KAPİTEL 95
Giuliano schloss sich Giuseppe und den anderen Männern an. Sie zogen in Eile dahin, oft nachts. Bis Mitte April hatte sich ganz Sizilien erhoben. Nur ein einziger der französischen Lehnsherren wurde verschont, weil er menschlich und mit Augenmaß regiert hatte. Alle anderen Garnisonen wurden von den Aufständischen erobert und deren Besatzungen getötet.
Gegen Ende des Monats stand Giuliano neben Giuseppe auf dem Hügel, von dem aus der Blick auf den Hafen von Messina fiel. Unter sich sahen sie die aus mindestens zweihundert Schiffen aller Arten und Größen bestehende Flotte, die Charles von Anjou zusammengezogen hatte. So dicht drängten sie sich aneinander, dass ihnen kaum Platz blieb, sich vor Anker zu bewegen, ohne an den Rumpf des Nachbarn zu stoßen.
Wie viele Katapulte mochten sie an Bord haben? Wie viele Belagerungstürme, um die Mauern der Stadt Konstantinopel zu berennen? Wie viel griechisches Feuer, um Häuser und Städte in Schutt und Asche zu legen?
»Man könnte glauben, es ist niemand an Bord«, sagte Giuseppe und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen.
»Wahrscheinlich begnügen sie sich mit einer Wache«, gab Giuliano zurück. Zwei Tage zuvor hatten sich auch die Bewohner der Stadt Messina gegen die Franzosen erhoben, woraufhin sich diese in die gewaltige Granitfestung von Mategriffon zurückgezogen hatten, ohne sie aber halten zu können.
»Trotz allem bedeuten sie nach wie vor eine Bedrohung für Byzanz. Die venezianische Flotte bringt weitere Krieger, noch mehr Schiffe und noch mehr Kriegsmaterial her. Die Belagerungsmaschinen sind noch an Ort und Stelle, und Pferde kann man jederzeit zusammenstehlen.«
Giuseppe sah ihn aufmerksam an. »Was habt Ihr vor? Wollt Ihr die Flotte etwa versenken?«
Es war Giuliano bewusst, dass er damit den Eid brechen würde, den er dem Dogen Tiepolo gegeben hatte, nie gegen Venedigs Interessen zu handeln. Doch die Welt war nicht mehr dieselbe wie zu Tiepolos Lebzeiten. Das galt auch für Venedig und erst recht für Rom.
»Verbrennen«, sagte er leise. »Mit Pech beladene kleine Boote in Brand setzen, die man mit einem Ruderboot in Schlepp nehmen kann. Dazu brauchen wir aber die richtige Strömung und den richtigen Wind …«
»Und das würdet Ihr tun? Ihr … ein Venezianer?«, fragte Giuseppe.
»Ein halber«, berichtigte ihn Giuliano. »Meine Mutter stammt aus Byzanz. Aber das hat nichts damit zu tun … oder jedenfalls nur wenig. Konstantinopel erobern zu wollen ist Unrecht. An diesem Vorhaben ist nichts Christliches. Es geht einfach darum, dass niemand so etwas tun darf.«
Giuseppe sah ihn aufmerksam an. »Ihr seid ein merkwürdiger Mensch, Giuliano. Aber ich bin auf Eurer Seite.« Er hielt ihm die Hand hin. Giuliano nahm sie und hielt sie eine ganze Weile fest umklammert.
Sie sammelten Verbündete unter Sizilianern, deren Verwandte oder
Freunde Opfer der Franzosen geworden waren. Sie verschafften sich
die nötigen Boote und das Pech. Es war weniger, als Giuliano gern
gehabt hätte, aber sie konnten es nicht darauf ankommen lassen,
länger zu warten.
