9. KAPITEL

Ihr wollten die Augen zufallen. Ihre Schultern sanken vor Erschöpfung herab. Gwen war kurz vor Mitternacht gegangen. Doch Maggie konnte nicht schlafen. Sie hatte bereits alle Fensterriegel zweimal geprüft und ließ nur wenige Oberlichter geöffnet, um die wunderbar kühle Nachtluft hereinzulassen. Auch die Alarmanlage hatte sie nach Gwens Abfahrt mehrfach kontrolliert. Jetzt ging sie auf und ab, fürchtete sich vor der Nacht, hasste die Dunkelheit und schwor sich, morgen Vorhänge und Jalousien anzubringen.

Schließlich setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden, zwischen die Stapel mit den Unterlagen aus Stuckys Karton. Sie holte den Ordner mit Zeitungsausschnitten und Artikeln heraus, die sie sich heruntergeladen hatte. Vor fünf Monaten, gleich nach Stuckys Flucht, hatte sie damit begonnen, landesweit im Internet die Schlagzeilen der Zeitungen zu verfolgen.

Sie konnte immer noch nicht glauben, wie leicht Stucky denen entwischt war. Und ausgerechnet auf dem Weg in einen Hochsicherheitstrakt, eine einfache Fahrt, die nur einige Stunden hätte dauern sollen. Er tötete zwei Begleitbeamte, verschwand in den Everglades von Florida und wurde nie mehr gesehen.

Jeder andere hätte das wohl nicht überlebt und wäre zu einem kleinen Alligatorimbiss geworden. Aber wie sie Stucky kannte, tauchte der irgendwann im Westenanzug mit einer Aktentasche aus Krokoleder aus den Everglades auf. Ja, Albert Stucky war intelligent und gerissen genug, einem Alligator die Haut abzuschwatzen und ihn zur Belohnung aufzuschlitzen und an seine Artgenossen zu verfüttern.

Sie ging die letzten Artikel durch. Vergangene Woche hatte im Philadelphia Journal etwas über einen Frauentorso aus einem Fluss gestanden. Kopf und Füße entdeckte man in einem Abfallbehälter. Der Fall ähnelte Stuckys Vorgehensweise noch am meisten. Trotzdem hatte sie nicht das Gefühl, dass er dahinter steckte. Es war zu viel, das war Overkill. Stuckys Arbeitsweise, so unvorstellbar grausam sie auch war, beinhaltete nicht, dem Opfer durch Verstümmelung die Identität zu rauben. Nein, das vollführte er mit hinterhältigen psychologischen und mentalen Tricks. Auch das Entfernen von Organen war nicht etwa eine Aussage über das Opfer, sondern eine Fortsetzung seines Spiels.

Sie stellte sich vor, wie er lachend zuschaute, wenn ein harmloser Gast seine widerwärtige Hinterlassenschaft fand. Oft stellte er die entfernten Organe in einem unauffälligen Mitnahmebehälter auf einem leeren Cafétisch ab. Für ihn war das ein Spiel, ein morbides, abartiges Spiel.

Mehr Sorge als die verstümmelte Leiche bereiteten ihr Artikel über vermisste Frauen. Frauen wie ihre verschwundene Nachbarin Rachel Endicott. Intelligente, erfolgreiche Frauen, einige mit Familie, alle attraktiv, und ausnahmslos Menschen, die normalerweise nicht einfach verschwanden. Maggie fragte sich unwillkürlich, ob Stucky einige in seine Sammlung aufgenommen hatte. Zweifellos begann er von einem Versteck aus wieder aktiv zu werden. Er hatte genügend Geld und Möglichkeiten. Alles, was er brauchte, war Zeit.

Ihr war klar, dass Cunningham und seine aufgelöste Sondereinheit und jetzt auch sein neuer Profiler auf eine neue Leiche warteten. Falls aber irgendwann Leichen auftauchten, dann die der Frauen, die er rasch und nur zum Vergnügen umbrachte. Nein, wonach sie suchen sollten, waren die Frauen, die er sammelte. Die quälte er. Die endeten schließlich in entlegenen Gräbern tief in den Wäldern, nachdem er seine abartigen Spiele mit ihnen getrieben hatte. Spiele, die sich Tage und Wochen hinzogen. Er suchte sich nie junge, naive Frauen aus. Nein, Stucky liebte die Herausforderung. Er wählte sorgfältig intelligente, reife Frauen aus. Frauen, die kämpften, die nicht leicht brachen. Frauen, die er sowohl physisch wie psychisch quälen konnte.

