KAPİTEL 68
»Wir brauchen die Ikone der Muttergottes, mit der Kaiser Michael im Jahr 1262 in Konstantinopel eingezogen ist, als er sein Volk aus dem Exil zurückgeführt hat«, sagte Vicenze mit Nachdruck.
Palombara gab keine Antwort. Sie standen in dem Raum ihres Hauses, von dem aus der Blick auf den Hafen fiel. Das Licht tanzte auf dem Wasser, und die hohen Masten der Schiffe schwankten sacht hin und her.
»Ohne ein sichtbares Zeichen dafür, dass sich Byzanz tatsächlich Rom unterworfen hat, kommen wir keinen Schritt weiter«, fuhr Vicenze fort. »Das wäre ein solches symbolhaftes Zeichen. Schließlich sind die Menschen hier in der Stadt davon überzeugt, dass diese Ikone sie früher schon einmal vor dem Eindringen des Feindes bewahrt hat.«
Palombara fiel nichts ein, was er dagegen sagen konnte, und so zögerte er eine konkrete Antwort hinaus, um Zeit zu gewinnen. »Da es unmöglich sein wird, sie in die Hände zu bekommen, dürfte es unerheblich sein, wie wirkungsvoll sie tatsächlich ist.«
»Aber Ihr stimmt mir zu, dass sie ein mächtiges Symbol ist«, ließ Vicenze nicht locker.
»Theoretisch schon.« Palombara sah ihn aufmerksam an. Ihm ging auf, dass der andere einen Plan hatte, von dessen Erfolgsaussicht er überzeugt zu sein schien. Er machte Palombara diese Mitteilung lediglich, weil er wollte, dass dieser das wusste, nicht aber, weil er die Absicht gehabt hätte, ihn in den Plan einzuweihen oder daran zu beteiligen.
Das aber bedeutete, dass Palombara seinerseits in aller Heimlichkeit einen Plan entwickeln musste, damit ihm Vicenze nicht zuvorkam und dem Papst allein den Erfolg präsentierte. Geheimhaltung war nötig, weil er es Vicenze durchaus zutraute, sein Vorhaben zu sabotieren, um seinen eigenen Plan durchzusetzen. Es war nicht auszuschließen, dass Palombara dann in einem byzantinischen Kerker würde schmachten müssen, während sich Vicenze, Betrübnis heuchelnd, aber mit der Ikone in den Händen, auf den Weg nach Rom machte.
»Wir müssen sie an uns bringen«, sagte Vicenze mit einem schwachen Lächeln. »Ich werde Euch Bescheid geben, wenn ich einen brauchbaren Plan habe. Sollte Euch etwas einfallen, werdet Ihr mich selbstverständlich davon in Kenntnis setzen.«
»Selbstverständlich.« Palombara wandte sich ab und verließ das Haus. Er spürte die leichte Brise auf dem Gesicht. Eine Weile sah er über die Dächer zum Meer hin, dann begann er auszuschreiten. Er hatte das Bedürfnis, sich zu bewegen, den steinernen Boden unter den Füßen zu spüren und den Blick auf der sich ständig verändernden Szenerie ruhen zu lassen.
Es gab keine Möglichkeit, den Kaiser mit Geld oder der Aussicht auf ein hohes Amt zu bestechen. Michael lag nur eines am Herzen: seine Stadt vor Charles von Anjou und der Falschheit Roms zu bewahren. Nein, das stimmte nicht. Er wollte sie vor allen Feinden bewahren, ob Christen oder Moslems. Über Jahrhunderte hinweg hatte es Byzanz stets verstanden, Bündnisse zu schließen, Abkommen zu treffen und zu erreichen, dass sich seine Feinde gegenseitig bekämpften. Ob man den Kaiser dazu bringen könnte, sich mit Rom gegen die Bedrohung durch den Islam zusammenzuschließen, die an der Ostgrenze deutlich spürbar war?
Und womit ließe sich ein solches Bündnis bewirken? Am ehesten mit einer Schreckenstat in Konstantinopel, die alle Christen empören und beide Kirchen einander annähern würde, zumindest lange genug, um zu erreichen, dass man die Ikone als Beweis für den guten Willen der Byzantiner nach Rom schicken konnte.
Eine Schreckenstat, aber kein Mord. Man konnte einen Heiligenschrein niederbrennen und dafür sorgen, dass den Moslems die Schuld daran gegeben wurde. Das würde den Volkszorn entflammen, woraufhin die Menschen sicherlich bereit wären, jeden Preis zu akzeptieren, den Kaiser Michael aufbringen konnte, sogar einen Tribut an Rom.
