Washington, D.C.,
Montag, 6. April
Maggie konnte nicht glauben, dass Cunningham darauf bestanden hatte, sie sollte ihren Termin bei Dr. Kernan am Montagmorgen einhalten. Schlimm genug, dass sie auf eine Art inoffizielle Erlaubnis von den Behörden in Maryland warteten. Wie konnten die sicher sein, dass Stucky nichts merkte? Falls irgendwo durchsickerte, dass sie Informationen sammelten, brauchten sie sich wegen einer Falle für Stucky keine Gedanken mehr zu machen. Er wäre sofort weg, und es würde weitere fünf bis sechs Monate dauern, ehe sie wieder von ihm hörten.
Ärgerlich und gereizt, hatte sie im morgendlichen Berufsverkehr die einstündige Fahrt nach Washington hinter sich gebracht. Und jetzt musste sie auch noch warten. Kernan kam mal wieder zu spät.
Schließlich schlurfte er herein, roch nach Zigarrenrauch und sah aus, wie gerade aus dem Bett gestiegen. Sein billiger brauner Anzug war zerknittert, die Schnürsenkel hatte er vergessen zuzubinden, und ein Schuhband schleifte hinterher. Das dünne weiße Haar hatte er mit einem übel riechenden Gel an den Kopf geklatscht. Vielleicht war es auch das süßliche Cologne, das ihre Nase attackierte. Der Mann sah aus wie der Prototyp des obdachlosen Geisteskranken.
Wieder nahm er sie nicht zur Kenntnis, bis er in seinem Sessel saß und es sich knarrend und knackend, vor- und zurückrutschend bequem gemacht hatte. Diesmal war sie zu unruhig und zornig für seine Einschüchterungsspielchen. Ihr war gleich, welch seltsame Einblicke er sich in ihre Psyche versprach. Nichts, was Dr. Kernan sagte oder tat, konnte ihre aufgestaute Wut dämpfen, die jeden Moment zu explodieren drohte.
Sie wippte mit der Fußspitze und trommelte mit den Fingern auf die Armlehnen ihres Sessels. Unterdessen wühlte er in seiner Unordnung herum. Herrgott, wie sie diese Chaoten leid war! Zuerst Tully und jetzt Dr. Kernan. Wie funktionierten diese Typen?
Sie seufzte, und er sah sie finster über seine dicken Brillengläser hinweg an. Dann schürzte er die Lippen und machte „Ts, ts, ts,“ als wolle er sie schelten. Sie ließ ihn durch ihren Blick Verachtung, Ungeduld und Zorn spüren. Ihr war gleich, was er davon hielt.
„Sind wir in Eile, Spezialagentin Margaret O’Dell?“ fragte er und blätterte ein Magazin durch.
Sie entdeckte zwischen seinen Fingern das Cover und las Vogue. Um Himmels willen!
„Ja, ich bin in Eile, Dr. Kernan. Ich würde gern zu einer wichtigen Ermittlung zurückkehren.“
„Sie glauben also, Sie haben ihn gefunden.“
Sie betrachtete ihn prüfend, ob er wirklich etwas wusste. Doch er schien in die Seiten der Zeitschrift vertieft zu sein. Hatte Cunningham ihm vielleicht etwas gesteckt? Woher kamen seine Informationen?
„Es könnte sein.“ Sie wollte nicht zu viel verraten.
„Aber die anderen halten Sie auf, nicht wahr? Ihr Partner, Ihr Vorgesetzter, ich. Und wir wissen alle, wie sehr Margaret O’Dell das Warten hasst.“
Sie hatte keine Zeit für diese Dummheiten.
„Könnten wir bitte weitermachen?“
Er sah sie erstaunt wieder über den Rand der Brille an. „Mit was möchten Sie gerne weitermachen? Erwarten Sie eine Art Absolution von mir, eine Erlaubnis, ihn jagen zu dürfen?“
Er legte das Magazin beiseite, lehnte sich zurück und wartete mit über der Brust gefalteten Händen, dass sie ihm eine Antwort gab. Sie tat ihm den Gefallen nicht und erwiderte nur seinen Blick.
„Sie möchten, dass wir Ihnen alle aus dem Weg gehen“, fügte er hinzu. „Ist das so, Spezialagentin Margaret O’Dell?“ Er machte eine Pause. Sie verzog die Lippen, ohne zu antworten, und so fuhr er fort: „Sie wollen ihn sich wieder allein schnappen, weil Sie die Einzige sind, die ihn fangen kann. Oh nein, verzeihen Sie. Sie sind die Einzige, die ihn stoppen kann. Glauben Sie, wenn Sie ihn stoppen, erlöst Sie das von seinen Verbrechen?“
„Falls ich Absolution suchte, Dr. Kernan, wäre ich zweifellos in einer Kirche und nicht hier in Ihrem Büro.“
Er lächelte dünn. Maggie wurde sich bewusst, dass sie den Mann zum ersten Mal lächeln sah.
