KAPİTEL 1

In Gedanken verloren stand Anna Zarides an der steinernen Mole und sah über das dunkle Wasser des Bosporus zum Leuchtturm von Konstantinopel hinüber. Sein Licht erhellte den Himmel mit einem Strahlenbündel, das sich scharf vor den allmählich blasser werdenden Sternen abzeichnete. Es war ein großartiger Anblick. Sie wartete darauf, dass in der Morgendämmerung die Dächer der Stadt sowie deren herrliche Kirchen, Türme und Paläste sichtbar wurden.

Kalt wehte der Wind vom Wasser landeinwärts. Sie hörte das Zischen und Gurgeln der Wellen, deren Kämme kaum sichtbar waren. In der Ferne trafen auf einer Landspitze die ersten Strahlen des Tageslichts auf eine hundert, wenn nicht gar zweihundert Fuß hoch aufragende riesige Kuppel. Sie leuchtete in stumpfem Rot, als brenne ein Feuer in ihrem Inneren. Das musste die Hagia Sophia sein – nicht nur die schönste Kirche der Welt, sondern auch die größte, und zugleich Herz und Seele des christlichen Glaubens.

Unverwandt hielt Anna den Blick darauf gerichtet, während das Licht des Tagesgestirns zunahm. Links von der Hagia Sophia erkannte sie vier hohe schlanke Säulen, die wie Nadeln vor dem Horizont emporwuchsen. Das, wusste sie, waren Denkmäler für einige der bedeutendsten Herrscher der Vergangenheit. Dort musste außer dem Kaiserpalast auch die als Hippodrom bekannte Pferderennbahn liegen, doch alles, was sie sehen konnte, waren Schatten. Hier und da erspähte sie weiß schimmernden Marmor, Bäume und die endlose Abfolge von Dächern einer Stadt, die größer war als Rom, Alexandria, Jerusalem oder Athen.

Inzwischen ließ sich der schmale Wasserstreifen des Bosporus, auf dem bereits Schiffe verkehrten, deutlich ausmachen. Wenn sie sehr genau hinsah, konnte sie die Zinnen der mächtigen Seemauer wie auch einen Teil des darunter liegenden Hafens mit seinem Gewirr von Schiffsrümpfen und Masten erkennen, die alle in der Sicherheit der Wellenbrecher geborgen waren.

Langsam stieg die Sonne an dem blass leuchtenden Himmel auf wie ein Feuerball. Im Norden leuchtete das Goldene Horn glänzend wie Bronze zwischen den Ufern – es war ein wunderbarer Märzmorgen.

Das erste Fährboot des Tages näherte sich. Mit der bangen Überlegung, welchen Eindruck sie auf ihr unbekannte Menschen machen würde, trat sie zum Anleger und blickte auf das nur wenig bewegte Wasser hinab. Es warf ihr Gesicht zurück: graue Augen, kräftige, doch zugleich verletzlich wirkende Züge, hohe Wangenknochen und ein weicher Mund. Ihr kastanienbraunes Haar war wie das eines Pagen geschnitten, ohne jeden Schmuck und nicht von einem Schleier bedeckt, den zu tragen für eine Frau ein Gebot des Anstands war.

Jetzt war die Fähre kaum noch zweihundert Ellen entfernt, ein leichtes Boot, das ein halbes Dutzend Fahrgäste aufnehmen konnte. Der Fährmann ruderte gegen die steife Brise und die Strömungen an, die dort, wo Europa und Asien aufeinandertrafen, besonders tückisch waren. Während sie tief einatmete, spürte sie den Druck der straff um ihre Brust und um die Auspolsterung an ihrer Taille gewickelten Bandagen, die ihre weibliche Gestalt verbergen sollten. Trotz aller Erfahrung im Umgang damit fühlte sie sich nach wie vor unbehaglich. Fröstelnd wickelte sie sich fester in ihren Umhang.

»Nein«, sagte Leo hinter ihr.

»Was ist?« Sie wandte sich zu ihm um. Die Stirn des hochgewachsenen, rundgesichtigen Mannes, auf dessen Wangen kein Bartwuchs zu erkennen war, legte sich in Sorgenfalten.

