Kansas City, Missouri,
Sonntagabend
Es war fast Mitternacht, als die Agenten Preston Turner und Richard Delaney an Maggies Hotelzimmertür klopften.
„Wie wär’s mit ‘nem Absacker, O’Dell?“
Turner trug Jeans und ein purpurnes Golfhemd, das seine tiefbraune Haut betonte. Delaney hingegen steckte noch in seinem Anzug. Der aufgeknöpfte Hemdkragen und die gelockerte Krawatte zeigten jedoch, dass er nicht mehr im Dienst war.
„Ich weiß nicht, Leute. Es ist schon spät.“ Als ob Schlaf ein Argument wäre. Sie würde ohnehin erst in einigen Stunden zu Bett gehen.
„Es ist noch nicht mal Mitternacht.“ Turner grinste sie an. „Die Party geht erst los. Außerdem bin ich am Verhungern.“ Er sah Delaney auf Bestätigung hoffend an. Der zuckte nur die Achseln. Fünf Jahre älter als Maggie und Turner, hatte Delaney eine Frau und zwei Kinder. Sie vermutete, dass er schon mit zehn Jahren ein konservativer Südstaatengentleman gewesen war, doch Turner kitzelte irgendwie die sorglose und auf Konkurrenz bedachte Seite an ihm heraus.
Beide Männer bemerkten, dass Maggie die Tür mit der Smith & Wesson in der Hand geöffnet hatte, die sie jetzt zu Boden gerichtet hielt. Keiner von beiden kommentierte das jedoch. Maggie kam die Waffe plötzlich besonders schwer vor. Sie fragte sich, warum die beiden Kollegen sie ertrugen. Allerdings wusste sie auch, dass Cunningham sie drei bewusst zusammen zu dieser Tagung geschickt hatte. Seit Stuckys Flucht im Oktober waren die beiden ihre Schatten. Als sie sich bei Cunningham darüber beklagt hatte, war er beleidigt gewesen über die Unterstellung, er habe ihr Wachhunde zugeteilt, damit sie sich nicht allein auf die Suche nach Stucky begab. Erst später war ihr aufgegangen, dass ihr Boss ihr die zwei zum Schutz zugeteilt hatte. Was lächerlich war. Wenn Albert Stucky es auf sie abgesehen hatte, konnte Polizeipräsenz ihn nicht aufhalten.
„Wisst ihr, Jungs, ihr müsst nicht den Babysitter bei mir spielen.“
Turner gab sich gekränkt. „Komm schon, Maggie, du kennst uns besser.“
Ja, allerdings. Trotz ihrer Mission hatten Turner und Delaney sie nie wie ein Burgfräulein in Not behandelt. Sie hatte Jahre dafür gearbeitet, genauso behandelt zu werden wie die männlichen Kollegen. Vielleicht wurmte Cunninghams Sorge, so ehrenwert auch gemeint, sie deshalb so sehr.
„Ach, komm schon, Maggie“, fiel Delaney ein. „Wie ich dich kenne, ist dein Vortrag für morgen bereits fertig.“
Delaney blieb höflich im Flur stehen, während Turner sich an den Türrahmen lehnte, als wolle er dort bleiben, bis sie zugestimmt hatte.
„Ich hole nur meine Jacke.“
Sie schloss die Tür ein wenig, so dass Turner zurückzuweichen musste und sie ungestört ließ. Sie legte ihr Holster um, straffte die Lederriemen über der Schulter und verschnallte sie fest in der Seite. Dann schob sie den Revolver hinein und zog ihren blauen Blazer darüber, um die Waffe zu verbergen.
Turner hatte Recht. In der Bar mit Grill in Westport wimmelte es nur so vor Tagungsteilnehmern. Turner erklärte, Westport, mit seinen malerischen Hinweisen auf die Anfänge der Stadt als Handelsposten, sei Zentrum des Nachtlebens von Kansas City. Woher Turner immer solche Details wusste, hatte sie nie herausgefunden. In jeder Stadt, die sie besuchten, erwies er sich jedoch als Experte im Auffinden der angesagtesten Lokale.
Delaney ging voran, drängte sich durch die Menge an der Bar und fand einen Tisch in einer dunklen Ecke. Als sie sich setzten, bemerkten er und Maggie, dass sie Turner verloren hatten, der sich mit einigen jungen Frauen auf Barhockern unterhielt. Nach den engen Kleidern und den glänzenden Ohrgehängen zu urteilen, waren es wohl keine Polizistinnen, sondern Singles auf der Suche nach Männern mit Polizeimarken.
