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36. KAPITEL

Maggie stellte erstaunt fest, dass Agent Tully es geschafft hatte, ihr altes Büro kleiner aussehen zu lassen, als es war. Bücher, die nicht in das schmale, deckenhohe Regal passten, lagen gestapelt in der Ecke. Ein Besucherstuhl war unter Bergen von Zeitungen verborgen. Der Eingangskorb für wichtige Unterlagen wurde von einem Haufen schräg liegender Dokumente und Aktenordner erdrückt. Ketten aus Büroklammern lagen an den unmöglichsten Stellen herum. Ketten aufziehen war offenbar ein nervöser Tick dieses Mannes, der ständig seine Finger beschäftigen musste. Ein einsamer Kaffeebecher stand auf einem Stapel Notizblöcken und Computerhandbüchern. Hinter der Tür, wo andere Leute Trenchcoat oder Regenkleidung aufhängten, lugten graue Trainingssachen hervor.

Das Einzige, was sich im Büro ein wenig hervorhob, war ein Foto im einfachen Holzrahmen auf der ihm zu Ehren freigeräumten rechten Ecke des Schreibtisches. Maggie erkannte Agent Tully sofort, obwohl die Aufnahme schon einige Jahre alt sein musste. Das kleine blonde Mädchen hatte seine dunklen Augen geerbt, sah aber ansonsten wie die Miniversion ihrer Mutter aus. Die drei wirkten richtig glücklich.

Maggie widerstand dem Drang, genauer hinzusehen, als würde sie dadurch deren Geheimnisse aufdecken. Wie mochte das sein, sich so rundum glücklich zu fühlen? Hatte sie diese Art Glück jemals empfunden, nur für einen kurzen Moment? Etwas sagte ihr, dass auch für Agent Tully die Tage des Glücks vorüber waren. Nicht dass sie es genau wissen wollte.

Sie hatte schon seit Jahren nicht mehr mit einem Partner gearbeitet. Dass Cunningham die Zusammenarbeit zur Bedingung für ihre Rückkehr gemacht hatte, war ärgerlich genug. Es kam ihr wie eine Strafe für den einzigen dummen Fehler vor, den sie in ihrer Laufbahn gemacht hatte ... als sie allein in dieses Lagerhaus in Miami gegangen war, in dem Stucky sie erwartet hatte.

Okay, sie wusste natürlich, dass Cunningham es teilweise aus Fürsorge tat. Agenten arbeiteten zum eigenen Schutz gewöhnlich zu zweit. Profiler jedoch arbeiteten allein, und sie hatte sich an das Einzelgängertum gewöhnt. Turner und Delaney ständig um sich zu haben war lähmend genug gewesen. Natürlich würde sie sich an Cunninghams Regeln halten, doch manchmal vergaßen selbst die besten Agenten und die engsten Partner, ein Detail mitzuteilen.

Agent Tully kam mit zwei Kartons herein, die so gestapelt waren, dass er seitlich an ihnen vorbeischauen musste. Maggie half ihm, eine freie Stelle zu finden, um sie abzuladen.

„Ich denke, das sind die letzten Ordner zu den alten Fällen.“

Sie wollte schon bemerken, dass alle Kopien, die sie für sich gemacht hatte, bequem in einen Karton passten, unterließ es jedoch. Ebenso verkniff sie sich den wohlgemeinten Hinweis, dass ein wenig Organisation das Leben erleichterte, da sie zu begierig war zu lesen, was den Akten in den letzten fünf Monaten hinzugefügt worden war. Sie trat zurück und gestattete Agent Tully, in dem Durcheinander zu suchen.

„Darf ich die neueste Akte sehen?“

„Die über das Liefermädchen liegt auf meinem Schreibtisch.“ Er sprang aus der Hocke neben den Kartons auf und sah rasch mehrere Stapel auf dem Schreibtisch durch. „Der Fall aus Kansas City ist auch hier. Die haben uns die Unterlagen zugefaxt.“

Maggie widerstand dem Drang, ihm zu helfen. Sie hätte sich am liebsten alle Stapel geschnappt und für ihn geordnet. Wie, zum Kuckuck, bekam dieser Typ überhaupt etwas geregelt?

„Hier ist die Akte über das Liefermädchen.“

Er reichte ihr einen überquellenden Ordner, aus dem an allen Ecken Papiere und Fotos heraushingen. Maggie öffnete ihn und richtete und ordnete sofort den Inhalt, ehe sie einen Blick darauf warf. „Ist es okay, wenn wir sie beim Namen nennen?“

„Wie bitte?“ Agent Tully suchte immer noch auf seinem übersäten Schreibtisch. Schließlich fand er seine Metallrahmenbrille, setzte sie auf und sah Maggie an.

