52. KAPITEL

Harvey begrüßte Nick an der Tür zähnebleckend und mit einem beeindruckenden Knurren. Maggie lächelte über Nicks Verblüffung, immerhin hatte sie ihn gewarnt.

„Ich habe dir gesagt, dass ich meinen eigenen privaten Leibwächter habe. Platz, Harvey. Genau genommen sind wir Lebensgefährten.“ Sie tätschelte dem Hund den Kopf, der sofort freudig mit dem Schwanz wedelte. „Harvey, das ist Nick. Er gehört zu den Guten.“

Nick hielt ihm eine Hand zum Beschnüffeln hin. Innerhalb von Sekunden hatte Harvey beschlossen, dass Nick eine königliche Behandlung verdiente und bohrte ihm die Schnauze in den Schritt. Maggie zog ihn lachend am Halsband zurück, und auch Nick war eher amüsiert als verlegen.

„Wie ich sehe, lässt du auch andere Dinge von ihm überprüfen.“

Die zweideutige Bemerkung traf sie unvorbereitet und brachte sie ein wenig in Verlegenheit. Um es vor Nick zu verbergen, führte sie Harvey in den Wohnraum.

„Ich bin erst letzte Woche eingezogen und habe noch nicht viele Möbel. Wenigstens habe ich gestern Abend spät noch ein paar Vorhänge aufgehängt.“

„Maggie, das Haus ist ja unglaublich“, schwärmte Nick, wanderte in den Wintergarten und schaute ins Grüne. „Ziemlich abgeschieden. Wie sicher ist das für dich?“

Sie blickte vom Einstellen der Alarmanlage auf. „So sicher wie überall. Cunningham lässt mich vierundzwanzig Stunden überwachen. Hast du nicht den Van vom Kabel-TV unten an der Straße gesehen? Cunningham tut so, als wäre das eine Falle für Stucky. Mir ist aber klar, dass er in erster Linie versucht, mich zu beschützen.“

„Das klingt, als wärst du skeptisch.“

Sie öffnete die Jacke und zeigte ihm den Revolver im Schulterholster. „Im Moment verlasse ich mich nur auf das da.“

Er lächelte. „Mein Gott, wie mich das antörnt, wenn du mir deine Waffe zeigst.“

Sein freches Flirten ließ ihr die Wangen warm werden, und sie wandte den Blick ab. Ihre Befangenheit in Nicks Gegenwart begann sie zu ärgern. War es ein Fehler gewesen, ihn hierher einzuladen? Vielleicht hätte sie ihn besser mit Will nach Boston zurückgeschickt.

„Ich sehe mal nach, ob ich genug für ein Dinner im Haus habe. Gewöhnlich habe ich nur die Grundnahrungsmittel da.“ Sie zog sich in die Küche zurück, nicht sicher, was sie tun sollte, falls er es nicht beim Flirten beließ. Würde sie vernünftig bleiben können? „Würde es dir etwas ausmachen, Harvey in den Garten auszuführen?“

„Nein, überhaupt nicht.“

„Seine Leine hängt an der Hintertür. Drück den grünen Leuchtknopf an der Alarmanlage.“

„Das hier gleicht ein bisschen dem Leben in einem Fort.“ Er deutete auf die Sensoren der Alarmanlage. „Fühlst du dich wohl damit?“

„Mir bleibt wohl keine Wahl, oder?“

Er zuckte die Achseln und sah ihr in die Augen. Sie bemerkte seine Hilflosigkeit und zugleich den Wunsch, etwas für sie tun zu können.

„Das gehört zu meinem Job, Nick. Viele Profiler leben in umzäunten Wohnvierteln oder in Häusern mit aufwändigen Alarmanlagen. Nach einer Weile gewöhnt man sich daran, eine geheime Telefonnummer zu haben und in keinem Adressbuch aufgelistet zu sein. So ist mein Leben, und genau damit wollte Greg sich nicht abfinden. Vielleicht war das auch zu viel verlangt.“

„Nun ja, Greg ist ein Narr“, erwiderte er und befestigte die Leine an Harveys Halsband. Der Hund leckte ihm in freudiger Erwartung die Hand. „Andererseits betrachte ich Gregs Verlust als meinen Gewinn.“ Er lächelte sie an, drückte den grünen Knopf und ließ sich von Harvey in den Garten ziehen.