Maggie rieb sich die Augen. Sie wollte noch einen Scotch. Die zwei, die sie vorhin getrunken hatte, dazu das Bier, machten sie leicht benommen und ließen ihren Blick verschwimmen. Obwohl Gwen Kaffee gekocht hatte, hatte sie ihn selbst nicht angerührt, weil sie ihn nicht mochte. Sie brauchte etwas, das sie auf Trab hielt, etwas wie Scotch, von dem sie genau wusste, dass er zum gefährlichen Hilfsmittel wurde.

Sie hob einen anderen Ordner hoch, und eine Notiz fiel heraus. Die Handschrift auf der Karte ließ sie frösteln. Sie hielt die Karte vorsichtig an einer Ecke hoch, als wäre sie vergiftet. Das hier war die erste von vielen Botschaften gewesen, die Stucky ihr geschrieben hatte. In sorgfältiger Handschrift stand da:

Es ist keine Herausforderung, ein Pferd ohne Kampfgeist zu brechen. Die Herausforderung besteht darin, Kampfgeist durch Angst zu ersetzen, rohe, animalische Angst, die einen spüren lässt, lebendig zu sein. Sind Sie bereit, sich lebendig zu fühlen, Margaret O’Dell?

Das war ihr erster Einblick in den Intellekt Albert Stuckys gewesen, der einen prominenten Arzt zum Vater gehabt hatte. Er hatte die besten Schulen besucht und alle Privilegien genossen, die für Geld zu haben waren. Allerdings wurde er aus Yale hinausgeworfen, weil er fast ein Wohnheim für Studentinnen abgebrannt hatte. Weitere Straftaten folgten: versuchte Vergewaltigung, Körperverletzung, kleinere Diebstähle. Alle Anklagen wurden jedoch entweder zurückgezogen oder aus Mangel an Beweisen fallen gelassen. Nach dem Unfalltod seines Vaters war Stucky verhört worden, da es sich um einen eigenartigen Segelunfall gehandelt hatte, obwohl sein Vater ein Segelexperte gewesen war.

Dann, vor sechs oder sieben Jahren, begann Stucky mit einem Geschäftspartner als einer der Ersten mit dem Aktienhandel im Internet. Stucky mauserte sich zum respektierten Geschäftsmann und Multimillionär.

Trotz intensiver Nachforschungen hatte Maggie nie herausgefunden, was Stucky zum Serienkiller gemacht hatte. Gewöhnlich ging der ersten Tat ein mit Stress behaftetes Erlebnis voraus, Tod, Zurückweisung, Missbrauch. Was die Initialzündung bei Stucky gewesen war, wusste sie nicht. Vielleicht ließ sich das Böse einfach nicht zügeln, und das Böse in Stucky war besonders mächtig.

Die meisten Serienkiller töteten zum Vergnügen oder weil es ihnen eine Art Genugtuung verschaffte. Sie trafen die bewusste Entscheidung, es zu tun. Die Tat entsprang weniger einer Abartigkeit. Für Albert Stucky war das Töten nicht genug. Er zog sein Vergnügen daraus, seine Opfer psychisch zu brechen, degradierte sie zu schniefenden, flehenden Wracks und beherrschte sie körperlich, geistig, seelisch. Er genoss es, ihren Mut zu brechen. Dann belohnte er seine Opfer mit einem langsamen, qualvollen Tod. Ironischerweise waren die, die er sofort tötete und deren Körper er in Abfallbehältern entsorgte, nachdem er Organe als Geschenk entnommen hatte, die Glücklicheren.

Sie erschrak, als das Telefon läutete, und griff nach ihrer Smith & Wesson. Ein reiner Reflex. Es war spät, und nur wenige Leute kannten ihre neue Nummer. Sie hatte sich geweigert, sie dem Pizzadienst zu nennen. Und sogar Greg kannte nur ihre Handynummer. Vielleicht hatte Gwen etwas vergessen. Sie langte auf den Schreibtisch und holte den Apparat herunter.

„Ja?“ meldete sie sich gespannt und fragte sich, wann sie aufgehört hatte, Hallo zu sagen.

„Agentin O’Dell?“

Sie erkannte den ruhigen Tonfall des stellvertretenden Direktors Cunningham. Doch ihre Anspannung ließ nicht nach.

„Ja, Sir.“

„Ich konnte mich nicht erinnern, ob Sie bereits unter der neuen Nummer zu erreichen sind.“

„Ich bin heute eingezogen.“

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Nach Mitternacht. Seit er sie vom Außendienst abgezogen und in die Unterrichtseinheit gesteckt hatte, sprachen sie oft miteinander. Hatte er vielleicht Informationen über Stucky? Hoffnungsvoll richtete sie sich auf.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Tut mir Leid, Agentin O’Dell. Ich merke gerade, wie spät es ist.“

Offenbar saß er immer noch an seinem Schreibtisch in Quantico. Was machte es schon, dass Freitagabend war?

