7. KAPITEL

Ehe Gwen oder die Pizza kam, schenkte Maggie sich einen zweiten Scotch ein. Sie hatte nicht mehr an die Flasche gedacht, bis sie ihr aus der Kiste entgegenstarrte - ein notwendiges Gegenmittel bei dem entsetzlichen Kisteninhalt. Die Kiste trug die Aufschrift #34666. Die Nummer war Albert Stuckys Akte zugeteilt worden. Vielleicht war es kein Zufall, dass seine Akte mit 666 endete.

Direktor Cunningham wäre außer sich, wenn er wüsste, dass sie sich Stuckys offizielle Akte kopiert hatte. Aber das hier waren ihre Unterlagen. Sie jagte Stucky schon lange. Sie hatte sich jeden Tatort, wo er gequält und Leichen zerstückelt hatte, angesehen und hatte nach Fasern, Haaren und fehlenden Organen gesucht, und nach irgendetwas, das ihr verraten hätte, wie sie ihn fangen konnte. Sie hatte ein Anrecht auf diese Akte und betrachtete sie als seltsame Dokumentation eines Teils ihres Lebens.

Nach ihrem ungeplanten Ausflug zum Tierarzt hatte sie erst einmal geduscht. Ihr UVA-T-Shirt weichte im Waschbecken ein, doch die Blutflecken gingen vielleicht nie wieder raus. Das T-Shirt war ausgeleiert und verblichen, aber komischerweise hing sie an ihm. Manche Leute sammelten Zeitungsausschnitte, sie sammelte T-Shirts.

Die Jahre an der Universität von Virginia waren gute Jahre gewesen. Damals hatte sie entdeckt, dass sie ein eigenes Leben besaß und nicht nur die Betreuerin ihrer Mutter war. Dort hatte sie auch Greg kennen gelernt. Sie sah auf die Uhr, dann auf ihr Handy, um sicherzugehen, dass es eingeschaltet war. Greg hatte ihren Anruf wegen des fehlenden Kartons immer noch nicht erwidert. Er ließ sie absichtlich warten, aber sie wollte sich nicht darüber ärgern. Nicht heute Abend. Sie war einfach zu erschöpft für Emotionen.

Die Türglocke läutete. Maggie sah wieder auf die Uhr. Wie üblich kam Gwen zehn Minuten zu spät. Sie zog ihr Hemd herunter, damit es die im Hosenbund steckende Smith & Wesson verbarg. Die Waffe war ihr in letzter Zeit ein so normales Accessoire geworden wie ihre Armbanduhr.

„Ich weiß, ich bin spät“, sagte Gwen, noch ehe die Tür ganz offen war. „Der Verkehr war die Hölle. Freitagabend, und alle flüchten übers Wochenende aus der Stadt.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“

Sie legte Maggie lächelnd einen Arm um die Schultern. Einen Moment war Maggie erstaunt, wie zart und zerbrechlich sich die einige Jahre ältere Gwen anfühlte. Obwohl sie so zart wirkte, sah sie in ihr den Fels in der Brandung. Viele Male im Laufe ihrer Freundschaft hatte sie sich auf Gwen verlassen, auf ihre Stärke und Charakterfestigkeit gebaut und war ihrem Rat gefolgt. Gwen wich ein wenig zurück und betrachtete Maggie, eine Hand an ihrer Wange.

„Du siehst entsetzlich aus“, urteilte sie mitfühlend.

„Herzlichen Dank.“

Sie lächelte wieder und überreichte Maggie den Karton mit langhalsigen „Bud Light“-Flaschen, den sie mitgebracht hatte. Sie nahm ihn und nutzte die Gelegenheit, Gwens Blick auszuweichen. Sie hatten sich fast einen Monat nicht gesehen, obwohl sie regelmäßig telefonierten. Am Telefon konnte Gwen allerdings nicht sehen, welche Ängste sie in den letzten Wochen mit sich herumgeschleppt hatte.

„Die Pizza müsste jede Minute kommen“, sagte Maggie und schaltete die Alarmanlage wieder ein.

„Ohne Salami auf meiner Hälfte.“

„Dafür mehr Pilze.“

„Ich danke dir.“ Ohne eine Aufforderung abzuwarten, sah Gwen sich ungezwungen in den Räumen um. „Mein Gott, Maggie, das Haus ist ein Traum.“

„Mein Innenarchitekt gefällt dir?“

„Hm. Ich möchte sagen, brauner Karton entspricht ganz deinem Stil, schlicht und unprätentiös. Darf ich mir die obere Etage ansehen?“ fragte sie und war schon auf der Treppe.