Maggie sah ihm nach und fragte sich, wieso dieser schlanke, athletische Mann mit den charmanten Grübchen in den Wangen Gefühle in ihr wecken konnte, die sie seit Jahren nicht gehabt hatte. War das nur körperliche Anziehung, regte er lediglich ihren Hormonhaushalt an?

Als sie Nick letzten Herbst in Platte City kennen gelernt hatte, war er ein Sheriff mit Playboyimage gewesen. Zuerst hatte sie sich nur geärgert, dass sie sich von seinem Charme und dem guten Aussehen so angezogen fühlte. Im Verlauf einer beängstigenden, strapaziösen Woche hatte sie dann allerdings einen mitfühlenden, verantwortungsvollen Mann kennen gelernt, dem es wirklich darauf ankam, das Richtige zu tun.

Ehe sie Nebraska seinerzeit verließ, hatte er ihr seine Liebe gestanden. Sie hatte das abgetan wie die eigenen verwirrenden Gefühle, die man nun mal entwickelt, wenn man gemeinsam eine Krise durchmacht. In Kansas City hatte er wiederholt, dass sie ihm immer noch viel bedeutete. Da er jetzt wusste, dass sie in Scheidung von Greg lebte, fragte sie sich, was er vorhatte. Bedeutete sie ihm wirklich etwas, oder war sie nur eine weitere Eroberung für ihn?

Im Grunde war das gleichgültig. Ihr fehlte im Moment die Energie, sich ernsthaft mit einer möglichen Beziehung zu befassen. Sie musste sich auf ihren Fall konzentrieren, bei dem nur Verstand und Instinkt gefragt waren, nicht ihr Herz. Noch wichtiger war für sie die Überlegung, dass sie sich nicht zu sehr an einen Menschen hängen sollte, den Stucky ihr im Bruchteil einer Sekunde nehmen konnte.

Die Befürchtung, dass Stucky auch Gwen ins Visier nehmen könnte, war belastend genug. Allerdings glaubte sie nicht, dass sie sich um Gwen bereits ernsthaft Sorgen machen musste. Im Kollegenkreis herrschte Einigkeit, dass Stucky sich vorerst an Frauen hielt, mit denen sie nur flüchtig Kontakt hatte, damit er unberechenbar blieb. Außerdem gestattete sie nur wenigen Menschen, ihr wirklich nahe zu kommen. Nach Gwens Meinung war das eine Folge des nicht verarbeiteten Verlustes ihres Vaters. Was für ein Haufen Psychogequatsche. Gwen behauptete weiter, sie gebe sich gegenüber Freunden und Mitarbeitern emotional unantastbar, und deutete das als Angst vor Intimität, dabei hielt sie lediglich professionelle Distanz.

„Wenn du niemand an dich heranlässt, kann er dir auch nicht wehtun“, hatte Gwen sie in ihrem mütterlichen Ton belehrt. „Aber wenn du Menschen nicht an dich heranlässt, können sie dich auch nicht lieben.“

Nick und Harvey kehrten zurück. Harvey trug den Knochen, den sie ihm gekauft hatte. Sie hatte geglaubt, er habe ihn im Garten verbuddelt, weil er ihn nicht haben wollte. Doch das frische Loch unter dem Hartriegel war offenbar nur ein sicherer Lagerplatz gewesen. Sie musste noch viel über ihren neuen Mitbewohner lernen.

Sobald Nick ihn von der Leine löste, sprang Harvey die Treppe hinauf.

Nick sah ihm nach. „Sieht aus, als hätte er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.“

„Der lässt sich jetzt in meinem Schlafzimmer in die Ecke fallen und kaut stundenlang an dem Ding herum.“

„Ihr zwei scheint schon richtig aneinander zu hängen.“

„Keine Chance. Sobald wir seine Besitzerin finden, kehrt der stinkende Bursche nach Hause zurück.“ Zumindest redete sie sich das ein. In Wahrheit würde sie sich schrecklich verraten fühlen, falls Rachel Endicott auftauchte und Harvey liefe gleich zu ihr, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Die Vorstellung allein war wie ein Stich ins Herz. Okay, vielleicht nicht gleich ein Stich, aber ein kleines Pieksen.

