KAPİTEL 4
Bei ihren Versuchen, nach Möglichkeit mit allen Nachbarn zu sprechen, war Anna bereit, Zeit für Gespräche über das Wetter, die Politik, Religion oder worüber auch immer sie reden wollten, aufzuwenden. »Ich kann nicht länger stehen«, sagte nach einer Weile ein Mann, mit dem sie sich unterhielt. Es war Pavlos, ein Ladenbesitzer. »Meine Füße tun so weh, dass ich kaum in die Schuhe komme.«
»Lasst sehen, ob ich Euch helfen kann«, machte sie sich erbötig.
»Es genügt mir, wenn ich eine Möglichkeit habe, mich hinzusetzen«, sagte er und verzog das Gesicht.
»Ich bin Arzt. Vielleicht kann ich etwas für Euch tun.« Mit ungläubigem Blick folgte Pavlos ihr unsicheren Schritts über das holprige Steinpflaster, bis sie die geringe Entfernung zu ihrem Haus zurückgelegt hatten. Dort untersuchte sie seine geschwollenen Füße und die Knöchel. Das Fleisch war gerötet und schmerzte bei jeder Berührung.
Sie füllte eine Schüssel mit kaltem Wasser und gab adstringierende Kräuter hinein. Pavlos zuckte zusammen, als er die Füße hineinstellte, doch dann sah sie, wie sich seine Muskeln allmählich entspannten und ein Ausdruck von Erleichterung auf seine Züge trat. Es war vor allem die Kälte des Wassers, die das Brennen seiner Füße linderte. Ihr war sofort klar, dass er in Wahrheit eine andere Ernährungsweise brauchte, doch würde sie ihm das auf geschickte Art beibringen müssen. Sie erklärte, gekochter Reis mit Gewürzen werde ihm guttun, auch sei es in seinem Fall ratsam, Obst zu meiden, mit Ausnahme von Äpfeln, vorausgesetzt, er könne um diese Jahreszeit welche finden.
»Außerdem solltet Ihr viel Quellwasser trinken«, fügte sie hinzu. »Es muss unbedingt Quellwasser sein, auf keinen Fall Wasser aus Teichen, Flüssen, Brunnen oder Regenwasser.«
»Quellwasser?«, fragte er ungläubig.
»Ja. Das richtige Wasser tut Euch gut. Kommt jederzeit wieder, wenn Ihr wollt, und ich werde Eure Füße erneut in einer Kräuterlösung baden. Möchtet Ihr einige Kräuter mitnehmen?«
Der Mann nahm das Angebot dankbar an und zahlte aus der Börse an seinem Gürtel. Sie sah ihm nach, wie er davonhinkte, und wusste, dass er wiederkommen würde.
Pavlos empfahl sie weiter. Sie fuhr fort, die Läden im Umkreis von
etwa einer Meile um ihr Haus herum aufzusuchen, sprach stets mit
dem Inhaber und, sofern sich eine Gelegenheit dazu ergab, auch mit
Kunden.
Sie wusste nicht, wie weit sie ihren Vorlieben nachgeben durfte. Als Frau hatte sie stets gern Seide auf ihrer Haut gespürt, es genossen, wie sie ihr weich durch die Finger glitt und auf dem Boden mit flüssiger Bewegung in sich zusammensank. Jetzt hielt sie ein Stück Seide hoch und sah zu, wie die Farben darauf spielten, je nachdem, ob das Licht auf die Kett – oder auf die Schussfäden traf. Tiefes Blau wurde über Pfauenblau zu Grün, Rot verwandelte sich über Magenta zu Lila. Am liebsten hatte sie früher einen leuchtenden Pfirsichton getragen, der wunderbar zu ihrem kastanienbraunen Haar passte. Vielleicht konnte sie das nach wie vor tun. Eitelkeit war nicht unbedingt eine weibliche Eigenart, ebenso wenig wie die Freude an schönen Dingen.
Sobald sie einen weiteren Patienten und mehr als zwei Solidi verdient hatte, würde sie zurückkommen und dieses Stück Seide kaufen.
Sie trat hinaus in den vom Meer heraufwehenden Wind. Die kühle Berührung der Seide hatte ihr die Vergangenheit mit einem Schlag ins Gedächtnis gerufen.