„Wie schafft er das immer?“ fragte Delaney bewundernd und beobachtete ihn.
Maggie sah sich um und schob ihren Sessel gegen die Wand, damit sie den ganzen Raum vor sich hatte. Sie mochte nicht mit dem Rücken zur Menge sitzen, und sie mochte keine größeren Menschenansammlungen. Zigarettenrauch hing in der Luft wie Abendnebel. Die Geräuschkulisse aus Stimmen und Gelächter war so groß, dass man lauter sprechen musste, als angenehm war. Und obwohl sie in Begleitung von Turner und Delaney war, warf man ihr auffordernde Blicke zu. Manche Männer starrten wie Raubvögel, die nur darauf warteten, dass ihr Opfer allein und wehrlos war.
„Weißt du, auch als Single mochte ich nicht gern ausgehen“, gestand Delaney und beobachtete seinen Kumpel. „Bei Turner sieht das alles so unverkrampft aus.“ Er zog den Sessel näher an den Tisch und beugte sich hinüber, um Maggie seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. „Wie ist es mit dir? Willst du dich wieder ins Spiel bringen?“
„Ins Spiel?“ Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
„Ins Rendezvous-Spiel. Wie lange ist es her, drei, vier Monate?“
„Die Scheidung ist noch nicht ausgesprochen. Ich bin nur Freitag ausgezogen.“
„Ich wusste gar nicht, dass ihr noch zusammengelebt habt. Ich dachte, ihr hättet euch schon vor Monaten getrennt.“
„Haben wir. Trotzdem war es praktischer, in der Wohnung zu bleiben, bis alles geklärt ist. Wir waren beide kaum zu Hause.“
„Mein Gott, einen Moment dachte ich schon, ihr beide wolltet es noch einmal miteinander versuchen.“ Er sagte das mit hoffnungsvoller Miene. Delaney glaubte an die Institution der Ehe. Obwohl er die Kontaktfähigkeit seines Partners bewunderte, schien er gern verheiratet zu sein.
„Ich glaube nicht, dass eine Versöhnung möglich ist.“
„Sicher?“
„Was würdest du tun, wenn Karen dich vor die Wahl stellte, zwischen ihr und deinem Job zu wählen?“
Er schüttelte den Kopf, und ehe er antwortete, tat es ihr schon Leid, dass sie gefragt hatte. Er zog den Sessel näher heran und erwiderte ernst: „Ich bin auch deshalb Dozent geworden, weil ich weiß, wie nervös Karen war, wenn ich in Verhandlungen mit Geiselnehmern steckte. Die letzte musste sie sich im Fernsehen anschauen. Einige Opfer sind es wert, gemacht zu werden.“
Sie wünschte sich ein anderes Gesprächsthema. Über ihre gescheiterte Ehe zu sprechen erinnerte sie nur an die Leere in ihrem Herzen.
„Also bin ich die Böse, weil ich die Karriere nicht meinem Mann zuliebe opfern will?“ Ihr zorniger Ton überraschte sie selbst. „Ich würde Greg nie bitten, seinen Anwaltsberuf an den Nagel zu hängen.“
„Entspann dich, Maggie. Du bist nicht die Böse.“ Delaney blieb ruhig und mitfühlend. „Es besteht ein großer Unterschied zwischen Bitten und Erwarten. Karen hätte mich nie gebeten, meinen Job an der Front aufzugeben. Es war allein meine Entscheidung. Außerdem hat Greg wohl ein paar ziemlich große Schrauben locker, wenn er dich gehen lässt.“
Er sah sie lächelnd an, drehte sich rasch um und entdeckte Turner immer noch bei seinen neuen Freundinnen. Obwohl Maggie Woche um Woche viele Stunden mit Turner und Delaney verbrachte, gab es gewöhnlich keine privaten Gespräche und emotionalen Offenbarungen zwischen ihnen.
„Fehlt es dir?“
Er sah sie wieder an und lachte. „Was soll mir daran fehlen, stundenlang in eisiger Kälte oder brüllender Hitze zu stehen, um einen Mistkerl daran zu hindern, Unschuldige in die Luft zu jagen?“ Er rieb sich ernst das Kinn, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt. „Ja, es fehlt mir. Aber ich werde immer noch mal zu Fällen hinzugezogen.“
„Was kann ich Ihnen beiden bringen?“ erkundigte sich eine Kellnerin und schob sich zwischen zwei Esstischen zu ihnen durch.