»Ihr dürft nicht zeigen, dass Euch kalt ist«, gab der Eunuch freundlich zur Antwort. »Das tun nur Frauen.«

Sie löste ihre Arme, ärgerlich über ihren törichten Fehler. Damit konnte sie das ganze Unternehmen gefährden.

»Seid Ihr immer noch entschlossen?«, fragte Simonis mit leicht schrill klingender Stimme. »Noch ist es nicht zu spät … Ihr könnt es Euch noch anders überlegen.«

»Ich bleibe bei meiner Entscheidung«, sagte Anna entschlossen.

»Ihr dürft Euch keinen Fehler erlauben, Anastasios.« Mit voller Absicht benutzte Leo den Namen, den Anna für dieses Vorhaben gewählt hatte. » Wie Ihr wisst, stehen schwere Strafen darauf, wenn sich eine Frau als Mann oder auch nur als Eunuch ausgibt.«

»Dann muss ich eben dafür sorgen, dass es niemand merkt«, sagte sie schlicht.

Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass die Sache nicht leicht sein würde. Aber mindestens einer Frau war es bereits gelungen, sich als Eunuch verkleidet in ein Mönchskloster einzuschleichen. Sie hieß Marina, und die Täuschung war erst nach ihrem Tod bekannt geworden.

Fast hätte sie Leo gefragt, ob er umkehren wolle, aber eine solche Kränkung verdiente er nicht. Außerdem war sie darauf angewiesen, ihm bei jeder Bewegung aufmerksam zuzusehen und alles, was er tat, genau nachzuahmen.

Inzwischen hatte das Boot den Anlegesteg erreicht, und der gut aussehende junge Fährmann erhob sich von der Ruderbank. Mit den sicheren und selbstverständlichen Bewegungen eines Menschen, der auf dem Wasser lebt, warf er ein Tauende um einen Haltepflock und sprang dann lächelnd auf die Planken des Anlegers.

Fast hätte Anna sein Lächeln erwidert, doch fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass das falsch gewesen wäre. Sie ließ ihren Umhang los, so dass der kalte Wind sie peitschte, und der Fährmann ging an ihr vorüber, um Simonis, die nicht nur älter und fülliger als Anna war, sondern ganz offenkundig als Frau zu erkennen, die Hand zu reichen und ihr ins Boot zu helfen. Anna folgte und setzte sich auf eins der Querbretter. Als Letzter kam Leo mit den Kisten, die ihre kostbaren Kräuter, Instrumente und Medikamente enthielten. Der Fährmann setzte sich wieder auf die Ruderbank, und es ging hinaus in die Strömung.

Anna sah sich nicht um. Gewiss, sie hatte alles Vertraute hinter sich gelassen, ohne zu ahnen, wann sie etwas davon wiedersehen würde, doch jetzt kam es nur noch auf das an, was sie sich vorgenommen hatte.

Die Strömung hatte das Boot schon ein ganzes Stück mit sich getragen. Wie eine steile Klippe ragten die Reste der Seemauer senkrecht über ihnen empor. Siebzig Jahre zuvor hatten die Lateiner sie beim vierten Kreuzzug erstürmt und dann die Stadt geplündert, niedergebrannt und ihre Bewohner vertrieben. Als Annas Blick daran emporwanderte, erschien sie ihr eher wie ein Werk der Natur denn wie etwas von Menschenhand Erbautes, und sie fragte sich, wie es überhaupt möglich gewesen war, einen Sturm darauf zu wagen – und dass er gelungen war, erschien ihr in diesem Augenblick vollends unmöglich.

Sie hielt sich am Bootsrand fest und wandte den Kopf nach links und rechts, um die Ausdehnung der Stadt in sich aufzunehmen. Sie war so groß, dass sie sich überallhin zu erstrecken schien, auf jede Felsfläche, in jeden Küsteneinschnitt und über jeden Hügel. So dicht lagen die Dächer der Häuser beieinander, dass es ihr vorkam, als könne man von einem zum anderen hinüberlaufen.

Der Fährmann lächelte über ihr kindliches Staunen. Sie merkte, dass sie errötete, und wandte sich ab.