Gemessenen Schrittes ging sie die ansteigende schmale Straße empor. Es war eine der vielen, die man nach der Rückkehr der Bewohner aus dem Exil noch nicht wieder repariert hatte. Nach einer Weile musste sie einem Lastkarren ausweichen. Überall sah man zerstörte Mauern und fensterlose Häuser, die nach wie vor Brandspuren trugen. Die Trostlosigkeit der Umgebung ließ sie ihre Einsamkeit als besonders bedrückend empfinden.
Sie hatte gewusst, warum Ioustinianos nach Konstantinopel gegangen war, aber keine Möglichkeit gehabt, ihn daran zu hindern. In welche Wirren und leidenschaftliche Auseinandersetzungen mochte er geraten sein, dass man ihn des Mordes beschuldigte? Das musste sie unbedingt in Erfahrung bringen. Konnte es Liebe gewesen sein? Im Unterschied zu ihr war er in seiner Ehe glücklich gewesen.
Ein wenig hatte sie ihn darum beneidet, doch jetzt musste sie den schweren Kummer herunterschlucken, der ihr wie ein Kloß in der Kehle steckte. Sie würde alles geben, was sie besaß, wenn sie ihm damit erneut sein einstiges glückliches Leben ermöglichen könnte. Doch sie besaß nichts außer ihren medizinischen Fähigkeiten, und die hatten nicht genügt, seine Gemahlin Katharina zu retten. Ein Fieber hatte sie aufs Lager geworfen, und zwei Wochen später war sie ihm erlegen.
Anna hatte sich darüber gegrämt, weil auch sie Katharina gern gehabt hatte, doch für Ioustinianos war es gewesen, als hätte sie mit ihrem Dahinscheiden das Licht um ihn herum mit sich genommen. Anna hatte das miterlebt und unter seinen Qualen gelitten, als seien es ihre eigenen. Doch nicht einmal die von frühester Kindheit an bestehende Nähe zwischen den Geschwistern hatte ihm über den Verlust hinweggeholfen.
Sie hatte gesehen, wie er sich veränderte. Es war, als verblutete er allmählich. Mit seinem Verstand hatte er nach Gründen gesucht, nach Antworten auf seine Fragen. Als wagte er nicht, in sein Herz zu blicken, hatte er seine Zuflucht zur Lehre der Kirche genommen, doch Gott hatte sich ihm entzogen.
Vor zwei Jahren schließlich hatte er an Katharinas Todestag erklärt, er werde nach Konstantinopel gehen. Anna hatte es nicht vermocht, in seinem Schmerz zu ihm vorzudringen, und hilflos zusehen müssen, wie er davonging.
Er hatte häufig geschrieben und ihr über alles berichtet, nur nicht über sich selbst. Dann war jener letzte entsetzliche Brief gekommen, den er in aller Eile verfasst hatte, bevor er in die Verbannung aufbrach. Danach war nichts mehr gewesen, nur noch Stille und Schweigen.
Anfang Juni, sie war inzwischen zweieinhalb Monate in der Stadt, suchte ein hochgewachsener, hagerer Mann mit asketischen Zügen sie auf. Er stellte sich ihr als Basilios vor und erklärte, dass er auf Pavlos’ Empfehlung hin komme.
Während sie sich im Behandlungszimmer nach seinem Gesundheitszustand erkundigte, musterte sie ihn aufmerksam. Sein Körper war sonderbar verkrampft, und sie kam zu dem Ergebnis, dass seine Schmerzen stärker sein mussten, als er zugab.
Sie bat ihn, Platz zu nehmen, doch er erklärte, er wolle lieber stehen bleiben. Daraus schloss sie, dass der Schmerz im Unterleib und in der Leistengegend sitzen musste und eine Veränderung der Haltung ihn verstärken würde. Nachdem sie ihn um Erlaubnis gebeten hatte, berührte sie seine Haut, die sich heiß und sehr trocken anfühlte. Dann tastete sie nach seinem Puls. Er war regelmäßig, aber recht schwach.