Palombara wusste, wie sich das erreichen ließ. Der Papst hatte ihm Geld zur Verfügung gestellt, und er konnte sogar einen gewissen Betrag, von dem Vicenze nichts wusste, so verwenden, wie es ihm richtig erschien. Außerdem hatte er Kontakte zu Menschen, die es verstanden, gegen entsprechende Bezahlung bestimmte Gewalttaten zu begehen. Er würde dabei größte Sorgfalt walten lassen. Niemand würde etwas davon erfahren, vor allem nicht Niccolo Vicenze.
Der Brand, dem der Schrein der heiligen Veronika zum Opfer fiel,
erregte in der Stadt großes Aufsehen. Palombara stand ungesehen in
der Dunkelheit auf der Straße, während immer mehr Menschen
zusammenströmten. Die Hitze des Feuers, dem das Bauwerk zum Opfer
fiel und das die Mauern der Häuser und Geschäfte in der Nähe
schwärzte, drang bis zu ihm herüber und wurde so unerträglich, dass
er zurückwich. Immer lauter knisterten die Flammen, Funken und
glühende Holzstücke stiegen hoch in die Luft, und bald loderte die
Wut des Volkes ebenso wie das Feuer auf seinem Höhepunkt. Palombara
brauchte sie nicht weiter zu schüren.
Er wartete, bis die Flammen in sich zusammensanken, dann bat er um eine Audienz bei Michael Palaiologos und wurde vorgelassen. Schon bei seinem Eintritt sah er, dass der Kaiser einen müden und besorgten Eindruck machte. »Was wünscht Ihr, Bischof Palombara?«, fragte er knapp und erkennbar schlecht gelaunt. Die Männer der Waräger-Wache hatten den Raum nicht verlassen.
Ohne Umschweife sagte Palombara: »Ich bin gekommen, Euch das Mitgefühl des Heiligen Vaters in Rom angesichts Eures Verlusts auszusprechen, Majestät.«
»Erzählt keinen Unsinn!«, fuhr ihn der Kaiser an. »Ihr seid gekommen, um Euch an unserem Unglück zu weiden und um zu sehen, wie Ihr Nutzen daraus ziehen könnt.«
Palombara lächelte. »Es geht um Nutzen für uns alle, Majestät. Wenn der Islam im Osten und Süden noch mächtiger wird und weiter gegen die Grenzen der christlichen Länder anrennt, wird mehr als ein Kreuzzug nötig sein, um die Mohammedaner von einem Angriff und einem Eindringen auf unser Gebiet abzuhalten. Bis es so weit ist, werden nicht Jahrhunderte vergehen, sondern unter Umständen nicht einmal Jahrzehnte.«
Die Haut unter dem schwarzen Bart des Kaisers war bleich, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er hatte zur Zeit der Vertreibung an der Spitze seines Volkes gestanden, er wusste, was Krieg bedeutete, und trug die Narben davon auf seinem Leib. Michael Palaiologos, der nach dem Glauben seiner Kirche auf einer Stufe mit den Aposteln stehende Kaiser von Byzanz, hatte Fehlschläge und Niederlagen erlebt, und er wusste nicht nur, wie man überlebt, er kannte auch den Preis dafür. Um sein Volk zu bewahren, schien er jetzt bereit, einen letzten Preis zu zahlen.
Erstaunt merkte Palombara, dass er Mitgefühl mit diesem so menschlich wirkenden Herrscher empfand, der da in einer mit Edelsteinen besetzten prächtigen roten Dalmatika in seinem nach wie vor teilweise in Trümmern liegenden Palast saß. »Majestät«, sagte er mit demütig klingender Stimme, »dürfte ich eine endgültige Anerkennung der Union mit Rom durch Byzanz vorschlagen, die kein Feind bezweifeln kann, und sei er noch so boshaft oder unwissend?«
Der Kaiser sah ihn mit kaltem Misstrauen an. »Woran denkt Ihr, Bischof Palombara?«
Palombara zögerte eine Weile. »Schickt die Ikone der Heiligen Jungfrau nach Rom, die Ihr bei Eurer Rückkehr aus dem Exil hoch erhoben in die Stadt getragen habt«, sagte er schließlich. »Sie möge als Zeichen der Vereinigung der beiden bedeutendsten christlichen Kirchen auf der Welt dienen, als Symbol dafür, dass sie bereit sind, Seite an Seite gegen die rings um uns anbrandende Flut des Islam zu stehen. Das wird jedem zeigen, dass Byzanz das Bollwerk Christi gegen die Ungläubigen bildet, denn Rom wird stets auf Eurer Seite stehen. Falls wir Euch im Stich ließen, würden die Feinde Gottes schon bald vor unseren eigenen Toren stehen.«
Der Kaiser schwieg, zeigte weder Empörung noch Abwehr. Als Realist, der er war, dachte er nicht daran, sich gekränkt zu zeigen. Er begriff durchaus die Ironie der Situation, doch er, der sich bisher für so klug gehalten hatte, wusste sich keinen Rat mehr.