„Werden Sie Absolution suchen, nachdem Sie Albert Stucky zwischen die Augen geschossen haben?“
Entsetzt dachte sie an ihre letzte Sitzung und ihre mangelnde Selbstbeherrschung. Leider hatte sie sich immer noch nicht in der Gewalt. Ihr Zorn übertünchte, wie nah am Abgrund sie wirklich stand. Wenn sie so weitermachte, übersah sie den Abgrund vielleicht, und der Absturz kam urplötzlich.
„Vielleicht war ich zu lange mit dem Bösen befasst, um noch Skrupel bei der Wahl meiner Mittel zu haben, es zu zerstören.“ Sie ließ jetzt alle Vorsicht außer Acht. Er konnte ihr nichts tun, niemand konnte ihr mehr antun, als Stucky schon getan hatte. „Vielleicht“, fuhr sie von Ärger getrieben fort, „vielleicht muss ich so brutal werden wie Stucky, um ihn zu stoppen.“
Er sah sie an, doch diesmal mit anderen Augen. Er bedachte, was sie gesagt hatte. Kam jetzt irgendeine oberschlaue Bemerkung, versuchte er seine verdrehte Psychologie an ihr auszuprobieren? Sie war keine naive Studentin mehr. Sie konnte in seinem Spiel mithalten. Schließlich hatte sie schon Gegner gehabt, die zehn Mal verdrehter waren als er. Wenn sie sich gegen Albert Stucky behaupten konnte, erledigte sie Dr. James Kernan mit links.
Sie sah ihn ruhig unverwandt an. Hatte sie den alten Mann etwa sprachlos gemacht?
Schließlich beugte er sich vor, die Ellbogen auf den überladenen Schreibtisch gestützt.
„Das bereitet Ihnen also Sorgen, Margaret O’Dell.“
Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach, zeigte es jedoch nicht.
„Sie sind besorgt“, sagte er langsam, als nähere er sich einem delikaten Thema. Eine ungewohnte Geste, die Maggie sofort argwöhnisch machte. War das wieder einer seiner berühmten Tricks, oder war er wirklich mitfühlend. Sie hoffte auf einen Trick. Damit wurde sie fertig. Mitgefühl ertrug sie nicht so gut.
„Sie sind besorgt“, begann er wieder, „dass Sie genauso zu Untaten fähig sein könnten wie Albert Stucky.“
„Sind wir das nicht alle, Dr. Kernan?“ Sie wartete auf seine Reaktion. „Hat Jung nicht genau das gemeint, als er sagte, wir hätten alle eine Schattenseite?“ Sie beobachtete ihn genau, um zu sehen, wie es ihm gefiel, dass eine seiner Studentinnen ihn mit den eigenen Lehren schlug. „Die Bösen tun das, wovon die Guten nur träumen. Ist es nicht so, Dr. Kernan?“
Er rückte sich in seinem Sessel zurecht. Sie hätte die Anzahl seiner Lidbewegungen zählen sollen. Sie wollte lächeln, weil sie ihn sozusagen in der Ecke hatte. Doch es lag kein Triumph in dieser Erkenntnis.
„Ich glaube ...“, begann er und räusperte sich, „ich glaube, Jung sagte, das Böse sei ein genauso wichtiger Bestandteil des menschlichen Wesens wie das Gute. Dass wir lernen müssen zu erkennen und zu akzeptieren, dass es in jedem von uns steckt. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir alle zu denselben Verbrechen fähig wären wie Albert Stucky. Es besteht ein Unterschied, meine liebe Agentin O’Dell, zwischen dem Begehen einer verwerflichen Tat und dem Eintauchen und Sich-Suhlen im Bösen.“
„Aber wie verhindert man, dass man sich zu etwas Verwerflichem hinreißen lässt?“ Sie hörte ein ärgerliches Beben in der Stimme, da ihr innerer Aufruhr sich nicht mehr ganz unterdrücken ließ.
„Ich sage Ihnen was, Maggie O’Dell, und hören Sie gut zu.“ Er beugte sich vor, das Gesicht ernst, und die hinter den dicken Brillengläsern vergrößerten Augen ungewöhnlich besorgt. „Jung oder Freud interessieren mich einen feuchten Kehricht, wenn es um derart brutale Verbrechen geht. Denken Sie immer daran, die Entscheidungen, die wir im Bruchteil einer Sekunde treffen, zeigen unser wahres Naturell, unser wahres Ich. Ob uns das gefällt oder nicht. Wenn es so weit ist, denken Sie nicht nach, analysieren nicht, fühlen nicht und grübeln nicht ... Sie reagieren einfach. Vertrauen auf sich. Und ich möchte wetten, Ihr Handeln wird nicht verwerflicher sein, als die Situation es erfordert.“