»Ich empfehle Euch, zumindest einige Wochen lang weder Käse noch Milch zu verzehren«, sagte sie. »Trinkt so viel Quellwasser, wie Ihr könnt. Ihr dürft es auch gern mit Saft oder Wein vermischen, wenn Euch das lieber ist.« Sie sah die Enttäuschung auf seinen Zügen. »Außerdem gebe ich Euch eine Tinktur gegen die Schmerzen mit. Wo wohnt Ihr?«
Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Es ist besser, Ihr kommt jeden Tag her. Die Dosis des Mittels muss genau stimmen. Wenn sie zu gering ist, bleibt es ohne Wirkung, zu viel aber würde Euch töten. Ich habe nur eine kleine Menge im Vorrat, werde aber mehr beschaffen. «
Mit einem Lächeln fragte er: »Könnt Ihr mich heilen?«
»Ihr habt einen Blasenstein«, teilte sie ihm mit. »Wenn er herauskommt, wird das schmerzen, aber danach ist die Sache vorbei.«
»Ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit«, sagte er ruhig. »Ich werde die Tinktur nehmen und jeden Tag kommen.«
Sie gab ihm eine winzige Menge ihrer kostbaren thebanischen Opiumtinktur. In manchen Fällen fügte sie ihr andere Mittel hinzu wie Nieswurz, Alraune, Eisenhut, Bilsenkraut oder sogar Lattichsamen, doch da sie nicht wollte, dass er das Bewusstsein verlor, gab sie sie ihm unvermischt.
Basilios kam regelmäßig wieder, und wenn sie gerade keine anderen Patienten hatte, blieb er eine Weile, und sie redeten miteinander. Von diesem liebenswürdigen, klugen und offensichtlich gebildeten Mann, der vieles zu wissen schien, hoffte sie etwas zu erfahren.
Auf das Thema, das ihr am Herzen lag, kam sie zu Beginn der zweiten Behandlungswoche zu sprechen. Sie saßen in der Küche. Anna hatte einen Aufguss aus Minze und Kamille gemacht, und sie nippten nur daran, weil er noch heiß war.
»Ja, ich habe Bessarion Komnenos gekannt«, sagte er mit leichtem Achselzucken. »Das Vorhaben, unsere Kirche mit der römischen zu vereinigen, hat ihn sehr beschäftigt. Wie so vielen anderen in der Stadt war ihm die Vorstellung zuwider, man könne dem Papst den Vorrang vor unserem Patriarchen einräumen. Ganz abgesehen von der damit verbundenen Kränkung und dem Verlust unserer Eigenständigkeit, wäre das ausgesprochen unpraktisch. Jede Bitte um Rat, Unterstützung oder eine Erlaubnis würde sechs Wochen brauchen, bis sie nach Rom gelangte und weitere sechs Wochen für den Rückweg hierher. Wer weiß, wie lange es außerdem dauern würde, bis sich der Papst damit beschäftigte? Bis dahin könnte es zu spät sein.«
»Gewiss«, stimmte sie zu. »Darüber hinaus ist es doch wohl auch eine Frage des Geldes. Wir können es uns kaum erlauben, die Kircheneinnahmen aus dem Zehnten und den Opfergaben nach Rom zu schicken.«
Er stöhnte so heftig auf, dass sie einen Augenblick lang fürchtete, er habe Schmerzen.
Mit entschuldigendem Lächeln gab er zur Antwort: »Zwar leben wir wieder in unserer eigenen Stadt, aber wir stehen am Rande des wirtschaftlichen Ruins. Uns fehlen sogar die Mittel, sie wieder aufzubauen, so dringend das nötig wäre. Die Hälfte unseres einstigen Handels ist an die Araber gefallen, und da uns Venedig nahezu alle heiligen Reliquien geraubt hat, setzt jetzt kaum noch ein Pilger seinen Fuß in unsere Stadt.«
Anna nickte zustimmend und nahm einen kleinen Schluck von ihrem Tee.
» Vor allem«, fuhr er fort, »geht es aber um die uns fragwürdig erscheinende filioque-Klausel. Rom lehrt, dass der Heilige Geist sowohl von Gottvater als auch vom Sohn ausgeht, womit beide gleichermaßen Gott sind, während es unserer festen Überzeugung nach nur einen Gott gibt, nämlich Gottvater. Alles andere ist eine Lästerung, die wir nicht zulassen dürfen!«
»Und Bessarion war also gegen den Zusammenschluss?«, fragte sie. Wie konnte jemand nur auf den Gedanken verfallen, der fest im orthodoxen Glauben verwurzelte Ioustinianos habe den Mann umgebracht? Es ergab einfach keinen Sinn.
