KAPİTEL 56

Von ihren zahlreichen Besuchen im Kaiserpalast kannte Anna Nikephoros’ Tagesablauf recht genau, denn sie hatte die meisten der Palasteunuchen zu den unterschiedlichsten Zeiten behandelt. So suchte sie ihn zu einer Stunde auf, von der sie annehmen durfte, dass er allein sein würde, sofern der Kaiser nicht gerade seines Rates bedurfte. Obwohl sie im Palast allgemein bekannt war, empfand sie eine sonderbare Unruhe, während sie die Stufen emporstieg.

Vorüber an den beschädigten Standbildern und den dunklen Brandspuren ging sie durch Korridore voller Schutt und Trümmer. War es denkbar, dass der Kaiser mit voller Absicht alles in diesem Zustand gelassen hatte, damit weder er selbst noch sein Hofstaat je vergaß, was der Preis dafür war, ein treuer Anhänger der orthodoxen Kirche zu sein?

Von Nikephoros’ Diener angekündigt, fand sie den Berater des Kaisers in seinem zum Hof hin offenen Raum. Sofort erkannte sie die Mattigkeit auf seinen Zügen wie auch die Freude, die er bei ihrem Anblick empfand.

» Wir werden nicht oft genug krank. Es scheint lange her zu sein, dass Ihr hier wart. Was führt Euch heute her? Ich habe von niemandem gehört, der Eure Hilfe braucht.«

»Ich brauche die Eure«, gab Anna zurück. »Aber vielleicht kann ich Euch eine kleine Gegenleistung anbieten? Ihr seht ermattet aus.«

Er schüttelte leicht den Kopf. Sie merkte, dass er einsam war und das Bedürfnis empfand, über Dinge zu reden, die seinem Herzen näher waren als Politik oder diplomatische Verwicklungen.

»Die ist neu«, sagte sie, während sie eine geschwungene Vase bewunderte, die auf einem Beistelltisch stand. »Alabaster? «

»Ja«, sagte er, und sein Gesicht leuchtete auf. »Gefällt sie Euch?«

»Sie ist wunderbar«, gab sie zurück. »So schlicht wie der Mond … und ganz und gar vollkommen, ohne sich darum zu kümmern, ob man sie bewundert oder nicht.«

»Das gefällt mir«, sagte er rasch. »Ihr habt Recht. Viele Dinge geben sich zu große Mühe, bemerkt zu werden. Man hört förmlich, wie die Stimme des Künstlers durch sein Werk nach der Aufmerksamkeit des Betrachters schreit. Diese Vase genügt sich selbst und weiß genau, was sie ist. Danke. Ab jetzt wird sie mir noch mehr gefallen.«

»Habe ich Euch beim Lesen gestört?«, fragte sie, als sie das Manuskript auf seinem Schreibtisch sah.

»Ach! Ja, ich habe gelesen. Aber Ihr seid sicher in einer bestimmten Angelegenheit gekommen, das sehe ich Eurem Gesicht an. Geht es wieder um den Mord an Bessarion?«

»Ihr kennt mich zu gut«, gestand sie und hatte gleich darauf den Eindruck, ihn mit diesen Worten getäuscht zu haben. In Wahrheit wusste er so gut wie nichts von ihr. Sie brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen, und merkte überrascht, wie sehr sie das schmerzte.

»Was ist es dann?«

Sie hatte sich genau überlegt, was sie sagen wollte, es Satz für Satz einstudiert. Doch jetzt warf sie alles über den Haufen und stieß hervor: »Ich glaube, dass es eine Verschwörung mit dem Ziel gegeben hat, Kaiser Michael zu ermorden und Bessarion an seine Stelle zu setzen, um die Kirche vor der Union mit Rom zu bewahren. Wer auch immer Bessarion getötet hat, hat das verhindert. Diese Tat war kein Hochverrat, sondern ein Akt der Treue dem Kaiser gegenüber. Man hätte die Männer nicht dafür bestrafen dürfen.«

Auf sein Gesicht trat eine Trauer, die sie nicht verstand.

