komnena ist Bessarions Witwe«, fügte sie mit mahnendem Blick hinzu. Mit Nachdruck und einem Anflug von Furcht in der Stimme fuhr sie fort: »Ihr könnt es Euch unmöglich leisten, nicht zu ihr zu gehen. Sie hat Ioustinianos gekannt.« Nach kurzem Zögern ergänzte sie: »Und seine Freunde.« Es war Anna klar, was sie damit meinte.
Helena empfing Anna in einem luxuriös neu hergerichteten Raum neben
ihrem Schlafzimmer. Die Wandgemälde waren gewagter, als Bessarion
gewünscht hätte. Anna bemühte sich, nicht zu lächeln.
Helena trug eine lose sitzende Tunika. Ihr Arm wies eine hässliche Rötung auf. Anfangs wirkte Helena ängstlich und behandelte Anna höflich, doch als die Kräuter zu wirken begannen, wich ihre Sorge, und ihr üblicher Hochmut brach durch.
»Es schmerzt immer noch«, sagte sie schroff und entzog Anna ihren Arm.
»Das wird es noch eine ganze Weile tun«, teilte sie ihr mit. »Ihr müsst die Salbe darauflassen und den Kräuterabsud mindestens zweimal am Tag trinken.«
»Er schmeckt ekelhaft!«, gab Helena mit gekräuselter Lippe zurück. »Habt Ihr nichts, was nicht so schmeckt, als wolltet Ihr mich vergiften?«
»Falls das meine Absicht wäre, würde ich es mit Honig vermengen«, gab Anna mit leisem Lächeln zurück.
Helena erbleichte. Während Anna den Blick abwandte und Helenas Gewänder losließ, so dass sie ihre Blöße bedeckten, fragte sie sich, warum Helena ohne erkennbaren Anlass von Gift gesprochen hatte.
»Wisst Ihr überhaupt, was Ihr tut?«, fuhr Helena sie an.
Anna beschloss, das Wagnis einzugehen. »Sofern Ihr Euch in dieser Hinsicht Sorgen macht, kennt Ihr gewiss andere Ärzte, die Euch gefälliger sind. Ich bin sicher, dass Eurer Mutter sogar noch mehr bekannt sind.«
Helenas harte Augen blitzten, ihre Wangen röteten sich, und sie schluckte. »Es tut mir leid, ich habe übereilt gesprochen. Eure Fähigkeiten sind durchaus zufriedenstellend. Ich bin nur nicht an Schmerzen gewöhnt.«
Anna hielt den Blick gesenkt, damit ihre Patientin die Verachtung in ihren Augen nicht sah. »Es ist gut, dass Ihr Euch Sorgen macht. Wenn man derlei nicht rasch behandelt, kann es sich tatsächlich zu einer ernsthaften Krankheit entwickeln.«
Helena sog hörbar die Luft ein. »Wirklich? Und wie schnell geht das?«
Anna hatte die Gefahr bewusst übertrieben dargestellt. »Ich habe hier ein weiteres Mittel, das Euch helfen wird, doch wenn Ihr wollt, bleibe ich gern eine Weile bei Euch, damit ich Euch das Gegenmittel geben kann, falls es eine unerwünschte Wirkung haben sollte.« Das stand in keiner Weise zu befürchten, aber es würde Zeit brauchen, die Themen anzusprechen, über die sie mehr zu erfahren wünschte.
Helena schluckte. »Was für eine Wirkung? Könnte es mich krank machen?«
»Es könnte Euch schwächen«, gab Anna zurück, um nicht unnötig zu dramatisieren, »und vielleicht ein leichtes Fieber verursachen. Das geht aber rasch vorüber, wenn ich Euch das Gegenmittel gebe. Ihr dürft es nur nicht nehmen, wenn es nicht nötig ist. Ich bleibe gern hier.«
»Und verlangt zweifellos mehr Geld dafür«, fuhr Helena sie an.