„Kann ich dich aufhalten?“ Maggie lachte. Wie schaffte es diese Frau nur, wo sie aufkreuzte, einen Schwall von Energie, Wärme und Freude mitzubringen?

Sie hatte Gwen während ihre Assistenzzeit in der forensischen Abteilung in Quantico kennen gelernt. Sie war ein junger, naiver Neuling gewesen, der Blut bisher nur aus Teströhrchen kannte und noch nie einen Schuss abgefeuert hatte, außer im Training auf dem Schießstand.

Gwen war als ortsansässige Psychologin vom stellvertretenden Direktor Cunningham als private Beraterin hinzugezogen worden, um bei den Täterprofilen einiger wichtiger Fälle zu helfen. Sie besaß damals schon eine erfolgreiche Praxis in Washington. Viele ihrer Patienten gehörten zur Elite der Stadt - gelangweilte Ehefrauen von Kongressabgeordneten, selbstmordgefährdete Generäle und sogar ein manischdepressives Kabinettsmitglied aus dem Weißen Haus.

Vor allem Gwens Forschungen, ihre vielen Veröffentlichungen und ihre bemerkenswerte Einsicht in die Täterpsyche hatten Cunningham bewogen, sie zu bitten, als unabhängige Beraterin für das FBI zu arbeiten. Allerdings merkte Maggie schnell, dass Cunningham auch in anderer Hinsicht von Dr. Gwen Patterson angezogen war. Man hätte blind sein müssen, um nicht zu bemerken, dass die Chemie zwischen beiden stimmte. Allerdings wusste Maggie aus erster Hand, dass keiner von beiden seinen Gefühlen nachgegeben hatte oder es in Zukunft wollte.

„Wir respektieren unsere berufliche Beziehung“, hatte Gwen ihr einmal erklärt und damit klar gemacht, dass sie über dieses Thema nicht reden mochte. Damals war ihre Aufgabe als Beraterin längst beendet gewesen. Maggie wusste jedoch, dass Gwens Haltung des „Hände weg“ wohl eher mit Cunninghams kriselnder Ehe zu tun hatte als mit dem Versuch, professionell zu bleiben.

Maggie hatte an Gwen von Anfang an das Strahlende, der scharfe Verstand und der trockene Humor gefallen. Sie dachte nicht in Klischees und zögerte nicht, bei allem Respekt vor Autorität, wenn nötig, Regeln zu brechen. Maggie hatte erlebt, wie sie mit ihrer kultivierten, charmanten Art sowohl Diplomaten wie Kriminelle für sich eingenommen hatte. Obwohl Gwen fünfzehn Jahre älter war als sie, war sie sofort zur Freundin und Mentorin geworden.

Die Türglocke läutete wieder, und Maggie griff automatisch nach hinten zum Revolver, ehe sie die Bewegung stoppen konnte. Das Shirt über die Jeans ziehend, schaute sie durch das Seitenfenster, ehe sie die Alarmanlage ausschaltete. Zusätzlich überprüfte sie durch den Fischaugenspion in der Tür die Straße und öffnete.

„Große Pizza für O’Dell.“ Die junge Frau überreichte ihr den warmen Karton, dem ein Duft nach Käse und Salami entstieg. Sie strahlte, als hätte sie die Pizza selbst zubereitet. „Das macht bitte 18,59 Dollar.“

Maggie gab ihr einen Zwanziger und einen Fünfer. „Behalten Sie das Wechselgeld.“

„Oh, vielen Dank!“

Das Mädchen hüpfte fast die halbrunde Zufahrt hinunter, so dass der blonde Pferdeschwanz, der aus der blauen Baseballkappe heraussah, wippte. Maggie stellte die Pizza mitten im Wohnzimmer auf den Boden und kehrte zur Tür zurück, um die Alarmanlage wieder einzuschalten. Gwen kam eilig die Treppe herunter.

„Maggie, was ist passiert?“ fragte sie und hielt das nasse, blutbesprenkelte T-Shirt hoch. „Was ist das? Hast du dich verletzt?“

„Ach das.“

„Ja, ach das. Was war los?“

Maggie hielt rasch eine Hand unter das tropfende T-Shirt, nahm es ihr ab und trug es eilig wieder ins Waschbecken hinauf. Sie ließ das rot verfärbte Wasser ablaufen und gab frisches und neues Waschpulver dazu. Als sie im Spiegel aufsah, stand Gwen hinter ihr und beobachtete sie.

„Falls du verletzt bist, versuch dich bitte nicht selbst zu verarzten“, mahnte Gwen freundlich, aber streng.