Jetzt waren sie Konstantinopel so nahe gekommen, dass sie die Reste der zerstörten Mauern und die dunklen Brandspuren darauf ebenso erkennen konnte wie das Unkraut, das aus den Ritzen wuchs. Es erstaunte sie zu sehen, wie unberührt alles aussah, hatte doch Kaiser Michael Palaiologos bereits vor vollen zwölf Jahren das Volk von Konstantinopel im Jahre 1262 aus den Provinzen, in die man es einst vertrieben hatte, in die Stadt zurückgeführt.

Jetzt war auch Anna hier, zum ersten Mal und aus lauter falschen Gründen.

Der Fährmann kämpfte mit aller Kraft gegen das Kielwasser einer Trireme an, die in Richtung auf das offene Meer vorüberzog. Das Wasser lief von den Blättern der in drei Reihen übereinander angeordneten Ruder, bevor sie wieder eingetaucht wurden. Hinter dem Dreiruderer sah Anna, wie Männer in zwei beinahe kreisrunden Booten die Segel herabließen und sich dann bemühten, ihren Anker genau an der richtigen Stelle zu werfen. Ob sie wohl vom Schwarzen Meer gekommen waren? Welche Art von Waren mochten sie gebracht haben?

Inzwischen war das Fährboot schon fast in Reichweite des steinernen Anlegers, wo das Wasser im Schutz der mächtigen Wellenbrecher eine glatte Fläche bildete. Von irgendwoher übertönte schrilles Lachen den Wellenschlag und das Geschrei der Möwen.

Der Fährmann ruderte sein Boot so dicht an den Anleger, dass es leicht dagegenstieß. Sie entlohnte ihn mit vier Kupfermünzen, sah ihn flüchtig an, stand auf und setzte den Fuß an Land, woraufhin er Simonis beim Aussteigen half.

Als Nächstes mussten sie jemanden für den Transport ihres Gepäcks finden und ein Gasthaus suchen, wo sie essen und unterkommen konnten, bis sie eine Möglichkeit hatte, ein Haus zu mieten und dort ihre Praxis einzurichten. In dieser Stadt würde ihr der gute Name des Vaters nicht weiterhelfen und sie anderen empfehlen wie in ihrer Heimatstadt Nikaia, der nur einen Tagesritt entfernt südöstlich auf der anderen Seite des Bosporus liegenden herrlichen alten Hauptstadt Bithyniens. Hier war sie auf sich allein gestellt, hatte zu ihrer Unterstützung lediglich ihre beiden Dienstboten Leo und Simonis, auf deren Treue sie sich allerdings in jeder Hinsicht verlassen konnte. Obwohl ihnen die lebenspraktischen Konsequenzen ihres verwegenen Plans bekannt waren, hatten sie sie freiwillig begleitet.

Auf den abgetretenen Steinplatten des Anlegers bahnte sie sich ihren Weg zwischen Töpferwaren, Marmortafeln, exotischen Hölzern, Ballen, die Wolle, Rohseide oder Teppiche enthielten, sowie Stapeln von kleinen Säcken, denen die Aromen fremdländischer Gewürze entströmten. Sie vermischten sich mit dem scharfen Geruch von Fisch, Fellen, menschlichem Schweiß und Dung.

Zweimal sah sie sich nach Leo und Simonis um. Sie war im Bewusstsein dessen aufgewachsen, dass Konstantinopel der Dreh – und Angelpunkt der Welt war, der Ort, an dem sich alle Wege zwischen Europa und Asien kreuzten, und sie war stolz darauf gewesen. Jetzt fühlte sie sich von dem Gewirr fremder Sprachen überwältigt, die außer dem Griechisch der Byzantiner an ihr Ohr drangen.

Ein Mann mit einem schweren Sack auf den Schultern stieß sie an, murmelte etwas und ging weiter. Schweiß lief ihm über den nackten Rücken. Ein mit Töpfen und Küchengerät aller Art behängter Kesselflicker lachte laut und spie auf den Boden. Ein Moslem, der in einen schwarzen Seidenkaftan gekleidet war und einen Turban auf dem Kopf trug, schritt stumm vorüber.

