KAPİTEL 67
Der Sommer des Jahres 1278 war in Konstantinopel heiß und merkwürdig still. Bischof Palombara befand sich erneut in der Stadt mit ihrem bunten Leben, den ungezügelten Gedanken und dem voll Inbrunst ausgetragenen Religionsstreit.
Unglücklicherweise begleitete ihn auch diesmal wieder Niccolo Vicenze. Der Heilige Vater hatte ihm gesagt, Vicenze wisse nichts von Palombaras eigentlichem Auftrag, der darin bestand, den Kaiser bei der Einhaltung der Union mit Rom zu unterstützen – und selbstverständlich dafür zu sorgen, dass seine Macht und sein Leben erhalten blieben, sollten diese bedroht sein. Damit war stillschweigend auch gesagt, dass es zu Palombaras Aufgaben gehörte, festzustellen, ob es eine solche Bedrohung gab und woher sie kam.
Selbstverständlich durfte er keinesfalls die Möglichkeit außer Acht lassen, dass der Heilige Vater zu Vicenze unter Umständen etwas gänzlich anderes gesagt hatte.
Einstweilen war es Palombaras wichtigste Aufgabe, sich mit Bischof Konstantinos zu befassen, da dieser an der Spitze all jener stand, die nach wie vor standhaft gegen die Union eintraten. Da es sich als sinnlos erwiesen hatte, mit dessen Eunuchen Argumente auszutauschen, galt es, ihn zu bekämpfen. Das war kein angenehmer Gedanke, aber zu viele Menschenleben hingen davon ab, als dass man es sich hätte leisten können, zimperlich zu sein. Es ging lediglich noch um die Frage, welche Mittel man dafür einsetzen sollte.
Der Arzt Anastasios hatte stets an Konstantinos’ Seite ausgeharrt, selbst in Zeiten, als unter den Armen der Stadt Hunger und Krankheit gewütet hatten. Wenn jemand die Schwächen des Bischofs kannte, dann er. Allerdings war sich Palombara dessen bewusst, dass der Arzt sie unter keinen Umständen preisgeben würde, schon gar nicht einem Abgesandten Roms, einem Mann. Die Aussicht, ihn hintergehen zu müssen, sagte Palombara nicht im Geringsten zu.
Dann kam ihm ein Gedanke, der raffiniert und gefährlich zugleich war. Er versetzte sich an die Stelle Konstantinos’, der entschlossen war, die Freiheit der orthodoxen Kirche um jeden Preis zu verteidigen, und überlegte, wer ihm dabei am meisten im Weg stand. Das war eindeutig Kaiser Michael. Wenn man ihn beseitigte und einen fest im orthodoxen Glauben verwurzelten Mann an seine Stelle setzte, der weder Michaels Klugheit noch dessen Entschlusskraft besaß, wäre alles andere überflüssig.
Diese Überlegung machte es doppelt dringlich, ein Treffen mit Anastasios herbeizuführen. Bruchstücke einer Unterhaltung über frühere Verschwörungen und Mordfälle kamen Palombara in Erinnerung. Dabei waren auch die Namen von Kaiserfamilien wie Laskaris und Komnenos gefallen. Er musste an die Vertrautheit denken, die zwischen Zoe Chrysaphes, der byzantinischsten aller Frauen, und Anastasios zu bestehen schien, wie auch daran, dass dieser von Zeit zu Zeit den Kaiser behandelt hatte.
Es dauerte über eine Woche, bis sich die von ihm gewünschte Gelegenheit von selbst ergab. Er hatte sich bemüht, dafür zu sorgen, dass er Anastasios wie zufällig über den Weg lief, und schließlich begegneten sie einander auf dem kleinen Hügel oberhalb des Hafens. Palombara, der gerade mit einem Fährboot angekommen war, sah Anastasios auf der Straße. Es war früher Abend, die Sonne stand tief, so dass man in ihrem goldenen Schimmer die Wunden der Stadt nicht sah, die von ihrer Verwüstung und Armut zeugten.
»Das ist meine liebste Tageszeit«, sagte Palombara wie beiläufig, als sei es ganz natürlich, dass sie einander nach so langer Zeit wiedersahen.
»Tatsächlich?«, fragte Anastasios. »Freut Ihr Euch auf die Nacht?«
Er hielt an, so dass sich Anastasios aus Höflichkeit genötigt sah, ebenfalls stehen zu bleiben. »Ich meinte damit nur diesen kurzen Zeitraum, nicht, was davor war oder danach kommt.«
In Anastasios’ Augen flackerte Interesse auf.
Palombara lächelte. »Die Schatten spenden eine Gnade, die uns das harte Licht des Morgens nicht gönnt.«
»Seid Ihr ein Befürworter von Gnade, Herr?«, fragte Anastasios erwartungsvoll.
»Ich liebe die Schönheit«, bog Palombara die Frage ab. »Ich liebe die Unwirklichkeit des sanften Lichts – es gestattet uns zu träumen.«
Das Lächeln, das jetzt auf Anastasios’ Züge trat, erleuchtete sein ganzes Gesicht. Es erschien Palombara mit einem Mal schön, weder Mann noch Frau, doch zugleich auch keine Entstellung des einen oder des anderen.