Maggie erwiderte ihren Blick im Spiegel und wusste, dass Gwen sich auf den Schnitt bezog, den Albert Stucky ihr zugefügt hatte. Nachdem der allgemeine Aufruhr in jener Nacht abgeklungen war, hatte sie sich davongeschlichen und diskret ihre Wunde versorgt. Wegen einer Infektion war sie jedoch einige Tage später in der Notaufnahme gelandet.

„Es ist nichts, Gwen. Der Hund meiner Nachbarin war verletzt. Ich habe geholfen, ihn zum Tierarzt zu bringen. Das ist Hundeblut, nicht meines.“

„Du machst Witze.“ Es dauerte einen Moment, bis Gwens Miene sich erleichtert entspannte. „Mein Gott, Maggie, du musst deine Nase wirklich in alles stecken, was blutig ist, was?“

Maggie lächelte. „Ich erzähle dir später davon. Wir müssen jetzt essen, denn ich bin am Verhungern.“

„Das ist neu.“

Maggie wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und ging voran hinunter.

„Weißt du“, begann Gwen hinter ihr, „du musst ein bisschen Gewicht zulegen. Isst du überhaupt noch regelmäßig?“

„Ich hoffe, das wird keine Lektion über Ernährung.“

Sie hörte Gwen seufzen, wusste aber, dass sie nicht auf dem Thema beharren würde. In der Küche holte Maggie aus einem Karton auf der Arbeitsplatte Pappteller und Servietten. Jede nahm sich eine Flasche Bier und kehrte damit in den Wohnraum zurück, wo sie sich auf den Boden setzten. Gwen hatte bereits ihre teuren schwarzen Lederpumps weggeschleudert und ihre Kostümjacke über die Sessellehne gehängt. Maggie griff nach einem Stück Pizza und bemerkte, dass Gwen den offenen Karton auf dem Schreibtisch entdeckt hatte.

„Stucky, nicht wahr?“

„Willst du mich bei Cunningham verpetzen?“

„Natürlich nicht. Du kennst mich besser. Aber es macht mir Sorge, wie besessen du von ihm bist.“

„Ich bin nicht besessen.“

„Wirklich nicht? Wie würdest du es denn bezeichnen?“

Maggie biss in ihre Pizza. Sie mochte nicht an Stucky denken, oder ihr Appetit war dahin. Andererseits war er einer der Gründe für Gwens Anwesenheit.

„Ich möchte nur, dass er gefangen wird“, erklärte sie.

Gwen beobachtete sie und suchte nach verräterischen Anzeichen und Untertönen. Maggie verabscheute es, von ihrer Freundin analysiert zu werden, doch für Gwen war das ein schlichter Reflex.

„Und du allein kannst ihn fangen. Ist es das?“

„Ich kenne ihn am besten.“

Gwen betrachtete sie noch einen Moment, während sie ihre Bierflasche öffnete. Sie trank einen Schluck und stellte die Flasche beiseite.

„Ich habe einiges nachgeprüft.“ Sie nahm sich ein Stück Pizza, und Maggie versuchte, ihre Neugier nicht zu zeigen. Sie hatte Gwen gebeten, durch ihre Verbindungen herauszufinden, wo der Fall Stucky hängen geblieben war. Seit Direktor Cunningham sie zur Unterrichtseinheit verbannt hatte, war er es ihr unmöglich, Informationen über den Fortgang der Untersuchung zu bekommen.

Gwen kaute ausgiebig und trank noch einen Schluck, während Maggie wartete. Sie fragte sich, ob Gwen Cunningham direkt angesprochen hatte. Nein, das wäre zu offensichtlich gewesen. Er wusste, dass sie eng befreundet waren.

„Und?“ Sie hielt es nicht länger aus.

„Cunningham hat einen neuen Profiler eingestellt. Aber die Sondereinheit ist aufgelöst worden.“

„Warum, zum Kuckuck, hat er das gemacht?“

„Weil er keine Anhaltspunkte hat, Maggie. Wie lange ist die Flucht her? Über fünf Monate. Es gibt seither keinen Hinweis auf Albert Stucky; es ist, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.“

„Ich weiß. Ich habe fast wöchentlich bei VICAP nachgesehen. Auf Anregung des FBI registrierte das VICAP, das „Violent Criminal Apprehension Program“, Gewaltverbrechen im ganzen Land und teilte sie anhand bestimmter Merkmale in Kategorien ein. Es war nichts vorgefallen, das auch nur ansatzweise zu Stuckys Vorgehensweise gepasst hätte. „Was ist mit Europa? Stucky hat genügend Geld gehortet, er könnte überall sein.“

„Ich habe meine Quellen bei Interpol angezapft.“ Gwen trank noch einen Schluck. „Die haben nichts, was nach Stuckys Arbeit aussieht.“