Er stand allein an der Mole und sah zu, wie die Sonne schwefelfarben im Westen hinter den Wolken versank, die sie bald ebenso verdunkeln würden wie den Mond. Jedes Mal, wenn er zum Himmel sah, musste er unwillkürlich an Anastasios denken. Ihre Gespräche tauchten immer dann in seiner Erinnerung auf, wenn er am wenigsten damit rechnete.
Anastasios hatte seine tiefsten Wunden geheilt, indem er ihn Dinge über seine Mutter hatte erfahren lassen, die ihn mit ihr mehr als aussöhnten.
Doch was hatte das mit seinem schrecklichen Plan zu tun? Dazu hatten ihn seine Moralvorstellungen getrieben. Im Hafen lagen so viele Schiffe, von denen einige noch Männer an Bord hatten. Er wollte sie eins wie das andere zerstören, damit sie auf keinen Fall den Krieg nach Byzanz tragen konnten. Spielte es dabei eine Rolle, dass die Krieger des Grafen von Anjou dann auch nicht imstande wären, Jerusalem zurückzugewinnen? Würden die Ritter, die zum Kreuzzug aufgebrochen waren, in jener Stadt etwas besser, sicherer oder angenehmer machen?
Jetzt war es zu spät, die Situation neu zu überdenken, selbst wenn er das gewollt hätte. Er fürchtete ein Misslingen ebenso sehr wie das Entsetzen, das sich ausbreiten würde, wenn er Erfolg hatte, aber er wurde in seiner Entschlossenheit nicht wankend.
Der mit den Verhältnissen in der Bucht von Messina bestens vertraute Stefano, ein überaus kräftiger Ruderer, setzte sich ins vorderste der Boote, mit denen sie die mit Pech und Öl beladenen Beiboote an ihr Ziel heranführen wollten.
Als sie sein Boot hinter dem Wall der vor Anker liegenden Schiffe nicht mehr sehen konnten, nahmen sie an, dass er über die Hälfte des Weges hinter sich hatte, und Giuseppe machte sich mit dem nächsten Boot auf. Wer sie sah, würde annehmen, dass sie Proviant zu einem Schiff bringen wollten. Für Fischer würde man sie mit einem Beiboot im Schlepp nicht halten.
»Alles Gute«, wünschte Giuliano, der am Ufer kniete und das Heck von Giuseppes Boot kraftvoll von sich stieß, während sich dieser in die Riemen legte.
Giuseppe erwiderte den Wunsch mit einem lautlosen Gruß und war im nächsten Augenblick schon ein ganzes Stück vom Ufer entfernt. Im Kampf gegen die Strömung musste er all seine Kraft aufwenden.
Giuliano wartete, bis er ihn gerade noch sehen konnte, dann watete er ins Wasser, stieg in sein Boot und griff nach den Riemen. Er war eher an das offene Meer und daran gewöhnt, Befehle zu erteilen, als selbst zu rudern, aber die Umstände ließen ihm keine Wahl, und so nahm er den Kampf gegen Wind und Wellen auf.
Schon bald spürte er seine Schultern, und bestimmt würde es nicht lange dauern, bis er Blasen an den Händen hatte. Erst wenn er das am weitesten östlich liegende Schiff erreicht hatte, konnte er das Pech entzünden und das Tau zu dem Beiboot kappen. Stefano würde das als Erster tun, und sobald Giuseppe dessen Feuer sah, würde auch er seine Verderben bringende Ladung anzünden. Den Schluss würde Giuliano bilden. Dann mussten alle drei, so rasch es ging, gegen Wind und Strömung in Richtung offene See davonrudern, um nicht selbst von den Flammen erfasst zu werden.
Er sah über die Schulter und bemühte sich, in der Dunkelheit die Flammen zu erkennen, sobald sie sichtbar wurden. Wie die beiden anderen hatte er Zunder, Fackeln und Öl bei sich, um dafür zu sorgen, dass das Feuer richtig in Gang kam, bevor er das Tau zu dem brennenden Boot hinter sich kappte. Auf keinen Fall durfte das zu früh geschehen, weil sonst die Flammen erlöschen würden und alle Mühe vergebens gewesen wäre. Als er die richtige Stelle erreicht hatte, musste er kräftig weiterrudern, um nicht von der Strömung gegen die Schiffsrümpfe getrieben zu werden. Langsam änderte er den Kurs so, dass das Feuer hinter ihm sein würde und er westwärts über die Bucht sehen konnte.