»Gewiss, für das Mittel, aber nicht für meine Zeit.«
Nach kurzem Überlegen nahm Helena das Angebot an. Anna vermengte einige Kräuter und ließ sie in heißem Wasser ziehen. Sie wirkten entspannend und würden gut für die Verdauung sein. Sie beschwichtigte ihr Gewissen damit, dass sie sich sagte, das Mittel würde zwar nichts nützen, aber auch auf keinen Fall schaden.
Helena folgte Annas Blicken, die auf den erotischen Wandbildern ruhten. »Gefallen Sie Euch?«
»Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
»Und in der Wirklichkeit wohl auch nicht«, bemerkte Helena hämisch.
Anna hätte ihr gern gesagt, dass sie einst Patientinnen in einem Bordell behandelt und so manches in der Richtung gesehen hatte, doch war ihr klar, dass sie sich das nicht leisten konnte. »Nein«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne.
Helena lachte.
Die Dienerin kehrte mit dem Absud in einem Glas zurück.
Helena nahm kleine Schlucke davon. »Es schmeckt sauer«, sagte sie und sah Anna über den Rand des Glases hinweg an.
Anna durfte nicht länger zögern. »Ihr müsst Euch mehr um Eure Gesundheit kümmern«, sagte sie, um einen besorgten Gesichtsausdruck bemüht. »Ihr habt viel gelitten.« Während sie das sagte, ging ihr auf, dass das möglicherweise sogar der Wahrheit entsprach.
Helena versuchte ihre Überraschung zu verbergen, was ihr aber nicht vollständig gelang. »Man hat meinen Gemahl ermordet. Darüber kommt man nicht ohne weiteres hinweg.«
Anna war sich bewusst, dass Helena möglicherweise in den Mord verwickelt war, doch verbarg sie ihren Abscheu hinter einer besorgten Miene. »Als besonders verwerflich daran habt Ihr wohl angesehen, dass ihn Männer getötet haben, die Ihr für seine und Eure Freunde gehalten habt.«
»Ja.«
»Das tut mir leid«, murmelte Anna. »Es muss für Euch grauenhaft gewesen sein.«
»Das war es, und zwar so grauenhaft, dass Ihr es Euch nicht vorstellen könnt.« Bei diesen Worten legte sich ein Schatten auf Helenas Züge. Er mochte Geringschätzung ausdrücken, ging aber vielleicht auch nur auf das Zucken der Flamme zurück. »Wisst Ihr, dass mich Ioustinianos geliebt hat?«
Anna musste schlucken. »Wirklich? Mir hatte man gesagt, dass es Antonios war. Aber eventuell habe ich das falsch verstanden. Ohnehin sind das bloße Gerüchte.«
Ohne sich zu rühren, erklärte Helena: »Nein, Antonios hat mich vielleicht bewundert, doch das ist nicht dasselbe wie Liebe, oder?«
»Ich weiß nicht«, log Anna.
Mit einem Lächeln fuhr Helena fort: »Liebe ist wie ein unbezwingbarer Hunger. Für den Fall, dass Ihr nicht wisst, was ich meine«, fügte sie hinzu, wobei sie sich umwandte und Anna von Kopf bis Fuß musterte, »das war eine Beschönigung für Begierde, Anastasios.«
Anna senkte den Blick, um zu verhindern, dass Helena in ihren Augen lesen konnte.
»Bringe ich Euch damit in Verlegenheit?«, fragte Helena mit unverkennbarem Vergnügen.
Anna sehnte sich danach, es ihr heimzuzahlen, ihr entgegenzuschleudern, dass das nicht der Fall war und sie sich vor ihrer Gier, ihren Lügen und dem Versuch ekelte, sich anderer Menschen zu bedienen. Aber das war unmöglich.
»Aha«, sagte Helena zufrieden. »Es ist Euch unangenehm. Ihr habt Antonios nicht gekannt. Er sah recht gut aus«, fuhr sie fort, »aber ihm fehlte die Wesenstiefe, die Ioustinianos auszeichnete. Ein in hohem Maße außergewöhnlicher Mensch …«
»Waren die beiden Freunde?«
»Ja. Aber Antonios trank und spielte, er liebte Gesellschaften, Pferde und so weiter. Er war mit Andronikos befreundet, dem Sohn des Kaisers – wenn auch wohl nicht so eng wie Esaias. Zwar war Ioustinianos ebenfalls ein glänzender Reiter, war aber klüger als er und hat viel gelesen, sich mehr für geistige Dinge interessiert. Er hatte eine Ader für Architektur, Mosaiken, Philosophie und alles Schöne.« Einen Augenblick lang trat der Ausdruck eines aufrichtigen tiefen Bedauerns auf ihr Gesicht.