Anna ging auf die andere Straßenseite, von Leo und Simonis dicht gefolgt. Dort ragten die Häuser teils vier, teils fünf Stockwerke hoch empor, und die Gassen zwischen ihnen waren schmaler, als sie angenommen hatte. Unangenehm stieg ihr der strenge Geruch nach Salz und abgestandenem Wein in die Nase. Der dort herrschende Lärm erschwerte es, sich verständlich zu machen. Sie schritt einen kleinen Hügel hinauf, fort vom Anleger.

Zu beiden Seiten lagen Läden und darüber Wohnungen, wie an der aus den Fenstern hängenden Wäsche deutlich zu erkennen war. Schon hundert Schritte weiter war es ruhiger. Der Duft von frischem Brot aus einer Bäckerei, an der sie vorüberkamen, ließ sie mit einem Mal an ihr Zuhause denken.

Es ging weiter nach oben. Der Kasten mit ihren medizinischen Gerätschaften war schwer, ihre Arme schmerzten. Für Leo musste es noch schlimmer sein, denn er schleppte die schweren Kisten, während Simonis einen Sack mit Kleidungsstücken trug.

Sie blieb stehen und setzte ihre Last einen Augenblick ab. »Wir müssen für heute Nacht eine Unterkunft finden oder zumindest einen Ort, an dem wir unsere Habe unterstellen können. Außerdem brauchen wir etwas zu essen. Seit dem Frühstück sind über fünf Stunden vergangen. «

»Sechs«, sagte Simonis. »Ich hab im Leben noch nicht so viele Menschen gesehen.«

»Soll ich dir das abnehmen?«, fragte Leo. Sein Gesicht zeigte, dass er müde war. Seine Last wog deutlich mehr als das, was Simonis oder Anna zu tragen hatten.

Ohne darauf einzugehen, nahm Simonis ihren Sack wieder auf und begann erneut auszuschreiten.

Ein Stück weiter stießen sie auf ein Gasthaus, in dem sie nicht nur zu essen bekamen, sondern auch ein Nachtlager. Frische Leintücher bedeckten die mit Gänsedaunen gefüllten Matratzen. Jeder Raum verfügte über ein großes Waschbecken und eine Latrine mit einem gemauerten Ablauf. Pro Person und Nacht verlangte der Wirt acht Kupfermünzen; die Mahlzeiten waren zusätzlich zu bezahlen. Zwar war das viel Geld, doch bezweifelte Anna, dass sie woanders etwas deutlich Billigeres finden würde.

Sie wagte sich nicht recht auf die Straße, weil sie fürchtete, wieder etwas falsch zu machen, sich wie eine Frau zu verhalten oder auszudrücken oder falsch zu reagieren. Dann würde man auf sie aufmerksam werden und möglicherweise den Unterschied zwischen ihr und einem wirklichen Eunuchen erkennen.

Zu Mittag aßen sie in einer Schenke frisch gefangene Meeräsche und Weißbrot. Bei dieser Gelegenheit erkundigte sich Anna nach einer billigeren Unterkunft.

»Geht ein Stück weiter westwärts«, riet ihnen ein Tischgenosse, ein grauhaariger Mann in einem abgetragenen Kittel, der ihm gerade bis zu den Knien reichte. Seine Beine hatte er zum Schutz gegen die Kälte so mit Stoffstreifen umwickelt, dass sie ihn bei der Arbeit nicht behinderten. »Je weiter draußen, desto billiger. Ihr seid hier fremd?«

Es gab keinen Grund, das zu bestreiten. »Aus Nikaia«, teilte ihm Anna mit.

»Ich komme aus Sestos«, sagte er mit einem Lächeln, bei dem eine Zahnlücke sichtbar wurde. »Aber früher oder später landen alle hier.«

Anna dankte ihm für die Auskunft, und am nächsten Tag mieteten sie einen Esel, der ihr Gepäck zu einem weniger teuren Gasthof am westlichen Rand der Stadt nahe der Mauer brachte, unweit des St. Charisios-Tores.