Maggie hieß die Unterbrechung erleichtert willkommen. Sie sah, wie Delaneys Miene sich ebenfalls entspannte.
„Für mich bitte nur Diät-Cola.“ Er sah lächelnd zu dem hübschen Rotschopf auf.
Maggie war beeindruckt von seinem unbewussten Flirten. War es zu einer schlichten Gewohnheit geworden, weil er so lange mit Turner zusammen war?
„Scotch pur“, sagte sie, als die Kellnerin sie ansah.
„Ach, und der Typ da hinten am Ende der Bar“, Delaney deutete auf Turner, „es sieht jetzt noch nicht danach aus, aber er wird zu uns stoßen. Ist Ihr Grill noch heiß?“
Die Kellnerin sah auf ihre Armbanduhr. Ein kleines Muttermal über ihrer Lippe zuckte, als sie blinzelnd die Zeit zu erkennen versuchte. Im schwachen Licht erkannte Maggie die Anzeichen der Müdigkeit in ihrem hübschen Gesicht.
„Sie machen immer um Mitternacht dicht.“ Sie sprach freundlich, obwohl Maggie merkte, dass es sie Mühe kostete. „Es sind noch ein paar Minuten Zeit, aber ich müsste die Bestellung jetzt sofort aufgeben.“ Das Angebot war ehrlich gemeint. „Können Sie sich vorstellen, was er haben möchte?“
„Einen Burger und Fritten“, erklärte Delaney ohne Zögern.
„Medium“, fügte Maggie hinzu.
„Mit Gurken und Zwiebeln.“
„Und eine Flasche A1-Sauce, falls Sie haben.“
„Ach ja, und Cheddarkäse auf dem Burger.“
Die Kellnerin lächelte, Maggie sah Delaney an, und beide lachten los.
„Du liebe Güte, hoffentlich weiß Turner, wie berechenbar er ist“, sagte Maggie und fragte sich, ob irgendwer so genau auf ihre Eigenheiten und Gewohnheiten achtete.
„Klingt, als wären Sie drei sehr gute Freunde.“ Die Kellnerin hatte sich entspannt und wirkte weniger müde. „Sie wissen nicht zufällig, was er trinken möchte?“
„Haben Sie Boulevard Weizen?“ fragte Delaney.
„Natürlich. Das ist ja eine Brauerei aus Kansas City.“
„Okay, das wird er bestellen.“
„Ich gebe seine Bestellung auf und bringe Ihnen Ihre Getränke. Möchten Sie vielleicht auch etwas essen?“
„Maggie?“ Delaney wartete, bis sie den Kopf schüttelte. „Vielleicht ein paar Fritten für mich.“
„Bekommen Sie.“
„Danke, Rita“, fügte Delaney hinzu, als wären sie alte Freunde.
Sobald sie gegangen war, versetzte Maggie ihm einen Stoß gegen die Schulter. „Ich dachte, du wärst nicht gut in so was.“
„In was?“
„Im Flirten. Da gewöhnlich Turner so was durchzieht, habe ich noch nie den wahren Meister am Werk erlebt.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Sein Lächeln verriet jedoch, dass er die Aufmerksamkeit genoss.
„Danke, Rita?“
„Sie heißt so, Maggie. Die tragen Namensschilder, damit unser Mahl in aller Freundschaft abläuft.“
„Richtig. Aber sie kennt unsere Namen nicht, und sie setzt sich auch nicht zu uns, um mitzuessen. Wie freundschaftlich ist das schon?“
„Hallo, Leute.“ Turner glitt in den letzten Sessel. „Eine Menge Staatsanwälte sind diesmal hier.“
„Die Frauen sind Staatsanwältinnen?“ Delaney verrenkte sich den Hals, um sie besser sehen zu können.
„Allerdings.“ Er wedelte einen Zettel mit Telefonnummern und steckte ihn ein. „Und man weiß nie, wann man einen Anwalt gebrauchen kann.“
„Na klar, als hättet ihr drei über Juristerei palavert.“
Maggie ignorierte die Frotzelei und fragte: „Was für eine Tagung ist das überhaupt?“
Beide Männer starrten sie an, als warteten sie auf eine Pointe.
„Fragst du das im Ernst?“ wollte Turner schließlich wissen.