»Aus tiefster Seele«, stimmte Basilios zu. »Als Abkömmling des alten Kaiserhauses der Komnenen liebte er die Stadt und das Leben darin. Seiner festen Überzeugung nach würde ein Zusammenschluss mit Rom den wahren Glauben vergiften und letzten Endes alles zerstören, was uns am Herzen liegt.«
»Was würde er denn dagegen unternehmen«, fragte sie, »wenn er noch lebte?«
Basilios zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht recht. Er hat viel darüber gesprochen, aber wenig getan. Immer hieß es ›morgen‹, und wie Ihr wisst, hat es für ihn eines Tages kein Morgen mehr gegeben.«
»Ja, ich habe gehört, jemand habe ihn ermordet.« Es fiel ihr schwer, die Worte herauszubringen.
Basilios sah auf die Tischplatte und seine knochige Hand, in der er den Becher mit dem Minze-Aufguss hielt. »Ja, Antonios Kyriakis. Man hat ihn dafür hingerichtet.«
»Und was ist mit Ioustinianos Laskaris?«, sondierte sie vorsichtig. »Hat es auch gegen ihn ein Gerichtsverfahren gegeben?«
Er hob den Blick. »Selbstverständlich. Der Kaiser selbst hatte den Vorsitz. Allem Anschein nach hatte Ioustinianos dem Mörder geholfen, die Tat wie einen Unfall erscheinen zu lassen, indem sie den Leichnam beiseiteschafften. Ich nehme an, sie dachten, man würde ihn nie finden. Das Urteil lautete auf lebenslängliche Verbannung.«
Sie schluckte. » Wie kann man es denn anstellen, dass eine Leiche nicht gefunden wird?«
»Sie haben Bessarion ins Meer geworfen. Die Netze, in denen man ihn gefunden hat, stammten angeblich aus Ioustinianos’ Boot.«
»Aber das beweist doch nicht, dass er davon gewusst hat!«, begehrte sie auf. »Vielleicht hatte Antonios kein Boot, und er hat sich einfach das von Ioustinianos genommen.«
»Die beiden waren eng befreundet«, gab Basilios ruhig zurück. »Antonios hätte nie im Leben jemanden mit in die Sache hineingezogen, den er so gut kannte. Schließlich gab es eine ganze Anzahl von anderen Booten, die er hätte nehmen können.«
Das leuchtete ihr ein. »Aber würde jemand wie Ioustinianos solche verräterischen Hinweise hinterlassen, die ihn als Mittäter erscheinen ließen?« Sie kannte die Antwort. Sie selbst hätte nie einen solchen Fehler begangen, und das galt auch für ihn. »Steht überhaupt fest, dass Antonios schuldig war? Welchen Grund hätte er gehabt, Bessarion zu töten?«
Basilios schüttelte den Kopf. »Ich ahne es nicht. Vielleicht haben sie gestritten, dabei ist Bessarion über Bord gefallen und in Panik geraten. Es ist nicht einfach, jemandem aus dem Wasser zu helfen, der um sich schlägt – er bedeutet für andere eine ebenso große Gefahr wie für sich selbst.«
Anna stellte sich vor, wie Ioustinianos die Beherrschung verlor und heftiger zuschlug als beabsichtigt. Er war kräftig. Vielleicht hatte Bessarion das Gleichgewicht verloren, war untergegangen, nach Luft ringend wieder hochgekommen und hatte um Hilfe gerufen. Wäre Ioustinianos da in Panik geraten? Nie und nimmer, es sei denn, sein Charakter hätte sich ganz und gar verändert. Er war nie feige gewesen. Sofern er die Absicht gehabt hätte, Bessarion zu töten, hätte er die Leiche mit Steinen beschwert und wäre weit in den Bosporus hinausgerudert, um sie dort verschwinden zu lassen, wo niemand sie je finden würde.
Mit einem Mal fühlte sie sich sonderbar erleichtert. Hier hatte sie den ersten greifbaren Hinweis, etwas, woran sie sich halten konnte. Selbst wenn sie noch nicht wusste, was sich damit anfangen ließ, zeigte es ihr unwiderleglich, dass ihr Bruder schuldlos war. »Das klingt aber doch wirklich nach einem Unfall«, bemerkte sie.