In jener Nacht lag sie auf ihrem Lager und lauschte auf die unvertrauten Geräusche der Stadt Konstantinopel um sie herum. Von klein auf hatten ihr Eltern und Großeltern Geschichten über das Herz des byzantinischen Reiches erzählt, doch jetzt, da sie dort war, kam ihr alles so sonderbar vor, dass es sich kaum erfassen ließ.

Natürlich würde sie nichts erreichen, wenn sie in ihrer Unterkunft blieb, und so würde sie sich, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, gleich am nächsten Morgen aufmachen müssen, um ein Haus zu suchen, in dem sie ihre Praxis einrichten konnte.

Trotz ihrer Müdigkeit wollte der Schlaf nicht kommen, und sie fürchtete, in ihren von fremden Gesichtern erfüllten Träumen unterzugehen.

Aus den Berichten des Vaters wusste sie, dass die Stadt an drei Seiten von Wasser umgeben war. Die Hauptstraße mit Namen Mese, hatte er ihr erklärt, führte ostwärts ans Meer, gabelte sich nach Westen hin und lief auf zwei Stadttore zu. An ihr lagen alle bedeutenden Bauwerke: die Hagia Sophia, das Konstantins-Forum, das Hippodrom, den alten Palast der byzantinischen Kaiser und außerdem selbstverständlich eine Unzahl von Geschäften mit ihrem verlockenden Angebot an herrlichen Handwerkserzeugnissen, Seidenstoffen, Gewürzen und Edelsteinen.

In der Kühle des frühen Morgens brachen sie auf und schritten in dem Gassengewirr, das die ganze Stadt vom ruhigen Wasser des Goldenen Horns im Norden bis zum Marmarameer im Süden durchzog, rasch aus. An buchstäblich jeder Straßenecke drängten sich Menschen vor den Bäckereien. Mehrere Male mussten sie stehen bleiben und beiseitetreten, um hoch mit Obst und Gemüse beladene Eselskarren vorbeizulassen, die zum Markt strebten.

Gerade als sie die ungeheuer belebte breite Hauptstraße Mese erreichten, schwankte ein Kamel vorüber. Ihm folgte ein Mann, den das Gewicht eines Baumwollballens fast zu Boden drückte. Außer den einheimischen griechischen Byzantinern sah man Moslems mit Turbanen, Bulgaren mit kurzgeschorenem Haar, dunkelhäutige Ägypter, blauäugige Nordländer und Mongolen mit hohen Wangenknochen. Die Größe der Stadt, das pralle Leben, die grellen Farben von Kleidungsstücken und Sonnensegeln vor den Geschäften, Lila und Scharlachrot, Blau und Gold, Aquamarin, Weinrot und Rosa, erfüllten Anna mit ängstlicher Scheu. Ob sich all diese Menschen hier ebenso fremd vorkamen wie sie?

Sie wusste nicht recht, was sie zuerst tun sollte. Auf jeden Fall musste sie Erkundigungen einziehen und möglichst viel über die Wohnbezirke in Erfahrung bringen, die für die Suche nach einem Haus infrage kamen.

»Die Stadt ist so groß, dass man ohne Plan überhaupt nicht weiß, wo man ist«, sagte Leo mit gerunzelter Stirn.

» Wir müssen unbedingt ein gutes Wohnviertel finden«, fügte Simonis hinzu. Auch wenn sie wahrscheinlich voll Sehnsucht an das Haus dachte, das sie in Nikaia verlassen hatten, war ihr Wunsch herzukommen beinahe ebenso stark gewesen wie der Annas. Deren Zwillingsbruder Ioustinianos, den Anna hier suchen wollte, war schon immer ihr Augenstern gewesen, und als er Nikaia verlassen hatte, um nach Konstantinopel zu gehen, hatte das Simonis tief bekümmert. Als sein letzter verzweifelter Brief gekommen war, in dem er der Schwester über seine Verbannung berichtete, hatte Simonis sogleich darauf bestanden, dass man ihren Liebling unbedingt und um jeden Preis retten müsse. Leo hingegen hatte seinen kühlen Kopf bewahrt und nicht nur darauf bestanden, dass man zuerst überlegen müsse, was sich überhaupt tun ließ, sondern sich auch sogleich Gedanken um Annas Sicherheit gemacht.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ein Geschäft fanden, das mit Handschriften handelte. Als sich Anna dort nach einem Plan erkundigte, öffnete der schmächtige weißhaarige Inhaber mit bereitwilligem Lächeln eine Schublade, zog mehrere Schriftrollen heraus, entrollte eine von ihnen und zeigte ihr die mit schwarzer Tusche gezeichnete annähernd dreieckige Anlage der Stadt.