Anna war gerührt, empfand Mitleid und eine solche Nähe, dass sie sich kurzzeitig in ihrem Kummer mit Helena eins fühlte.
Dann schlug die Stimmung um, bevor sie sich auf diesen plötzlichen Wechsel einstellen konnte.
»Ihr habt Recht«, sagte Helena mit belegter Stimme. »Ihr müsst Euch um mich kümmern. Ich habe weit mehr gelitten, als sich die meisten vorstellen können. Seht nicht so mutlos drein; Ihr seid ein guter Arzt.«
Mit Mühe gelang es Anna, in die Gegenwart zurückzukehren. »Ich wusste nicht, dass Ioustinianos Euch geliebt hat«, sagte sie und hörte, wie gekünstelt ihre Stimme klang. Sie erinnerte sich daran, wie Konstantinos’ gesagt hatte, Helenas Annäherungsversuche hätten Ioustinianos angewidert und er sei nicht darauf eingegangen. Das entsprach doch sicherlich der Wahrheit? »Ihr vermisst ihn wohl sehr?«, fragte sie.
»Gewiss«, gab Helena mit einem halb verkniffenen, halb strahlenden Lächeln zurück, das Anna nicht so recht zu deuten vermochte, doch war sie sicher, dass sich etwas dahinter verbarg. In Helenas Augen war Anna ein Eunuch und so etwas wie ein Diener – warum sollte sie etwas preisgeben, was sie nicht zu zeigen brauchte?
»Und sicher auch Euren Gatten«, fügte Anna hinzu.
Helena zuckte die Achseln. »Sein pausenloses Gerede über Religion und Politik hat mich angeödet. Die halbe Zeit hat er bei dem verdammten Bischof gehockt.«
»Konstantinos?«, fragte Anna überrascht.
»Wem sonst?«, blaffte Helena. Sie sah auf das Glas in ihrer Hand. »Das schmeckt zwar ekelhaft, aber es geht mir eigentlich ganz gut. Ihr braucht nicht länger zu bleiben. Kommt in drei Tagen wieder. Ich bezahle Euch dann.«
Drei Tage später war Anna noch nicht lange im Hause, als eine weitere Besucherin angekündigt wurde, Eulogia Mouzakios. Helena konnte nicht umhin, sie sogleich hereinzubitten, als sie wieder angekleidet war, auf die Gefahr hin, dass Eulogia die Anwesenheit des Arztes mitbekam. Es wäre gefährlich gewesen, sie annehmen zu lassen, ein anderer Besucher sei anwesend, von dem Helena nicht wollte, dass sie ihm begegnete.
»Sofern Ihr Euch erdreistet, ihr zu sagen, weshalb Ihr mich behandelt, werde ich Euch nie wieder rufen lassen«, herrschte Helena Anna an. »Habt Ihr das verstanden?«
»Sagt, dass Ihr Euch den Knöchel verstaucht habt«, riet Anna ihr. »Bestimmt riecht sie die Salbe. Ich werde Euch auf keinen Fall widersprechen.«
Ohne ihr zu antworten, ordnete Helena ihre Tunika.
Eulogia kam wenige Augenblicke später herein. Sie war eine elegante, blonde und schlanke Frau, eine halbe Handbreit größer als Helena. Ihr Gesicht kam Anna so bekannt vor, dass sie zusammenfuhr. Verzweifelt suchte sie in ihrem Gedächtnis, kam aber nicht darauf, wo sie ihr begegnet sein mochte.
Nachdem Helena die Besucherin begrüßt und deren Geschenk, in Honig eingelegte Früchte, entgegengenommen hatte, wies sie mit einem unendlich herablassenden Lächeln auf Anna und sagte: »Mein Arzt Anastasios.« Eulogia sollte sogleich begreifen, dass es sich um einen Eunuchen handelte, eine weibische, geschlechtslose Gestalt, die den Namen eines Mannes trug.