„Das Mädchen vom Pizzadienst. Ist es in Ordnung, wenn wir sie bei ihrem Namen nennen?“

„Natürlich“, erwiderte er, schnappte sich einen zweiten Ordner und blätterte ihn durch.

Er war ein wenig verlegen, weil er den Namen des Mädchens erst nachlesen musste. Diese Unkenntnis war kein Mangel an Respekt, vielmehr eine Methode, sich vom Geschehen zu distanzieren. Profiler nannten die Leiche häufig nur „das Opfer“ oder „Jane Doe“, da ihr erster Kontakt oft genug darin bestand, dass sie eine blutige Fleischmasse vorfanden, die kaum noch Ähnlichkeit mit der lebenden Person hatte.

Vor einiger Zeit hatte sie sich noch genauso verhalten und war in allgemeine Beschreibungen geflüchtet, um sich zu distanzieren. Doch dann hatte sie vor einigen Monaten einen kleinen Jungen namens Timmy Hamilton kennen gelernt, der ihr sein Zimmer und seine Sammlung an Baseballkarten gezeigt hatte, ehe er entführt wurde. Und auch jetzt schien es ihr plötzlich wichtig, den Namen des Mädchens zu kennen, dieser hübschen blonden jungen Frau, die ihr vor einer Woche noch so fröhlich die Pizza geliefert hatte und sterben musste, weil sie Kontakt zu ihr gehabt hatte.

„Jessica“, stieß Agent Tully geradezu hervor. „Sie hieß Jessica Beckwith.“

Maggie merkte, dass sie den Namen ebenso schnell hätte herausfinden können. Zuoberst lag der Bericht des Gerichtsmediziners, und das Mädchen war zu dem Zeitpunkt bereits identifiziert gewesen. Sie versuchte nicht an die Eltern zu denken. Etwas Distanz war nötig.

„Gab es Spuren am Tatort, die eine DNS-Analyse möglich machen?“

„Nichts Substanzielles. Ein paar Fingerabdrücke, aber sie stammen nicht von Stucky. Eigenartig, alles war abgewischt, bis auf diesen Satz Abdrücke ... ein Zeigefinger und ein Daumen. Wir können nicht ausschließen, dass sie einem Neuling im Polizeidienst gehören, der entgegen den Bestimmungen etwas angefasst hat und sich jetzt scheut, es zuzugeben. AFIS hat bis jetzt noch nichts gebracht.“

Er setzte sich auf die Schreibtischkante, legte den geöffneten Ordner auf einen Stapel, so dass er die Hände frei hatte, um wieder Büroklammern ineinander zu schieben.

„Die Tatwaffe wurde nicht gefunden. Ist das richtig?“

„Korrekt. Scheint sehr dünn und rasiermesserscharf zu sein, mit einer Schneide. Vielleicht ein Skalpell, so leicht wie er das Fleisch hackt und würfelt.“

Maggie zuckte bei dieser Wortwahl zusammen, und er merkte es.

„Tut mir Leid. Ist mir gerade so eingefallen.“

„Irgendwelcher Speichel am Körper? Sperma im Mund?“

„Nein. Ich weiß, das unterscheidet sich von Stuckys üblicher Vorgehensweise.“

„Falls es Stucky war.“

Sie spürte, dass er sie beobachtete, wich jedoch seinem Blick aus und studierte den Autopsiebericht. Warum sollte Stucky sich zurückhalten oder sich rechtzeitig zurückziehen? Er würde sich zweifellos nicht die Mühe machen, ein Kondom zu benutzen. Seit sie ihn als Albert Stucky identifiziert hatten, hatte er unverfroren gemacht, was er wollte. Das bedeutete auch, mit seiner sexuellen Potenz zu protzen, indem er die Opfer mehrfach vergewaltigte und sie oft auch noch zu oralem Sex zwang.

Sie hätte sich gern den Leichnam der jungen Frau angesehen. Sie wusste, nach welchen unbedeutend erscheinenden Details sie suchen musste, um Stucky zu überführen. Leider sah sie am Ende des Berichtes, dass Jessicas Leichnam bereits ihrer Familie übergeben worden war. Selbst wenn sie die Überführung noch stoppen könnte, wären alle Beweisspuren am Körper beseitigt, abgewaschen von einem wohlmeinenden Bestattungsunternehmer.

„Wir haben im Abfallcontainer ein gestohlenes Handy gefunden“, sagte Agent Tully.