»Möglich«, räumte Basilios ein. »Vielleicht hätte man es auch als solchen durchgehen lassen, wenn jemand anders das Opfer gewesen wäre.«
»Und warum nicht bei Bessarion?«
Basilios machte eine leichte Geste des Abscheus. »Helena, seine Witwe, ist sehr schön. Ioustinianos ist zwar fromm, sieht aber gut aus, ist wortgewandt, witzig und besitzt einen trockenen Humor. Als Witwer brauchte er sich keine Beschränkungen aufzuerlegen.«
»Ich verstehe …« Die Witwenschaft hatte in Anna ein tiefes Gefühl des Verlusts erzeugt, aber das war etwas anderes. Nach Eustathios’ Tod hatte sie Schuldbewusstsein und zugleich Erleichterung empfunden. Er war nicht nur aus guter Familie und wohlhabend gewesen, sondern hatte auch an der Spitze seiner Krieger Mut und Geschick bewiesen. Mit seinem Mangel an Vorstellungskraft allerdings hatte er sie gelangweilt und schließlich abgestoßen. Außerdem war er brutal gewesen. Noch immer stieg Ekel in ihr auf, wenn sie nur daran dachte. Die Leere in ihrem Inneren schien sie so sehr anzufüllen, dass es ihr vorkam, als müsse sie aus ihrer Haut platzen. Sie war unvollständig, möglicherweise ebenso sehr wie der Eunuch, der zu sein sie vorspiegelte.
»Glaubt Ihr denn, dass sich Ioustinianos zu Helena hingezogen fühlte?«, fragte sie ungläubig. »Sagen die Leute das?«
»Nein.« Basilios schüttelte den Kopf. »Ich glaube eher, dass es sich um einen Streit handelte, bei dem einer der beiden die Beherrschung verlor – oder beide.«
Nach Basilios’ Weggang überprüfte sie ihre Bestände an Kräutern und Medikamenten. Sie brauchte mehr Opium. Das beste von allen kam aus Theben und musste aus Ägypten eingeführt werden, weshalb es nicht ohne weiteres erhältlich war. Unter Umständen würde sie sich mit einer minderen Qualität zufriedengeben müssen. Außerdem brauchte sie noch Bilsenkraut sowie Alraune und den Saft rankenden Efeus. Auch ihre Bestände an Alltagsmitteln wie Muskatnuss, Kampfer, Rosenöl und einigen anderen gängigen Medikamenten waren stark geschrumpft.
So machte sie sich am nächsten Morgen auf den Weg, um einen jüdischen Arzt und Kräuterhändler aufzusuchen, den man ihr empfohlen hatte. Wie alle Juden lebte er in Galata, dem dreizehnten Bezirk der Stadt, am gegenüberliegenden Ufer des Goldenen Horns. Sie nahm so viel Geld mit, wie auszugeben sie sich leisten konnte. Seit Basilios ihr Patient war, hatte sich ihre finanzielle Lage deutlich gebessert.
Trotz des frühen Vormittags war es schon ziemlich warm. Bis zum Hafen brauchte sie nicht weit zu gehen, und auf dem Weg dorthin genoss sie die Geräusche und das Gewirr der Menschen um sich herum. Ein angenehmer Geruch nach frischen Backwaren vermischte sich mit dem nach Salz, der vom Wasser herüberwehte.
Sie wartete, bis ein Fährboot nach Galata kam, und konnte es schon eine Viertelstunde später verlassen. In diesem Teil der Stadt sah sie so gut wie keine Pferde, denn es war Juden nicht erlaubt, sie zu reiten. Ganz allgemein schien er noch stärker in Mitleidenschaft gezogen zu sein als alles, was sie bisher gesehen hatte. Überall war die Armut deutlich zu erkennen, was sich nicht nur daran zeigte, dass die Menschen unbestickte Umhänge und Tuniken trugen.
Sie fragte sich zu Avram Schachars unauffälligem Häuschen an der Straße der Apotheker durch. Auf ihr Klopfen öffnete ein dunkelhäutiger schlanker Junge von etwa dreizehn Jahren. Seine Gesichtszüge wirkten eher semitisch als griechisch.
»Ja?«, fragte er in höflichem Ton, aber zugleich auch misstrauisch. Annas helle Haut, das kastanienfarbene Haar und ihre grauen Augen zeigten ihm deutlich, dass sie nicht seinem Volk angehörte; überdies wiesen ihre Gewänder und das bartlose Gesicht sie deutlich als Eunuchen aus.
»Ich bin Arzt«, sagte sie. »Ich heiße Anastasios Zarides und stamme aus Nikaia. Ich suche jemanden, der mir eine größere als die übliche Auswahl an Kräutern liefern kann. Man hat mir Avram Schachar empfohlen.«
Der Junge öffnete die Tür weiter und rief nach seinem Vater.