Einen Augenblick lang musterte Eulogia Anna, dann sah sie wieder Helena an und unterhielt sich so ungezwungen mit ihr, als sei außer ihnen beiden niemand anwesend.
Mit einem Mal fiel es Anna wie Schuppen von den Augen: Die Besucherin war Katharinas Schwester. Sie waren einander vor vielen Jahren mehrfach in Nikaia begegnet, als Katharina noch lebte. Kein Wunder, dass Eulogia anfangs angesichts der Züge, die wohl auch in ihr ungenaue Erinnerungen geweckt haben mochten, verwirrt gewesen zu sein schien.
Anna brach der Schweiß aus, und ihr Atem ging stoßweise. Ihre Hände zitterten. Sie musste sich unbedingt zusammennehmen; auf keinen Fall durfte Eulogia merken, dass sie Ioustinianos’ Schwester vor sich hatte.
Anna hatte die Medizin für Helena noch nicht zubereitet, und daher wäre es dieser sicherlich nicht recht gewesen, wenn sie einfach ging. Die Umstände hatten sie gleichsam zur Gefangenen gemacht.
Helena spürte Annas Unbehagen. Mit einem Lächeln wandte sie sich an Eulogia. »Es ist sehr freundlich von Euch, mich zu besuchen. Erfrischt Euch mit Wein und Feigen. Sie sind sehr gut, und da man sie rasch getrocknet hat, haben sie noch ihren vollen Geschmack.«
Sie gebot ihrer Dienerin, Erfrischungen und auch ein Glas für Anna zu bringen. Die Situation schien sie zu belustigen.
Anna überlegte, ob sie ablehnen sollte. Eulogia sah zu ihr herüber, erneut lag der unsichere Ausdruck auf ihrem Gesicht. Anna wagte nicht, Helena zu zeigen, dass es ihr Angst machte zu bleiben. »Danke«, nahm sie an und erwiderte das Lächeln. »Ich werde dann Eure … Kräuter zubereiten.«
»Salbe!«, stieß Helena hervor und errötete in dem Bewusstsein, dass sie einen Fehler begangen haben könnte. »Ich habe mir den Knöchel verstaucht«, sagte sie zu Eulogia.
Diese nickte und bedauerte sie. Sie setzten sich an einen Tisch, während Anna aus ihrer Tasche das Nötige zusammensuchte.
»Wie geht es Dimitrios?«, erkundigte sich Eulogia.
»Gut, nehme ich an«, sagte Helena. Wein, Feigen und Nüsse wurden gebracht. Sie goss drei Gläser voll, ohne allerdings Anna eines anzubieten.
»Man muss annehmen, dass Ioustinianos nicht zurückkommt«, bemerkte Eulogia mit einem Seitenblick auf Helena.
Diese bemühte sich, betrübt dreinzublicken. »Ja. Man ist allgemein der festen Überzeugung, dass er in den Mord an Bessarion verwickelt war. Natürlich stimmt das nicht!« Sie lächelte. »Wer auch immer der Täter war, hat es, wie Ihr wisst, davor schon einmal versucht, als Ioustinianos weit von hier in Bithynien war.«
Annas Hände erstarrten. Glücklicherweise saß sie mit dem Rücken zu den beiden, so dass sie ihr Gesicht nicht sehen konnten.