„Aber es war sauber abgewischt.“

„Richtig. Die Anrufliste zeigte jedoch einen Anruf beim Pizzadienst früher am Abend.“

Maggie hielt inne und blickte zu Tully. Mein Gott, sollte es so leicht gewesen sein? „So hat er sie also entführt. Er hat einfach eine Pizza bestellt?“

„Das haben wir ursprünglich geglaubt“, erklärte er. „Wir fanden die Auslieferungsliste in ihrem abgestellten Auto. Wir sind sie durchgegangen und haben Adressen und Telefonnummern überprüft. Als Cunningham Newburgh Heights als Ihren neuen Wohnort entdeckte, prüfte er Ihre Anschrift und fand sie auf der Liste. Auch alle anderen Adressen gehörten zu Bewohnern der Gegend. Die meisten Leute, mit denen wir bisher gesprochen haben, waren auch zu Hause und haben ihre Pizza erhalten. Da sind nur ein paar übrig geblieben, die ich telefonisch nicht erreichen konnte, aber ich will nach Newburgh Heights fahren und sie persönlich überprüfen.“

Er reichte ihr zwei Fotokopien von Zetteln, die aussahen wie von einem Block gerissen. Der Kopierer hatte auch die ausgefransten Ecken abgebildet. Auf beiden Listen standen fast ein Dutzend Adressen. Ihre stand ganz oben und war mit dem Zusatz „ks1“ versehen. Sie lehnte sich gegen die Wand, da die Erschöpfung sie einholte. Natürlich war sie den größten Teil der Nacht beobachtend, abwartend von Fenster zu Fenster gewandert. Den einzigen Schlaf hatte sie auf dem Rückflug von Kansas City bekommen. Und wie gut konnte man sich bei Flugangst in zwölftausend Metern über dem Boden schon ausruhen?

„Wo haben Sie das Auto gefunden?“

„Auf dem Langzeitparkplatz am Flughafen. Daneben entdeckten wir einen Van der Telefongesellschaft, der vor einigen Wochen als gestohlen gemeldet wurde.“

„Keine Spuren in Jessicas Wagen?“ fragte sie und überflog die Adressenliste.

„Da war etwas Lehm auf dem Gaspedal. Sonst nicht viel. Ihr Blut und ein paar blonde Haare, auch welche von ihr, haben wir im Kofferraum entdeckt. Er muss ihren Wagen benutzt haben, um die Leiche zu transportieren. Keine Kampfspuren im Auto, falls Sie in diese Richtung denken. Allerdings muss er sie irgendwo hingebracht haben, wo er sich Zeit mit ihr lassen konnte. Das Problem ist, es gibt keine verlassenen Lagerhäuser oder leer stehende Anwesen in Newburgh Heights. Ich dachte, er hat dem Pizzaservice vielleicht eine Geschäftsadresse angegeben, weil Büros nachts leer stehen. Doch auf der Liste taucht nichts dergleichen auf.“

Plötzlich erkannte Maggie eine Adresse, straffte sich und stieß sich von der Wand ab. Nein, so leicht konnte das doch nicht sein. Sie las die Anschrift noch einmal.

„Tatsächlich schwebte ihm wohl etwas Luxuriöseres vor.“

„Haben Sie etwas entdeckt?“ Agent Tully war neben ihr und blickte auf die Liste, die er sich unzählige Male angesehen hatte, ohne etwas Auffälliges festzustellen.

„Diese Anschrift hier.“ Maggie deutete auf eine in der Mitte der Liste. „Das Haus steht zum Verkauf. Es ist leer.“

„Sie machen Witze. Sind Sie sicher? Wenn ich mich recht entsinne, ist das Telefon immer noch an einen Auftragsdienst angeschlossen.

„Die Eigentümer lassen sich ihre Anrufe wohl weiter durchstellen. Ja, ich bin sicher, dass es zu verkaufen ist. Meine Immobilienmaklerin hat es mir vor etwa zwei Wochen gezeigt.“

Der Rest der Akte, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte, war ihr nicht mehr wichtig. Sie war schon fast durch die Tür, ehe Agent Tully sie aufhielt.

„Warten Sie!“ Er riss sein zerknittertes Jackett von der Lehne des Bürostuhls. Dann stolperte er über ein abgetragenes Paar flacher Schuhe. Halt suchend griff er nach der Schreibtischkante und stieß einen Stapel Akten herunter, so dass sich Unterlagen und Fotos über den Boden verteilten. Da er ihr Angebot, beim Einsammeln zu helfen, mit einer abwinkenden Geste ablehnte, wartete Maggie gegen den Türrahmen gelehnt, bis er fertig war. Schlimm genug, dass Cunningham sie zwang, Dr. James Kernan aufzusuchen, aber dass er ihr auch noch diesen Chaoten aufhalste, war der Gipfel.