Aus dem hinteren Teil des Ladens kam ein Mann von etwa fünfzig Jahren herbei, dessen Haar graue Fäden durchzogen. Schwere Augenlider und eine kräftige Nase waren die Hauptmerkmale seines Gesichts. »Ich bin Avram Schachar. Was kann ich für Euch tun?«
Anna teilte ihm ihre Wünsche mit und fügte ihrer Bestellung noch Ambra und Myrrhe hinzu.
Schachars Augen leuchteten interessiert auf. »Für einen Arzt wie Euch sind das ungewöhnliche Mittel«, sagte er. Es war Christen nicht gestattet, sich ohne besonderen Dispens der Kirche von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen, und der wurde meist nur Wohlhabenden und Kirchenfürsten gewährt. Schachar erwähnte das nicht, doch war in seinen Augen zu lesen, dass er es wusste.
Sie erwiderte sein Lächeln. Sein Gesicht gefiel ihr. Der durchdringende und zugleich angenehme Geruch der Kräuter rief in ihr Erinnerungen an die Kräuterkammer ihres Vaters wach. Auf einmal sehnte sie sich nach der Vergangenheit zurück.
»Tretet näher«, sagte Schachar einladend, der ihr Schweigen als Zögern missverstand.
Sie folgte ihm ins Innere des Hauses zu einem kleinen Raum, der auf einen Garten ging. Mit Schnitzereien verzierte Regale und Kommoden standen an drei Wänden, und auf einem abgenutzten Holztisch in der Mitte sah man eine Messingwaage mit den zugehörigen Gewichten sowie einen Mörser und ein Pistill. Sie erkannte Stapel von ägyptischem Papyrus und Ballen von Ölhaut; lange Löffel aus Silber, Knochen und Keramik lagen sauber aufgereiht neben Glasgefäßen.
»Aus Nikaia kommt Ihr also?«, wiederholte Schachar neugierig. »Und jetzt wollt Ihr in Konstantinopel praktizieren? Gebt acht, mein Freund, hier gelten andere Vorschriften. «
»Ich weiß«, gab sie zur Antwort. »Ich verwende das«, sie wies auf die Regale und die Schubladen in den Kommoden, »ausschließlich, wenn es für die Genesung unerlässlich ist. Ich habe alle zu jeder Krankheit gehörigen Heiligenfeste auswendig gelernt, wie auch die für jeden Wochentag.« Sie sah ihn an, um festzustellen, ob er ihr Glauben schenkte. Sie verstand zu viel von Anatomie und von der Heilkunde der Juden und Araber, um wie andere christliche Ärzte zu glauben, dass Krankheiten von Sünde verursacht wurden oder Reue sie heilte, aber es war nicht klug, das zu sagen.
In Schachars Augen blitzte belustigtes Verstehen auf, das aber seine Lippen nicht erreichte. »Das meiste von dem, was Ihr braucht, kann ich Euch verkaufen«, sagte er schließlich. »Und was ich nicht habe, findet Ihr vielleicht bei Abd al-Qadir.«
»Das wäre wunderbar. Habt Ihr thebanisches Opium?«
Er schürzte die Lippen. »Dafür müsstet Ihr zu Abd al-Qadir gehen. Braucht Ihr es dringend?«
»Ja. Ich behandle einen Patienten damit und habe kaum noch etwas. Kennt Ihr einen guten Chirurgen für den Fall, dass der Stein nicht auf natürlichem Wege abgeht?«
»Ja«, gab er zur Antwort. »Aber habt Geduld. Man sollte das Messer nur ansetzen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Während er sprach, wog er ab, maß, verpackte und beschriftete alles, was sie mitnehmen wollte.
Während sie zahlte, was er verlangte, sah er sie eine Weile aufmerksam an und sagte dann entschlossen: » Wir wollen sehen, ob Abd al-Qadir das thebanische Opium für Euch hat. Falls nicht, habe ich etwas, was nicht ganz so gut ist, aber den Zweck durchaus erfüllt. Kommt.«
Sie folgte ihm und fragte sich im Stillen, ob dieser Araber möglicherweise der Chirurg war, den ihr Schachar für Basilios empfehlen würde. Wie würde das ihr durch und durch griechischer Patient aufnehmen? Aber vielleicht erwies sich das Eingreifen des Chirurgen auch als unnötig.