»Achtet gut auf sie«, sagte er endlich. »Sie würde eine Entweihung nicht vergeben. Das solltet Ihr fürchten, Bischof Palombara, nicht mich, nicht Byzanz und nicht einmal die Hinterhältigkeit Roms oder die Scharen islamischer Krieger. Fürchtet Gott und die Heilige Jungfrau.«
Eine Woche später brachten Boten des Kaisers die Ikone, die Byzanz
über die Jahrhunderte hinweg beschützt hatte, in das palastartige
Haus, das Palombara und Vicenze bewohnten. Sie standen in einem der
großen Empfangsräume und sahen schweigend zu, wie sie ausgepackt
wurde.
Vicenze war von Palombaras Erfolg überwältigt. Mit bleichem Gesicht stand er im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel.
Palombara erkannte auf den Zügen seines Amtsbruders neben unverhohlenem Neid auch unverhohlene Wut darüber, dass es nicht ihm gelungen war, diese Trophäe an sich zu bringen.
Während einer der Abgesandten des Kaisers die Verpackung löste, trat auf Vicenzes Gesicht ein Palombara bisher unbekannter Ausdruck. Als die letzte Hülle fiel, beugten sich beide schweigend so dicht über die Ikone, dass sie alle Einzelheiten genau erkennen konnten, sogar das feine Craquelé in der Farbschicht und die winzigen Löcher in der Blattvergoldung. Sie war an manchen Stellen von der Vielzahl der Hände, die sie berührt hatten, fast abgerieben.
Vicenze öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, überlegte es sich dann aber anders. Palombara sah nicht einmal zu ihm hin.
Es kostete keine Mühe, ein Schiff zu finden, und Palombara traf die
nötigen Absprachen mit einem der vielen Kapitäne am Hafen. Vicenze
beaufsichtigte den Mann, der die jetzt noch sorgfältiger als zuvor
verpackte Ikone an Bord bringen sollte. Sie hatten die Holzkiste,
in die sie mitsamt ihren Umhüllungen gelegt worden war, unauffällig
gekennzeichnet, so dass sie sich zwar leicht identifizieren ließ,
aber niemand wissen konnte, was sie enthielt.
Sie nahmen so gut wie kein Gepäck mit zum Hafen, damit weder ihre Diener noch die allgegenwärtigen Aufpasser auf den Gedanken kamen, sie könnten unter Umständen eine ganze Weile oder, falls man sie zur Kardinalswürde erhob, was durchaus möglich war, überhaupt nicht wiederkommen. Es schmerzte Palombara in tiefster Seele, dass er einige der herrlichen Kunstwerke zurücklassen musste, die er im Laufe der Zeit erworben hatte, doch ließ sich das nicht vermeiden, wenn er den Eindruck erwecken wollte, er sei lediglich zum Hafen gegangen und werde vor Einbruch der Dunkelheit ins Haus zurückkehren.
Als er am Anleger ankam, sah er mit ungläubigem Staunen, dass ihr Schiff bereits auslief. Das Wasser schäumte um den Bug, während rhythmisch bewegte Ruder es vorantrieben. Erst nach Verlassen des Hafens würde der Wind ausreichen, um die Segel zu füllen. Vicenze stand mit triumphierendem Lächeln an der Reling. Die Sonne hinter ihm ließ sein bleiches Haar wie einen Heiligenschein schimmern.
Blinde Wut erfasste Palombara. Noch nie hatte ihm jemand eine so vollständige Niederlage bereitet. Es war ihm unmöglich, anders zu reagieren.
»Geht es Euch nicht gut, Bischof?«, fragte eine besorgt klingende Stimme.
Verblüfft wandte er sich zu dem Mann um, der ihn angesprochen hatte. Es war der Kapitän des für den Transport der Ikone vorgesehenen Schiffes, den er noch nicht bezahlt hatte, damit sich dieser an ihre Vereinbarung hielt. »Man hat Euer Schiff entführt«, sagte Palombara mit rauer Stimme und wies dorthin, wo der Rumpf in der Ferne kaum noch zu sehen war.
»Aber nein«, gab der Kapitän zurück. »Es liegt dort und wartet auf Euch und Eure Ladung.«
»Ich habe aber Bischof Vicenze an Bord gesehen.« Er zeigte erneut nach draußen. »Da hinten!«
Der Kapitän legte die Hand über die Augen und sah in die von Palombara angegebene Richtung. »Das ist nicht mein Schiff, sondern das von Kapitän Dandolo.«
Palombara sah ihn ungläubig an. »Dandolo? Hat er die Kiste etwa an Bord genommen?«
»Er hatte eine Kiste etwa in der Größe, die Ihr mir beschrieben habt.«
»Und Bischof Vicenze hat sie gebracht?«
»Nein, Kapitän Dandolo selbst. Wollt Ihr immer noch nach Rom?«
»Und ob ich das will!«