»Was, jemand hatte ihn umzubringen versucht?«, fragte Eulogia verblüfft. »Auf welche Weise denn?«
»Mit Gift. Ich habe keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte.« Helena biss in eine getrocknete Feige und kaute bedächtig. »Einige Monate darauf hat man ihn auf offener Straße angegriffen. Es sah zwar aus wie ein Raubüberfall, aber später hat er gesagt, er sei überzeugt, einer seiner eigenen Leute stecke dahinter. Allerdings hat Dimitrios mit Hilfe von guten Bekannten in der Waräger-Wache die Täter ermittelt, so dass das wenig wahrscheinlich ist.«
Eulogias Neugierde war noch nicht befriedigt. »Dimitrios Vatatzes hat gute Bekannte unter den Warägern? Wie interessant! Für den Abkömmling einer alten Kaiserfamilie ist das ungewöhnlich. Nun ja, seine Mutter Irene ist ja ebenfalls kein gewöhnlicher Mensch.«
Helena tat das mit einem Achselzucken ab. »Ich meine, er hätte das gesagt. Vielleicht habe ich mich auch geirrt.«
Eulogia ließ nicht locker. »Das ist ja entsetzlich. Warum hätte jemand Bessarion etwas antun sollen? Er war ein ausgesprochen edler Mensch.«
Helena verbarg ihre Anspannung. »Er hatte es beständig mit der Religion, und so nehme ich an, dass da ein Zusammenhang bestand. Natürlich haben er und Ioustinianos sich schrecklich darüber in den Haaren gelegen. Ich weiß von zwei solchen Gelegenheiten, und der Himmel weiß, warum Ioustinianos daraufhin zu Irene gegangen ist. Danach wurde Bessarion, wie du weißt, von Antonios umgebracht. Ich wäre nie im Leben darauf gekommen, dass Antonios so viel an der Religion lag. Schließlich war er ein Mann des Krieges.«
Anna wandte sich um, die Kräuter in der einen und einen kleinen Tiegel mit Salbe in der anderen Hand. Sie hielt Helena beides hin.
»Danke, Anastasios«, sagte Helena betont freundlich und sah sie an. »Ich bezahle Euch morgen, wenn ich nicht so viel zu tun habe.«
Am nächsten Tag kam Anna wieder, wie man es ihr gesagt hatte, um
ihr Geld zu holen.
Sie brauchte lediglich eine Viertelstunde in dem frisch hergerichteten Raum zu warten, womit ihr Helena den Eindruck vermittelte, willkommen zu sein. Mit schwingender Dalmatika kam sie Anna durch den Raum entgegen. Das dunkle Blau ihrer seidenen Gewänder stand ihr glänzend. Sie hatte kaum Schmuck angelegt, den sie Annas Ansicht nach bei ihrer hell leuchtenden Haut und ihrer Haarfülle auch gar nicht brauchte. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen Helena von vergleichbarer Schönheit wie ihre Mutter Zoe war.
»Danke, dass Ihr gekommen seid«, sagte sie mit Wärme in der Stimme. »Meinem Knöchel geht es schon viel besser. Ich werde Euch allen meinen Bekannten weiterempfehlen. « Dabei lächelte sie, ohne auf das Geld zu sprechen zu kommen.
»Danke«, sagte Anna überrascht.
»Sonderbar, dass Eulogia gerade gekommen ist, als Ihr hier wart«, fuhr Helena fort. »Wisst Ihr, dass zwischen ihr und Ioustinianos eine Verbindung bestand?«
Angespannt fragte Anna: »Inwiefern?«
»Er war früher einmal verheiratet«, sagte Helena in so herablassendem Ton, als spiele das nicht die geringste Rolle mehr. »Seine Frau ist gestorben. Sie war Eulogias Schwester. « Bei diesen Worten ließ sie Annas Gesicht nicht aus den Augen.
Anna saß reglos da. Sie fühlte sich unbehaglich. Sie wusste nicht, was sie mit ihren Händen tun sollte. Sie kamen ihr unförmig vor, waren ihr im Weg. Sie schluckte. »Ach, tatsächlich? « Sie versuchte, es unbeteiligt klingen zu lassen.
Helena nahm ein herrliches mit Edelsteinen und Perlen besetztes Silberkästchen vom Tisch. Unwillkürlich sah Anna hin.
»Gefällt es Euch?«, fragte Helena und hielt es ihr vor die Augen.
»Es ist sehr schön«, sagte Anna aufrichtig.