»Ich bin genötigt zu träumen«, erklärte er rasch. »Die Wirklichkeit ist hart, und sie wird uns schon bald ihre Früchte zeigen.«
»Meint Ihr damit etwas Bestimmtes?« Anastasios warf einen Seitenblick auf die Trümmer eines Turms, die man nach wie vor nicht beseitigt hatte. »Seid Ihr immer noch darauf bedacht, uns zu überreden, dass wir uns nicht nur vertraglich, sondern auch mit unseren Herzen zum Zusammenschluss mit Rom bereitfinden sollen?«
»Charles von Anjou wartet nur auf einen Vorwand, Konstantinopel erneut zu erobern. Das ist Eurem Kaiser bekannt. «
Anastasios nickte. »Er wäre angesichts einer geringeren Bedrohung kaum zur Union mit Rom bereit.«
Palombara zuckte zusammen. »Das ist bitter. Sollten wir Christen nicht zusammenstehen? Im Osten reckt der Islam drohend sein Haupt.«
»Kann man eine Finsternis bekämpfen, indem man sich eine andere zu eigen macht?«, fragte Anastasios sanft.
Ein Schauer überlief Palombara. Er fragte sich, ob es Anastasios damit Ernst war.
»Worin liegt in Euren Augen der Unterschied zwischen Rom und Byzanz, dass Ihr glaubt, das eine als Finsternis und das andere als Licht bezeichnen zu können?«, fragte er.
Nach langem Schweigen gab Anastasios zurück: »Es verhält sich damit viel subtiler, denn zwischen beiden liegen Millionen von Abstufungen. Ich wünsche mir eine Kirche, die uns Mitgefühl und Sanftmut lehrt, Geduld und Hoffnung, die frei von Selbstgerechtigkeit ist und trotzdem Raum lässt für Begeisterung, Lachen und Träume.«
»Ihr habt hohe Ansprüche. Erwartet Ihr all das von Euren Kirchenältesten?«
»Ich brauche eine Kirche, die uns nicht im Wege steht. Meiner festen Überzeugung nach möchte Gott, dass wir etwas erschaffen, andere lehren und sie uns zu Freunden machen. Alles hat zum Ziel, dass wir Gott möglichst ähnlich werden – so, wie alle Kinder davon träumen, wie ihr Vater zu werden.«
Palombara sah ihm aufmerksam ins Gesicht und erkannte darin Hoffnung, Verletzlichkeit und sehnsüchtiges Verlangen. Natürlich waren das wunderschöne Gedanken, aber sie waren auch zugleich verstörend.
Seiner festen Überzeugung nach würde sich weder die byzantinische noch die römische Kirche solche Gedanken je zu eigen machen. Ihnen wohnte eine für gewöhnliche Menschen viel zu weitgehende Ehrfurcht und Schönheit inne. Um davon zu träumen, musste man einen Blick auf das Herz Gottes werfen können.
Vielleicht konnte das Anastasios ja – ein Grund für Palombara, ihn zu beneiden.
Sie standen in der zunehmenden Dunkelheit. Hinter ihnen leuchteten die Lichter des Hafens. Eine ganze Weile sprach keiner von beiden. Da Palombara fürchtete, Anastasios werde einfach davongehen, womit diese Gelegenheit dahin wäre, sagte er schließlich: »Euer Kaiser ist entschlossen, die Stadt vor Charles von Anjou zu bewahren, indem er den Zusammenschluss mit Rom verkündet, doch kann er seine Untertanen nicht zwingen, ihren alten Glauben wenigstens so weit aufzugeben, dass vor den Augen des Papstes der entsprechende Anschein entsteht.«
Anastasios gab keine Antwort. Palombaras Worte waren ganz offensichtlich nicht als Frage gemeint.
»Ihr habt Euch vor längerer Zeit ziemlich intensiv nach dem Mord an Bessarion Komnenos erkundigt«, fuhr Palombara fort. »Hat es sich dabei um einen vereitelten Versuch gehandelt, den Kaiser zu stürzen und im Anschluss daran für die Bewahrung der religiösen Unabhängigkeit zu kämpfen?«
Anastasios wandte den Kopf ein wenig zu ihm hin. »Was liegt Euch daran, Bischof Palombara? Der Versuch ist fehlgeschlagen. Bessarion ist tot, desgleichen seine Mitverschwörer. «
»Das heißt, Ihr wisst, wer sie waren?«
Anastasios holte bedächtig Luft. »Nur von zweien. Aber was könnten andere ohne sie und vor allem ohne Bessarion ausrichten?«
»Genau diese Frage macht mir Sorgen«, gab Palombara zurück. »Sollte man gegenwärtig ein solches Komplott versuchen, würde das eine entsetzliche Rache auslösen, verglichen mit der die Verstümmelung der Mönche unbedeutend erscheinen würde. Der Einzige, der einen Vorteil davon hätte, wäre Charles von Anjou.«
»Und der Papst«, fügte Anastasios hinzu, dessen Augen aufblitzten. »Doch das wäre für Euch ein bitterer Sieg, Ehrwürdigste Exzellenz, und das Blut, um das er erkauft wäre, würde sich nie von Euren Händen abwaschen lassen.«