Wo waren die anderen?
Laut schlugen die Wellen gegen sein Boot. Er musste sich kräftig in die Riemen legen, damit der Abstand zwischen ihm und dem nächsten Kriegsschiff nicht zu gering wurde. Die Strömung war stark, und der Wind frischte auf. Sein Rücken schmerzte, und seine Schultermuskeln spannten sich an.
Angestrengt hielt er weiter Ausschau. Dann wurde plötzlich eine gelbe Flamme sichtbar, die allmählich immer höher schlug. Gleich darauf sah er ein ganzes Stück näher eine zweite Flamme, zuerst winzig, doch dann immer größer.
Er ließ die Riemen los und tastete unter der Ruderbank nach der Zunderbüchse, ohne sie in der Dunkelheit sogleich zu finden. Als Nächstes suchte er nach den Fackeln, von denen er sicherheitshalber drei mitgenommen hatte. Der Zunder wollte sich nicht gleich entzünden lassen. Von der Strömung kräftig geschoben, trieb er immer näher auf eines der Schiffe zu. Seine Finger waren zu ungelenk. Ruhig bleiben! Er hatte nur diesen einen Versuch.
Dann glomm der Zunder auf, und der Funke entzündete die Fackel, so dass sie hoch aufloderte. Er hielt sie an die zweite. Jetzt brannten beide kräftig. Er schleuderte die erste in das mit Pech und Öl gefüllte Boot hinter ihm. Nach wenigen Augenblicken schlug dort eine riesige Flamme empor. Er entzündete die dritte Fackel an der zweiten und warf beide hinterher. Wenn er nicht sogleich das Tau kappte, würde das Feuer auf sein Boot überspringen. Weit hinten im Westen trieben die lodernden Feuerboote auf die der See zugewandten Schiffe zu.
Das dicke und nasse Tau schien sich einfach nicht durchschneiden zu lassen. Warum nur hatte er kein schärferes Messer mitgebracht? Geduld! Schließlich hatte er es geschafft, und das lose Ende fiel ins Wasser. Er setzte sich wieder auf die Ruderbank, griff nach den Riemen und legte sein ganzes Gewicht in die ersten Ruderschläge. Er war den Schiffen so nahe gekommen, dass er Männer rufen hörte. In ihren Stimmen erkannte er Panik. Im Westen wurde der Flammenschein immer heller. Das erste Schiff brannte bereits lichterloh, und die Flammen leckten an den Masten empor.
Er ruderte, so kräftig er konnte, und tauchte die Riemen tief ins Wasser. Gleichmäßig durchziehen! Beim kleinsten Missgeschick würde sein eigenes Boot ebenfalls in Flammen aufgehen. Waren Giuseppe und Stefano in Sicherheit? Reichte ihre Kraft bis ans Ufer? Vielleicht wäre es besser gewesen, Giuseppe zu sagen, dass er versuchen sollte, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, damit er nicht gegen den Wind ostwärts rudern musste.
Was für ein törichter Gedanke! Ein Mann wie Giuseppe war auf einen solchen Rat sicherlich nicht angewiesen!
Während sich die Flammen über das in der Mitte der Bucht vor Anker liegende Schiff ausbreiteten, wurden sie immer heller. Jetzt sprangen sie auf die eingeholten Segel über. Gleich darauf explodierte das griechische Feuer im Laderaum, und alles war weißglühend, wie in einem Schmelzofen.
