Maggie fragte sich, ob sie zu spät gekommen waren. Hatten sich Stucky und Harding in die Wälder abgesetzt? Sie sah durch das Fenster Agent Alvando mit seinen Männern die Gegend durchkämmen und in den Wäldern verschwinden. Bald würden sie ohne Lampen nichts mehr sehen können. Und die benutzten sie nur ungern, weil sie dadurch leicht zu Zielscheiben wurden. So gern sie auch draußen gewesen wäre und mitgesucht hätte, Agent Alvando hatte Recht gehabt. Sie und Tully waren für eine Suche des Einsatzkommandos nicht ausreichend trainiert.
Der Regen hatte als leises Tröpfeln auf dem Metalldach begonnen. Ein fast tröstliches Geräusch, hätte nicht der lauter werdende Donner ein Gewitter angekündigt. Maggie war froh, dass das Haus durch einen Generator mit Strom versorgt wurde und nicht von einem öffentlichen Versorger abhing, da Elektrizität leicht mal ausfiel.
„Haben wir uns mit diesem Haus geirrt?“ fragte Agent Tully von der Seite des Raumes. Er hatte einige Kartons unter den Computertischen hervorgeholt und nahm mit Latexhandschuhen den Inhalt heraus, Hauptbücher, Postaufträge und andere Geschäftsunterlagen.
„All das hier könnten Vorbereitungen sein für den Fall, dass er sein Augenlicht ganz verliert. Ich weiß nicht, wie ich das einordnen soll.“ Vielleicht lag es am aufziehenden Gewitter und der geladenen Luft, aber sie wurde ein Gefühl drohenden Unheils nicht los. „Vielleicht sollten wir hinuntergehen und nachsehen, ob sie diesen Raum im Keller inzwischen geöffnet haben?“
„Alvando hat gesagt, wir sollen hier bleiben.“ Er warf ihr einen warnenden Blick zu.
„Es könnte eine Folterkammer sein und nicht bloß ein Bunker.“
„Ich vermute ja nur, dass es ein Bunker ist. Genau wissen wir es erst, wenn Alvandos Männer ihn geöffnet haben.“
Sie sah sich um. Der Raum war mit Ausnahme der sprechenden Computer das typische „Home Office“. Was für eine Enttäuschung, was für eine Pleite. Sie hatte sich innerlich auf eine Abrechnung mit Stucky vorbereitet, und er war nirgends zu finden.
„O’Dell?“ Tully beugte sich über einen weiteren Karton. „Sehen Sie sich das mal an.“
Sie blickte ihm über die Schulter und erwartete, weitere unappetitliche Computersoftware und Videos zu sehen. Stattdessen entdeckte sie die Zeitungsausschnitte über den Tod ihres Vaters. Das war der Karton, der ihr beim Umzug abhanden gekommen war. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht. Also hatte Greg die Wahrheit gesagt. Der Karton war nicht mehr in ihrer Wohnung. Stucky hatte offenbar ihren Umzug beobachtet und den Karton an sich gebracht. Bei der Vorstellung, dass er ihre persönlichen Unterlagen durchgegangen war, fröstelte sie.
„Maggie“, Tully sah besorgt zu ihr auf, „glauben Sie, er ist unbemerkt in Ihr Haus eingebrochen?“
„Nein, den Karton habe ich seit dem Tag des Umzugs vermisst. Er muss ihn gestohlen haben, als er noch auf der Straße stand.“
Sie spürte den vertrauten Zorn in sich aufsteigen und überließ es Tully, die anderen Kartons durchzusehen, während sie unruhig von Fenster zu Fenster ging.
„Das heißt, Stucky war hier“, sagte Tully, ohne aufzublicken.
Maggie schaute hinaus. Die Blitze kamen näher, erhellten den Himmel und ließen die Bäume aussehen wie skelettierte Soldaten, die Wache standen.
Plötzlich reflektierte sich in der Scheibe jemand, der im Flur an der Tür vorbeiging. Sie fuhr herum, den Revolver vor sich ausgestreckt. Tully sprang auf und hatte in Sekundenschnelle seine Waffe gezogen.
„Was ist los, O’Dell?“ Er sah nach vorn zur Tür. Sie ging langsam mit entsicherter Waffe darauf zu.
„Ich habe jemand vorbeigehen sehen“, erklärte sie.
„Sind noch Leute vom Einsatzkommando im Haus?“
„Hier oben sind sie fertig“, flüsterte sie. Ihr Herz hämmerte. Sie merkte, dass sie bereits zu schnell atmete. „Die würden doch nicht wieder heraufkommen, ohne sich anzukündigen, oder?“
„Riechen Sie was?“ Tully schnupperte.
Sie roch es auch, und ihre Beklommenheit mutierte zur Panik. „Riecht nach Benzin“, stellte er fest.
Nach Benzin und Rauch. Es roch nach Feuer! Sobald der Gedanke Besitz von ihr ergriff, schienen Atmung und Denkfähigkeit auszusetzen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, unfähig, die letzten Schritte bis zur Tür zu gehen. Ihre Knie waren wie starr, die Kehle wie zugeschnürt. Sie drohte zu ersticken.
Tully lief zur Tür und sah mit gezogener Waffe vorsichtig in den Flur.
„Heilige Scheiße!“ schrie er und blickte zu beiden Seiten den Flur entlang, ohne hinauszugehen. „Flammen auf beiden Seiten. Da kommen wir nicht mehr raus!“
Er steckte die Waffe ins Holster, lief zum Fenster und versuchte es zu öffnen, während Maggie wie gelähmt mitten im Raum stand.