» Wer waren die Verschwörer, von Ioustinianos und Antonios abgesehen?«

Sie schwieg, denn sie hatte keine Beweise. Sie brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, was sie wusste. Trotz des Vorhabens der Verschwörer kam es ihr wie Verrat vor. Er würde der Sache nachgehen müssen, man würde die Beteiligten festnehmen und foltern. Grausige Bilder traten ihr vor das innere Auge: Zoe, vollständig entkleidet, gedemütigt, wegen ihres alten Leibes verspottet. Vielleicht würde sie wieder mit Feuer in Berührung kommen …

»Ich hatte nicht angenommen, dass Ihr es mir sagen würdet«, sagte Nikephoros. »Es hätte mich enttäuscht, wenn Ihr es doch getan hättet. Ioustinianos und Antonios hätten nicht anders gehandelt.« Seine Stimme wurde noch leiser, und er sagte rau: »Nicht einmal unter der Folter.«

Sie riss die Augen auf, während neues Entsetzen sie wie ein Faustschlag in den Unterleib traf.

»Hat man ihn …« Sie stieß die Worte mit größter Mühe zwischen ihren trockenen Lippen hervor. Ihr fiel Ioannis Laskaris ein, dem man das Augenlicht genommen hatte. Ioustinianos … Es war beinahe mehr, als sie ertragen konnte.

» Wir haben ihn nicht verstümmelt.« Mit dieser Formulierung nahm Nikephoros, vielleicht ganz ohne jede Absicht, einen Teil der Schuld auf sich. Er war der Mann des Kaisers. »Ioustinianos konnte uns nicht sagen, ob die Verschwörer einen neuen Versuch unternehmen würden. Könnt Ihr das?«

Sie dachte darüber nach, wälzte die Frage in Gedanken und fand keinen Ausweg. »Nein«, sagte sie schließlich.

»Was bedeutet Euch Ioustinianos Laskaris, dass Ihr so viel wagt, um ihn zu retten?«, wollte er wissen.

Sie spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoss. »Wir sind verwandt.«

»Eng?«, fragte er kaum hörbar. »Ist er Euer Bruder? Euer Gemahl?«

Es war, als stehe die Zeit still. Er wusste es. Sie konnte es in seinem Gesicht lesen. Es zu bestreiten wäre Dummheit gewesen.

Er wartete mit so gütigem Blick, dass ihr unwillkürlich die Tränen über die Wangen liefen, weil sie sich wegen ihres Betrugs schämte. Empfand er ihre Verkleidung als Hohn? Sie schlug die Augen nieder, unfähig, ihn anzusehen, und verabscheute sich dafür.

»Mein Zwillingsbruder«, flüsterte sie.

» Anastasia Laskaris?«

» Anna«, korrigierte sie, als ob diese winzige Aufrichtigkeit von Bedeutung wäre. »Inzwischen Zarides. Ich bin verwitwet. «

» Wer auch immer die anderen Verschwörer sein mögen, sie sind nach wie vor gefährlich«, erklärte er. »Ich nehme an, Ihr wisst, um wen es sich handelt. Einer von ihnen hat Ioustinianos verraten. Ich weiß nicht, wer, und wenn ich es wüsste, würde ich es Euch um Euretwillen nicht sagen. Diese Leute würden Euch ebenso bedenkenlos ans Messer liefern wie ihn.«

»Das ist mir bewusst …« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. »Ich danke Euch.«

»Es wäre gut, wenn Ihr etwas größere Schritte machtet. Die Euren sind immer noch so kurz wie die einer Frau. Davon abgesehen, macht Ihr Eure Sache ziemlich gut.«

Sie nickte, unfähig, etwas zu sagen, wandte sich dann um und ging. Sie war benommen und hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. An ihrer Art zu gehen würde sie bei anderer Gelegenheit arbeiten müssen.

Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
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