„Vielleicht hat er seinen Modus Operandi geändert.“

„Vielleicht hat er ganz aufgehört, Maggie. Serienkiller tun das manchmal. Sie hören einfach auf. Niemand kann das erklären, aber es geschieht.“

„Nicht Stucky.“

„Glaubst du nicht, er hätte inzwischen Kontakt zu dir aufgenommen und versucht, sein krankhaftes Spiel wieder aufzunehmen? Schließlich warst du diejenige, die ihn ins Gefängnis gebracht hat. Er müsste in jedem Fall stinkwütend auf dich sein.“

Maggie hatte den Verrückten letztlich identifiziert, den das FBI den „Sammler“ getauft hatte. Ihr Persönlichkeitsprofil und die zufällige Entdeckung eines fast nicht erkennbaren Satzes von Fingerabdrücken - arrogant und sorglos am Tatort hinterlassen - führten dazu, dass der Sammler als Albert Stucky, Selfmade-Millionär aus Massachusetts, identifiziert wurde.

Wie die meisten Serienkiller schien Stucky erfreut über seine Entdeckung, genoss die Aufmerksamkeit und wollte Anerkennung. Als sich seine Besessenheit auf Maggie konzentrierte, erstaunte das keinen Experten, doch das dann folgende Spiel war ungewöhnlich. Stucky schickte ihr Hinweise, wo er zu finden sei, und die hatten eine sehr persönliche Note - entfernte Muttermale eines Opfers und einmal eine abgeschnittene Brustwarze in einem Umschlag.

Das war vor acht oder neun Monaten gewesen. Fast ein Jahr war vergangen, und Maggie hatte Mühe, sich daran zu erinnern, wie ihr Leben vor Stucky verlaufen war. Sie wusste nicht mehr, wie es war, ohne Albträume zu schlafen oder angstfrei zu leben. Bei dem Versuch, Stucky zu fangen, hatte sie fast ihr Leben verloren, und ehe sie sich wieder sicher fühlen konnte, war er ihnen entwischt.

Gwen langte hinüber, holte einen Stapel Tatortfotos aus dem Karton und legte sie aus, während sie ihr Stück Pizza aß. Sie gehörte zu den wenigen Menschen außerhalb des FBI, die sich Tatortfotos ansehen und gleichzeitig essen konnten. Ohne aufzusehen sagte sie: „Du musst dich von dieser Sache lösen, Maggie. Er macht dich fertig, obwohl er nicht mal in der Nähe ist.“

Die Bilder auf den verteilten Fotos starrten Maggie entgegen, in Schwarzweiß nicht minder entsetzlich als in Farbe. Nahaufnahmen von durchtrennten Kehlen und abgebissenen Brustspitzen, verstümmelten Vaginas und einer Sammlung entfernter Organe. Vorhin hatte sie bemerkt, dass sie viele Berichte noch auswendig kannte. Schlimm.

Greg hatte ihr kürzlich vorgeworfen, dass sie mehr über Eintrittswunden und das Vorgehen von Tätern wusste als über die Ereignisse und Jubiläen ihres gemeinsamen Lebens. Sie hatte das nicht bestreiten können. Vielleicht verdiente sie keinen Ehemann oder eine Familie oder ein eigenes Leben. Wie konnte eine FBI-Agentin auch erwarten, dass ein Mann ihren Job verstand, geschweige denn diese ... Besessenheit. Wenn es das wirklich war. Hatte Gwen Recht?

Sie stellte die Pizza beiseite und merkte, dass ihre Hände leicht zitterten. Ein Blick zu Gwen bestätigte, dass es ihr aufgefallen war.

„Wann hast du das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen?“ Gwen furchte besorgt die Stirn.

Maggie ignorierte die Frage und wich dem Blick aus den grünen Augen aus. „Nur weil uns noch kein Mord bekannt ist, heißt das nicht, dass er nicht wieder zu sammeln begonnen hat.“

„Und wenn er das tut, wird Kyle wachsam sein.“ Gwen entschlüpfte selten der Vorname des stellvertretenden Direktors Cunningham. Nur in Situationen wie dieser, wenn sie sehr besorgt war. „Lass los, Maggie, oder er zerstört dich.“

„Nein, tut er nicht. Ich bin hart im Nehmen, wie du weißt.“ Doch sie wich weiterhin ihrem Blick aus, damit Gwen die Lüge nicht erkannte.

„Aha, hart im Nehmen.“ Gwen setzte sich auf die Hacken. „Deshalb rennst du im eigenen Haus mit einer Waffe im Hosenbund herum.“

Maggie zuckte zusammen, Gwen bemerkte es schmunzelnd. „Also, ich würde es nicht hart im Nehmen nennen, sondern schlicht dickköpfig.“