»Seht Ihr? Vierzehn Bezirke. Hier habt Ihr die Mese«, er deutete auf die Zeichnung, »da ist die Konstantins-Mauer und westlich von ihr die Mauer des Theodosius. Der Plan zeigt alles bis auf Galata, den dreizehnten Bezirk im Norden, auf der anderen Seite des Goldenen Horns. Aber dahin werdet Ihr nicht wollen – das ist etwas für Ausländer.« Er rollte den Plan wieder zusammen und schob ihn ihr hin. »Das macht zwei Solidi.«

Seine Äußerung über die Ausländer erstaunte sie, und sie argwöhnte, dass er sie übervorteilte. Trotzdem gab sie ihm das Geld.

Während sie der Mese weiter folgten, bemühten sie sich, nicht auffällig zu starren, um nicht als Provinzler erkannt zu werden. In langen Reihen zogen sich Händlerbuden an der Straße entlang. Obwohl die farbenfrohen Sonnensegel davor gegen den beständigen Wind an hölzernen Pfosten festgezurrt waren, knallten sie laut bei jeder Bö. Man hätte sie für Lebewesen halten können, die sich befreien wollten.

Im ersten Bezirk war die Luft schwer von den Gerüchen, die aus den Läden der Gewürz – und Spezereikrämer drangen. Begierig sog Anna den Duft ein. Zwar hatte sie weder Zeit noch Geld übrig, doch sah sie unwillkürlich hin und blieb einen Augenblick stehen, um die Schönheit der Auslagen zu bewundern. Nichts war dem Gelb des Safrans zu vergleichen und nichts den vielen Brauntönen des Muskats. Sie kannte den medizinischen Wert selbst der seltensten all dieser Erzeugnisse. Daheim in Nikaia hatte sie derlei eigens bestellen und für den Transport zusätzlich zahlen müssen, während hier alles einfach so dalag, als handele es sich um gewöhnliche Güter.

»Die Leute in der Stadt scheinen viel Geld zu haben«, bemerkte Simonis mit einer Spur Missbilligung in der Stimme.

»Vor allem werden sie keinen Arzt brauchen, weil sie bereits einen haben«, gab Leo zu bedenken.

Inzwischen hatten sie die Stände der Duftwasserhändler erreicht. Dort drängten sich weit mehr Frauen als an anderen Stellen. Ein großer Teil von ihnen war unübersehbar wohlhabend. Sie alle trugen, wie es der Brauch verlangte, eine vom Hals bis fast auf den Boden reichende Dalmatika und auf dem Haar einen Kopfputz samt Schleier. Als ihnen eine Frau im Vorübergehen zulächelte, fiel Anna auf, dass ihre Lippen von Rötel leuchteten und ihre Brauen und vielleicht auch Wimpern leicht nachgefärbt waren.

Lachend begrüßte sie eine Bekannte, mit der sie ein Duftwasser nach dem anderen ausprobierte. Die bestickte Brokatseide ihrer Dalmatika bewegte sich im leichten Wind wie die Kelchblätter einer Blume. Anna beneidete die beiden um ihre Unbeschwertheit.

Ihre Patientinnen würden wohl einfachere Frauen sein, aber sie musste auch Männer finden, wenn sie erfahren wollte, warum der Kaiser seinen Günstling Ioustinianos von einem Tag auf den anderen in die Verbannung geschickt hatte. Dabei konnte ihr Bruder von Glück sagen, dass er noch lebte. Was mochte dahinterstecken, und was würde sie tun müssen, um zu erreichen, dass der Bann wieder aufgehoben wurde?