Die Hände zitterten ihr so heftig, dass sie kaum die Waffe halten konnte. Sie starrte ihre Hände an, als gehörten sie jemand anders. Ihre Atmung war jetzt außer Kontrolle geraten, und sie fürchtete zu hyperventilieren.
Der Geruch allein rief die Albträume ihrer Kindheit wach: Flammen umschlossen ihren Vater und verbrannten ihr die Finger, sobald sie nach ihm greifen wollte. Sie konnte ihn nie retten, weil ihre Angst sie paralysierte.
„Verdammt!“ hörte sie Tully schimpfen, während er sich hinter ihr abmühte.
Sie drehte sich zu ihm um, doch ihre Füße wollten sich nicht bewegen. Er schien zu weit weg zu sein. Sie merkte, dass ihre visuelle Wahrnehmung gestört war. Der Raum begann sich zu neigen. Sie spürte die Bewegung, obwohl sie wusste, dass es nicht sein konnte. Dann sah sie den Mann wieder als Reflexion in der Fensterscheibe. Sie fuhr herum, hatte jedoch das Gefühl, sich in Zeitlupe zu bewegen. Albert Stucky stand groß und dunkel in der Tür. Mit einer schwarzen Lederjacke bekleidet, zielte er mit der Waffe direkt auf sie.
Sie versuchte, die eigene Waffe zu heben, doch sie war zu schwer. Ihre Hand gehorchte dem Befehl nicht. Der Raum hatte sich jetzt zur anderen Seite geneigt, und sie spürte sich rutschen. Stucky lächelte sie an, ungeachtet der Flammen, die hinter ihm aufloderten. War er echt? Oder riefen Panik und Entsetzen eine Halluzination hervor?
„Das verdammte Ding klemmt!“ hörte sie Tully wie aus weiter Ferne schreien.
Sie öffnete den Mund, um Tully zu warnen, doch es kam kein Laut heraus. Sie erwartete, dass die Kugel sie direkt ins Herz traf. Dorthin zielte Stucky. Alles geschah in Zeitlupe. Träumte sie? Ein Albtraum? Stucky entsicherte seine Waffe. Sie hörte Balken vor dem Raum berstend nachgeben. Noch einmal versuchte sie den Arm zu heben und sah, dass Stucky den Abzug betätigte.
„Tully!“ konnte sie noch schreien, und in dem Moment schwenkte Stucky den Arm nach rechts und feuerte. Die Explosion schüttelte sie wie ein elektrischer Schock. Doch sie war nicht getroffen. Er hatte sie nicht angeschossen. Sie sah an sich hinab.
Kein Blut. Es machte Mühe, den Arm zu heben, doch sie tat es, um auf die nun leere Türöffnung zu schießen. Stucky war fort. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Da war ein Stöhnen hinter ihr, und ehe sie sich umdrehte, fiel ihr Tully ein.
Er packte mit beiden Händen seinen Schenkel und starrte darauf, als könne er nicht glauben, was er sah. Rauch drang jetzt in den Raum und brannte ihnen in den Augen. Maggie riss sich die Windjacke herunter. Du schaffst das, sagte sie sich, du musst! Sie rannte zur Tür und zwang sich, nicht an Hitze und Flammen zu denken. Sie schlug die Tür zu und stopfte ihre zusammengerollte Jacke vor den unteren Schlitz.
Dann eilte sie zu Tully zurück und kniete sich neben ihn. Seine Augen waren weit und wurden glasig. Er verfiel in einen Schockzustand.
„Es wird alles wieder gut, Tully. Atmen Sie ruhig, aber nicht zu tief.“ Der Rauch quoll bereits durch die Ritzen.
Sie löste den Knoten seiner Krawatte und entfernte sie. Vorsichtig zog sie ihm die Hände von der Wunde und band ihm die Krawatte oberhalb des Einschusses um das Bein. Als sie die Schlinge zuzog, zuckte er zusammen und schrie auf vor Schmerz.
Der Raum füllte sich allmählich mit Qualm. Das Einbrechen der Balken kam näher. Sie hörte Stimmen von draußen. Tully hatte keines der Fenster aufbekommen. Sie rappelte jetzt daran, ausschließlich auf Tully und ihre Fluchtmöglichkeiten konzentriert. Sie durfte nicht an die Flammen jenseits der Tür oder an die höllische Hitze unter den Dielenbrettern denken.
Sie schnappte sich einen Computermonitor und riss das Kabel aus der Wand.
„Tully, schützen Sie Ihr Gesicht.“
Er starrte sie nur an.
„Verdammt, Tully, bedecken Sie Gesicht und Kopf! Sofort!“
Er drehte sich zur Wand. Maggie spürte ihre Arme unter dem Gewicht des Monitors nachgeben. Die Augen brannten ihr, und die Lunge protestierte bereits. Sie schleuderte den Monitor gegen das Fenster und entfernte schnell die übrig gebliebenen Splitter aus dem Rahmen. Dann packte sie Tully unter den Armen.
„Kommen Sie, Tully, Sie müssen mir helfen.“
Irgendwie schaffte sie es, ihn aus dem Fenster, auf das Dach der Veranda zu hieven. Agent Alvando stand mit zwei Männern unten. Es war keine große Entfernung bis zum Boden, aber mit der Kugel im Bein konnte sie nicht von Tully erwarten, dass er sprang. Sie hielt ihn an den Armen fest, während er sich über die Dachkante wand und wartete, dass ihn die Männer von unten abnahmen. Die ganze Zeit sah er ihr in die Augen. Sein Blick verriet weder Schock noch Angst, sondern zu ihrer Überraschung Vertrauen.