„Ist schon in Ordnung, Sir. Sie haben mich nicht geweckt.“

„Ich nahm an, Sie würden morgen nach Kansas City abreisen, und ich wollte Sie nicht verpassen.“

„Ich reise am Sonntag.“ Sie ließ sich ihre Neugier und Erwartung nicht anmerken. Falls er sie hier brauchte, würde Stewart sie bei der Konferenz vertreten können. „Muss ich meinen Terminplan ändern?“

„Nein, keineswegs. Ich wollte mich nur vergewissern. Allerdings bekam ich heute am frühen Abend einen Anruf, der mir Sorge bereitet.“

Sie vermutete, dass ein ahnungsloser Passant in einem Abfallbehälter eine aufgeschlitzte Leiche gefunden hatte, und wartete auf die Einzelheiten.

„Ein Detective Manx von der Polizei in Newburgh Heights rief mich an.“

Maggies hoffnungsvolle Erwartung verflüchtigte sich.

„Er erzählte mir, dass Sie sich in eine Tatortermittlung eingemischt haben. Stimmt das?“

Maggie wollte sich die Augen reiben und merkte erst jetzt, dass sie immer noch den Revolver in der Hand hielt. Sie legte ihn beiseite und lehnte sich, völlig erledigt, mit dem Rücken an den Schreibtisch. Zur Hölle mit diesem Mistkerl Manx!

„Agentin O’Dell, stimmt das?“

„Ich bin erst heute hier eingezogen. Als ich Polizeifahrzeuge am Ende der Straße bemerkte, dachte ich, ich könnte vielleicht helfen.“

„Also sind Sie unaufgefordert in eine Tatortermittlung geplatzt.“

„Ich bin nicht hereingeplatzt. Ich habe meine Hilfe angeboten.“

„So hat Detective Manx es nicht beschrieben.“

„Nein, vermutlich nicht.“

„Ich möchte, dass Sie sich da raushalten, Agentin O’Dell.“

„Aber ich konnte ...“

„Raushalten heißt, dass Sie Ihren Ausweis nicht benutzen, um Tatorte zu betreten. Auch nicht, wenn die in Ihrer Nachbarschaft liegen. Haben Sie mich verstanden?“

Sie fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. Was fiel diesem Manx ein? Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte er nicht mal den Hund entdeckt.

„Agentin O’Dell, ist das klar?“

„Ja. Ja, das ist völlig klar“, erwiderte sie und erwartete einen zusätzlichen Tadel wegen ihres sarkastischen Tons.

„Ich wünsche Ihnen eine sichere Reise“, sagte er auf seine gewohnt abrupte Art und legte auf.

Sie warf das Telefon auf den Schreibtisch und begann die Akten durchzublättern. Da sie Verspannungen in Nacken, Rücken und Schultern spürte, stand sie auf und streckte sich. Sie war verärgert. Verdammter Manx! Verdammter Cunningham! Wie lange glaubte er sie dem Außendienst fern halten zu können? Wie lange wollte er sie dafür strafen, dass sie angreifbar war? Und wieso glaubte er, Stucky ohne ihre Hilfe fangen zu können?

Maggie stellte zum dritten Mal die Alarmanlage ein und prüfte die Kontrolllampe, obwohl ihr die mechanische Stimme jedes Mal mitteilte: „Die Alarmanlage wurde aktiviert.“ Sie verwünschte das Brummen im Kopf, schenkte sich noch einen Scotch ein und redete sich ein, einer mehr würde die Anspannung sicher lösen.

Die verstreuten Akten ließ sie auf dem Boden des Wohnraumzimmers liegen. Es schien angemessen, dass ihr neues Heim mit einem Stapel Blut und Entsetzen eingeweiht wurde. Sie ging, den Revolver in der Hand, in den Wintergarten, holte sich eine Decke und legte sie um die Schultern. Nachdem bis auf die Schreibtischlampe alle Lichter gelöscht waren, kuschelte sie sich in ihren Liegesessel gegenüber der Fensterfront.

Sie wiegte sich leicht, nippte an ihrem Scotch und beobachtete, wie der Mond immer wieder hinter Wolken verschwand und Schattenspiele in ihrem neuen Garten veranstaltete. Den Revolver hielt sie unter der Decke verborgen. Trotz ihres zunehmend verschwommenen Sehvermögens würde sie bereit sein. Cunningham würde kaum verhindern können, dass Stucky zu ihr kam, aber sie würde ihn aufhalten. Diesmal würde Stucky sich sehr wundern.