„He, ich halte jedes Mal denselben Vortrag, ob in Kansas City, Chicago oder L.A.“
„Du bist nicht gerade mit Eifer bei der Sache, was?“
„Jedenfalls bin ich nicht zum FBI gegangen, um Vorträge zu halten.“ Sie war plötzlich befangen, weil sie das Gefühl hatte, sich verplappert und etwas Falsches gesagt zu haben. „Da Cunningham nie meinen Namen im Programm erwähnt, kommt ja auch niemand speziell meinetwegen, um meine Worte der Weisheit zu hören.“
Sie hatte die joviale Stimmung getrübt und sie daran erinnert, warum sie wirklich hier war. Nicht weil sie danach gierte, einen Haufen Polizisten im Erstellen von Täterprofilen zu unterrichten, sondern um sie vom Außendienst fern zu halten, fern von Albert Stucky.
Ritas Rückkehr mit einem Getränketablett rettete Maggie erneut. Turner zog verblüfft die Brauen hoch, als sie ihm eine Flasche Bier und ein Glas hinstellte.
„Rita, Sie sind Gedankenleserin.“ Auch er nannte sie so selbstverständlich beim Vornamen, als wären sie alte Freunde.
Die hübsche Kellnerin errötete, und Maggie beobachtete Delaney und suchte nach Anzeichen von Rivalität. Er schien seinem jüngeren, allein stehenden Freund jedoch gern das Flirten zu überlassen.
„Ihr Burger und die Fritten sind in etwa zehn Minuten fertig.“
„Oh mein Gott! Rita, wollen Sie mich heiraten?“
„Sie sollten sich bei Ihren Freunden bedanken. Die haben die Bestellung gerade noch aufgegeben, ehe Carl den Grill schloss.“ Diesmal lächelte sie Maggie und Delaney an. „Ich bringe die restliche Bestellung, sobald sie fertig ist.“ Damit eilte sie davon.
Maggie dachte unwillkürlich, dass Rita eine erfahrene Kellnerin war, die instinktiv wusste, von welchen Gästen es die besten Trinkgelder gab. Turner belohnte Kellner und Kellnerinnen mit Aufmerksamkeit und Vertrautheit, aber sie und Delaney ließen stets ein üppiges Trinkgeld zurück.
„Also, Turner“, begann Delaney, „was machen Anwälte auf dieser Tagung?“
„Meistens Staatsanwälte. Sieht so aus, als wären sie wegen des Computer-Workshops hier. Ihr wisst schon, diese Datenbank, die das FBI einrichten will. Die Büros von Distrikt-Staatsanwälten sollen daran angeschlossen werden, zumindest in den größeren Städten. Und da alle immer soooo beschäftigt sind und keinen erfahrenen Staatsanwalt entbehren können, haben sie ihre jungen frischen Dinger hergeschickt.“ Er lehnte sich zurück und schaute sich im Raum um.
Maggie und Delaney sahen sich kopfschüttelnd an. Als Maggie ihr Glas ansetzte und trank, entdeckte sie im langen Spiegel hinter der Bar eine vertraute Gestalt. Sie knallte das Glas auf den Tisch, dass er wackelte, sprang auf, dass der Sessel scharrend zurücksprang, und sah in die Richtung, wo der Mann gestanden hatte.
„Maggie, was ist los?“
Turner und Delaney sahen sie verständnislos an, als sie sich reckte, um über die Gäste an der Bar hinwegzusehen. Hatte sie sich das eingebildet?
„Maggie?“
Sie sah wieder in den Spiegel. Die Gestalt in der schwarzen Lederjacke war fort.
„Was ist los mit dir, Maggie?“
„Nichts“, versicherte sie rasch. „Mir geht es gut.“ Natürlich ging es ihr gut. Trotzdem wanderte ihr Blick zur Tür. Doch da war kein Mann in schwarzer Lederjacke mehr.
Sie setzte sich wieder, zog den Sessel heran und wich den Blicken ihrer Freunde aus. Die waren allmählich an ihre Nervosität und ihr unberechenbares Verhalten gewöhnt. Bald ging es ihr wie dem kleinen Jungen, der ständig „Gefahr!“ schrie und dann von niemand mehr ernst genommen wurde. Vielleicht war genau das beabsichtigt.
Sie nahm ihr Glas und ließ die bernsteinfarbene Flüssigkeit kreisen. Spielte die Fantasie ihr Streiche? Hatte sie wirklich Albert Stucky gesehen, oder verlor sie schlicht den Verstand?