Am folgenden Tag verließen sie im Einvernehmen miteinander die unmittelbare Umgebung der Mese und drangen weiter in die Seitengassen mit ihren kleinen Läden und in die Wohnbezirke nördlich der Stadtmitte vor, die fast unmittelbar unter den riesigen Bögen des zweistöckigen Valens-Aquädukts lagen und von denen aus man gelegentlich einen Blick auf das in der Ferne schimmernde Wasser des Goldenen Horns erhaschte.

In einer Gasse, die kaum breit genug war, dass zwei Esel aneinander vorübergehen konnten, entdeckten sie zu ihrer Linken eine Treppe. In der Hoffnung, sich von oben besser orientieren zu können, stiegen sie hinauf. Dabei wäre Anna beinahe über Geröllbrocken gestolpert, die auf den Stufen lagen.

Unversehens endete die Treppe in einem kleinen Hof. Anna sah sich verblüfft um. Alle Mauern um sie herum waren beschädigt. Die eine wies Löcher auf, wo Steine herausgefallen waren, eine andere zeigte schwarze Brandspuren. Steine und Bruchstücke von Ziegeln lagen auf einem zerstörten Mosaikfußboden, und hochrankende Schlingpflanzen bedeckten alle Türen. Nur ein kleiner Turm stand noch vergleichsweise unversehrt, auch wenn an ihm offensichtlich Flammen emporgezüngelt hatten. Leo sah sich schweigend und mit bleichem Gesicht um, während Simonis ein Schluchzen unterdrückte.

Hier hatten sie das Entsetzen des Jahres 1204 sozusagen greifbar vor sich, als liege der Einfall der Mordbrenner erst wenige Jahre und nicht mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Jetzt verstanden sie so manches andere, was sie in den letzten Tagen gesehen hatten: zerstörte Kaianlagen und ganze Straßenzüge mit Häusern, die nach wie vor in von Unkraut überwucherten Trümmern lagen. Das war die Ursache für die Armut in einer Stadt, die man auf den ersten oberflächlichen Blick für die reichste der Welt halten konnte. Zwar waren ihre Bewohner schon vor über einem Jahrzehnt aus dem Exil zurückgekehrt, doch die Wunden der Eroberung mit all ihren grauenhaften Begleiterscheinungen waren noch längst nicht verheilt.

Anna wandte sich ab, als sie spürte, wie Entsetzen sich ihrer bemächtigte. Trotz der kräftigen Frühlingssonne überlief sie ein kalter Schauer hier im Windschatten, wo es eigentlich hätte warm sein müssen.



Bis zum Ende der Woche hatten sie ein Haus gefunden. Es lag in einer angenehmen Wohngegend an einem Hang nördlich der Mese zwischen den beiden großen Mauern. Das Haus war klein, befand sich aber in gutem Zustand und hatte schöne geflieste Böden. Vor allem der Innenhof mit seinem einfachen Mosaikboden und den Weinreben, die bis zum Dach emporrankten, gefiel Anna. Aus einigen der Fenster konnte man den Lichtschimmer über dem Goldenen Horn sehen, kleine blaue Flecken zwischen den Dächern, die ihr den Eindruck von Unendlichkeit vermittelten und ihr fast ein Gefühl gaben, als könne sie fliegen.

Trotz einiger abschätziger Bemerkungen über die Küche, die Simonis machte, erkannte Anna an der Art, wie sie sich alles genau ansah und die Marmorflächen, das tiefe Wasserbecken und den schweren Tisch berührte, dass sie ihr zusagte. Daneben lag ein kleiner Vorratsraum mit Regalen und Schubladen. Vor allem aber gab es, wie in allen besseren Stadtteilen, reichlich sauberes Wasser, das allerdings leicht salzig schmeckte.