Der Punkt war, Gwen erzählte einen Haufen Mist. Jemand nah an sich heranzulassen, und wenn auch nur einen Hund, endete gewöhnlich damit, dass einem wirklich schrecklich wehgetan wurde. Solche Schmerzen gehörten zu den Dingen in ihrem komplizierten Leben, vor denen sie sich schützen konnte, also tat sie es.

Maggie bemerkte, dass Nick sie an den Küchentresen gelehnt beobachtete. Der Blick aus den kristallklaren blauen Augen war voller Sorge.

„Maggie, alles okay mit dir?“

„Ja, alles klar.“ Sein Lächeln verriet ihr, dass sie viel zu lange gezögert hatte, um überzeugend zu sein.

„Weißt du was?“ Er kam langsam auf sie zu, blieb vor ihr stehen und sah ihr in die Augen. „Warum lässt du dich heute Abend nicht von mir verwöhnen?“

Er strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. Das vertraute Prickeln durchströmte sie, und sie wusste genau, was er mit verwöhnen meinte.

„Nick, ich kann nicht.“

Sein Atem strich über ihr Haar. Nick schien sie nicht zu hören und ließ die Lippen über ihre Wange gleiten. Maggie atmete heftiger, als seine Lippen über ihre strichen. Doch anstatt sie zu küssen, glitten sie weiter zur anderen Wange und über Augenlider, Nase und Stirn zurück ins Haar.

„Nick“, versuchte sie es wieder und bezweifelte, dass er sie verstand. Ihr Herz schlug so laut, dass es sie am Denken hinderte. Nicht dass ihr Hirn einen vernünftigen Gedanken produziert hätte. Anstatt Nicks Zärtlichkeit zu genießen, konzentrierte sie sich auf den Druck des Küchentresens im Rücken, um nicht von Gefühlen mitgerissen zu werden.

Schließlich hielt Nick inne und sah sie an, das Gesicht nah vor ihrem. Oh Gott, in diesen warmen Augen konnte man sich verlieren. Er streichelte und massierte ihr die Schultern. Seine Finger glitten ihr in den Kragen und streichelten Hals und Nacken.

„Ich möchte nur, dass du dich gut fühlst, Maggie.“

„Nick, es geht wirklich nicht“, hörte sie sich sagen, während eine innere Stimme sie drängte, das sofort zurückzunehmen.

Lächelnd streichelte er ihr wieder die Wange. „Ich weiß.“ Er atmete tief durch, weder enttäuscht noch gekränkt oder resigniert, eher so, als hätte er nichts anderes erwartet. „Ich weiß, du bist noch nicht so weit. Das kommt zu schnell nach Greg.“

Großartig, dass er das verstand, denn sie tat es eigentlich nicht. Trotzdem versuchte sie ihm eine Erklärung zu geben.

„Mit Greg war alles so ... bequem.“ Das waren genau die falschen Worte, sie sah es an seinem gekränkten Blick.

„Und mit mir ist es das nicht?“

„Mit dir ist es ...“ Sein Streicheln lenkte sie weiter ab und beschleunigte ihre Atmung. Versuchte er sie umzustimmen, weil er merkte, wie leicht das war? „Mit dir“, fuhr sie fort, „ist es so intensiv, dass es mir Angst macht.“ Jetzt war es heraus.

„Es macht dir Angst, dass du die Kontrolle verlieren könntest.“ Er sah ihr tief in die Augen.

„Mein Gott, du kennst mich gut, Morrelli.“

„Ich sag dir was. Wenn du so weit bist, und ich betone wenn, nicht falls“, er ließ sie nicht aus den Augen und streichelte sie weiter, „darfst du so viel Kontrolle haben, wie du möchtest. Aber heute Abend, Maggie, möchte ich nur, dass du dich gut fühlst.“

Die Schmetterlinge im Bauch wurden wieder lebhafter.

„Nick ...“

„Ich habe nichts weiter vor, als dir das Dinner zu kochen.“

Sie entspannte die Schultern und seufzte lächelnd. „Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst.“

„Ich kann eine Menge Dinge, von denen du nichts weißt ... noch nicht.“ Diesmal lächelte er.