Helena lächelte. »Ein Geschenk Ioustinianos’. Vermutlich ein wenig leichtsinnig, aber er hat mich nun einmal geliebt, wie Ihr ja bereits wisst.« Sie sagte das in befriedigtem Ton und sah Anna unter ihren Wimpern hervor an. »Bessarion hat mir nur wenig geschenkt, woran ich mich erinnern kann. Wenn er etwas für mich ausgesucht hat, waren es Bücher oder Ikonen; natürlich düstere, sehr ernste.« Sie sah erneut zu Anna hin. »Wisst Ihr eigentlich, dass Ioustinianos ein fröhlicher Gesellschafter war? Bei ihm wusste man nie, womit er als Nächstes ankam. Er war stets voller Überraschungen. So etwas gefällt mir.«
Annas Unbehagen nahm zu. Warum erzählte ihr Helena all das? Nach allem, was sie von Bischof Konstantinos gehört hatte, war das ein Lügengewebe. Helena war eine schöne und zutiefst sinnliche Frau, aber Ioustinianos musste doch das Abstoßende an ihrem Wesen erkannt haben, wenn nicht gleich, dann recht bald. Helena drehte das Kästchen in ihren Händen hin und her, wobei die Perlen im Lichtschein schimmerten. Warum mochte Ioustinianos so viel für diese Frau ausgegeben haben? Oder war auch das eine Lüge?
Helena beobachtete sie. »Mögt Ihr schöne Dinge, Anastasios? «
Darauf gab es nur eine mögliche Antwort. »Ja.«
Helenas geschwungene Brauen hoben sich, und mit großen Augen fragte sie: »Einfach ›ja‹? Wie einfallslos. Was für schöne Dinge sind das?«, ließ sie nicht locker. »Schmuck, Juwelen, Gläser, Gemälde, Wandbehänge? Statuen? Oder mögt Ihr lieber Musik und gutes Essen? Oder etwas, was Ihr berühren könnt, wie Seide oder Pelze? Was erfreut Euch, Anastasios?« Sie stellte das Kästchen auf den Tisch und trat näher zu Anna. »Empfinden Eunuchen Lust?«, fragte sie leise.
Hatte sie Ioustinianos auf diese Weise bezirzt? Anna spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und das Blut brennend ins Gesicht stieg. Offensichtlich versuchte Helena, ihren Arzt sexuell herauszufordern, um sich zu amüsieren. Es war ein Machtspiel, sie wollte einfach sehen, ob es ihr gelang.
Die Luft im Zimmer war drückend wie vor einem Gewitter. Anna hätte alles gegeben, um sich dem entziehen zu können. Es war qualvoll.
Helena ließ den Blick über Annas Körper gleiten. »Ist noch etwas übrig, Anastasios?«, fragte sie mit sanfter Stimme, in der nicht der geringste Anflug von Mitgefühl lag, wohl aber unverhüllte Neugier. Mit ihrer kleinen Hand fasste sie ihr zwischen die Beine und griff ins Leere.
Panik überfiel Anna. Es kam ihr vor, als müsse sie ersticken. Helenas Augen leuchteten spöttisch, herausfordernd und zugleich verächtlich.
Kein Mann, wie verstümmelt auch immer er sein mochte, würde in einer solchen Situation schweigen. Unbedingt musste Anna jetzt reagieren wie ein Mann, durfte den Ekel nicht zeigen, der sich in ihr regte.
Helena würde eine Zurückweisung weder vergessen noch verzeihen. Sie war ihr so nah, dass Anna die Wärme ihres Leibes spüren und die pochende Schlagader an ihrem Hals sehen konnte.
»Begierde muss gegenseitig sein«, sagte Anna mit erstickter Stimme. »Ich denke, um Euch zu gefallen, muss ein Mann schon sehr bemerkenswert sein.«
Helena stand reglos da, ihre Züge schlaff vor Überraschung und Enttäuschung. Trotz Anastasios’ höflicher und sogar schmeichelhafter Worte fühlte sie sich bestohlen. Sie stieß einen scharfen Laut des Ärgers aus und trat zurück. Jetzt wusste sie nicht, was sie sagen sollte, ohne ihr wahres Gesicht zu zeigen.
»Euer Geld liegt auf dem Tisch an der Tür«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Ihr langweilt mich. Nehmt es und geht.«
Anna drehte sich um und verließ den Raum. Sie musste sich zwingen, nicht zu rennen.