Das Haus war geräumig und enthielt außer dem Esszimmer, einem Behandlungszimmer und einem Vorraum, in dem Patienten warten konnten, so viele Räume, dass jedem der drei ein eigener Schlafraum zur Verfügung stand. Darüber hinaus gab es noch eine Kammer, deren Tür Leo mit einem Vorhängeschloss sicherte. Dort wollte Anna ihre Kräuter, Salben, Tinkturen sowie ihre Skalpelle, Nadeln und dergleichen aufbewahren. Sie stellte einen hölzernen Schrank mit mehreren Dutzend kleinen Schubladen hinein, die ihre Kräuter, Blätter und Wurzeln aufnehmen sollten. Um Verwechslungen vorzubeugen, beschriftete sie jede einzelne Schublade.

Doch trotz des Hinweisschildes am Eingang, das ihren Beruf anzeigte, kamen keine Patienten. Also musste sie dafür sorgen, dass ihre Anwesenheit und ihre Fähigkeiten den Menschen in der Stadt bekannt wurden. Mit diesem Vorhaben fand sie sich eines Tages um die Mittagszeit im grellen Sonnenlicht und scharfen Wind auf den Stufen vor einer Schenke wieder. Sie öffnete die Tür und trat ein, schritt durch die Menge und sah einen Tisch mit einem freien Platz. Alle anderen waren von Männern besetzt, die aßen und erregt miteinander sprachen. Zumindest einer von ihnen war ein Eunuch, ein hochgewachsener Mann mit langen Armen, weichen Gesichtszügen und einer zu hohen Stimme, die deutlich zeigte, mit wem man es zu tun hatte.

»Darf ich mich setzen?«, fragte sie.

Während keiner der anderen auf ihre Frage achtete, machte der Eunuch eine einladende Handbewegung. Vielleicht freute er sich, seinesgleichen zu sehen.

Ein Kellner kam und zeigte, was es zu essen gab: kleingeschnittenes Schweinefleisch in einer Tasche aus Weizenbrot.

Sie dankte dem Kellner und sagte in die Runde: »Ich heiße Anastasios Zarides und bin Arzt. Ich bin gerade frisch in das Haus mit der blauen Tür eingezogen, das gleich oben auf dem Hügel steht.«

Einer der Männer zuckte die Achseln und stellte sich ebenfalls vor. Gutmütig sagte er: »Ich werd dran denken, wenn ich mal krank bin. Falls Ihr Wunden nähen könnt, bleibt Ihr am besten gleich hier. Sobald wir mit unserem Streit fertig sind, gibt es bestimmt Arbeit für Euch.«

Sie war nicht sicher, ob das als Scherz gemeint war, und wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte. Sie hatte schon von der Tür aus laute Stimmen gehört. »Ich habe Nadel und Seidenfaden«, erklärte sie.

Einer der anderen lachte. »Wenn man uns überfällt, werdet Ihr mehr als das brauchen. Wie gut versteht Ihr Euch auf die Auferweckung von Toten?«

»Ich habe es nie versucht«, sagte sie so gleichmütig, wie sie konnte. » Wäre das nicht eher ein Fall für einen Priester?«

In dem allgemeinen Gelächter, das darauf folgte, hörte sie einen Unterton von Furcht und begann auf die unterschwelligen Signale zu achten, die ihr nicht aufgefallen waren, während sie sich bemüht hatte, ein Haus zu finden und ihre Praxis zu eröffnen.

»Was für eine Art Priester?«, fragte einer der Männer scharf. »Ein orthodoxer oder ein römischer? Auf welcher Seite steht Ihr?«

»Auf der orthodoxen«, sagte sie ruhig. Sie hielt es für richtig, auf die Herausforderung einzugehen, denn mit Schweigen würde sie die anderen täuschen.

»In dem Fall solltet Ihr mit mehr Nachdruck beten«, teilte er ihr mit. »Gott weiß, dass wir das brauchen werden. Nehmt einen Schluck Wein.«

Während sie ihm ihr Glas hinhielt, spürte sie, dass ihre Hand zitterte. Rasch setzte sie es auf den Tisch. »Danke.« Als es gefüllt war, hob sie es und zwang sich zu lächeln. »Ich trinke auf Eure Gesundheit … vielleicht abgesehen von Nesselfieber oder einem leichten Hautausschlag. Ich verstehe mich darauf, das zu heilen, und es kostet nicht viel.«

Unter allgemeinem Lachen hoben die Männer ihre Gläser.

Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
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