Brennende Trümmer wurden von der Hitze der Flammen nach oben gerissen. Giuliano legte sich weiter in die Riemen und hielt einen Augenblick lang den Atem an, als ein brennendes Stück Holz hoch in den Himmel schoss und auf einem Schiff niederging, das nebenan vor Anker lag, wo es umgehend das trockene Holz entzündete. Andere Stücke fielen ins Meer. Er betrachtete das schaurig-schöne Bild, das sich bot, während das Feuer von einem Schiff auf das nächste übergriff, bis die ganze Bucht einer Flammenhölle glich.
Ein weiteres Schiff, das offensichtlich ebenfalls griechisches Feuer im Laderaum hatte, explodierte, und wieder stiegen Trümmer hoch in die Luft. Das Dröhnen der Flammen war ohrenbetäubend, und die Hitze schien trotz der großen Entfernung, die Giuliano inzwischen zwischen sich und die Schiffe gebracht hatte, seine Haut zu versengen.
Eine brennende Planke fiel nur wenige Fuß von ihm entfernt zischend ins Wasser. Das riss ihn aus seiner Erstarrung. Hastig griff er abermals nach den Riemen und trieb das Boot mit aller Kraft weiter.
Eine Viertelstunde später erreichte er das Ostufer, nur dreißig Schritt von der Stelle entfernt, an der er abgelegt hatte, und sah zu, wie sich eins der Schiffe nach dem anderen zur Seite neigte und allmählich versank.
Am nächsten Morgen würde von der Kreuzfahrerflotte nicht mehr viel übrig sein. Dass Giuliano, ein Venezianer, das Feuer entzündet hatte, dem sie zum Opfer gefallen war, mochte als kleine Wiedergutmachung für das gelten, was Venedig mehr als siebzig Jahre zuvor Byzanz angetan hatte.
Langsam wandte er sich ab und machte sich auf den Weg zurück zur Stadt. Die Flammen brüllten zum Himmel empor, und im Feuerschein über der Bucht war alles deutlich zu erkennen: im Wasser treibende Wrackteile und die schwarzen Skelette dessen, was vor kurzer Zeit noch stolze Schiffe gewesen waren. Die Fronten der Häuser am Ufer wie auch das Wasser der Bucht schimmerten rot und gelb, und als Giuliano näher kam, glänzten die Fenster wie Flächen aus purem Gold.
Menschen drängten sich auf den Straßen und Plätzen und blickten voll Entsetzen und Staunen auf das Schauspiel, das sich ihnen bot. Manche hielten sich an ihren Nachbarn fest, wenn eine weitere Explosion die Luft zerriss. Andere standen wie gelähmt da und schienen ihren Augen nicht zu trauen.
Giuliano beschleunigte den Schritt. Giuseppe und Stefano mussten inzwischen auf dem Weg in die Berge sein, dem Ätna entgegen, wo die Schergen des Königs sie nie und nimmer finden würden. Er aber musste nach Byzanz, um der Stadt die Nachricht zu überbringen.
Die Zinnen der Festung Mategriffon ragten über ihm auf. Von dort oben sahen Männer, deren Gesichter kupfernen Masken ähnelten, über die Brustwehr hinweg fassungslos auf die Flammenhölle über dem Wasser. Unter ihnen erkannte er auch Charles, dessen Züge vor Wut verzerrt waren und der sicherlich sogleich begriffen hatte, dass damit sein großes Vorhaben, der Traum eines ganzen Lebens, gescheitert war.
Einen Augenblick sah der König beider Sizilien hinab und hielt kurz inne, als habe er Giuliano an seiner Art auszuschreiten oder dem dunklen Umriss seiner Gestalt erkannt.
Giuliano hob einen Arm zum Gruß und beschleunigte dann trotz seiner Erschöpfung und der Schmerzen im ganzen Leibe den Schritt. Er musste unbedingt außer Reichweite sein, bevor der König Bogenschützen rufen oder Söldner beauftragen konnte, Jagd auf ihn zu machen.