Tully riss das letzte Fax ab, das soeben von der Polizei in Kansas City eingegangen war. Er überflog den Inhalt und sammelte Akten, Notizen und Tatortfotos ein. In zehn Minuten hatte er eine Besprechung mit Cunningham, trotzdem befasste er sich gedanklich immer noch mit dem Streit, den er vor knapp einer Stunde mit Emma ausgefochten hatte. Emma hatte gewartet, bis er sie an der Schule absetzte, ehe sie die Bombe platzen ließ. Sie war verdammt gut in so was. Aber was erwartete er? Die hohe Kunst des Überraschungsangriffs hatte sie von keiner Geringeren als einer Meisterin gelernt, ihrer Mutter.
„Ach übrigens“, hatte sie beiläufig angefangen, „Josh Reynolds hat mich gebeten, mit ihm zum Schulball zu gehen. Das ist Freitag in einer Woche. Ich muss mir also ein neues Kleid kaufen. Wahrscheinlich auch neue Schuhe.“
Er war sofort zornig geworden. Sie war noch so jung, erst in der Mittelstufe. Wann waren sie übereingekommen, dass sie ausgehen durfte?
„Ist mir da eine Unterredung entfallen?“ hatte er so sarkastisch gefragt, dass es ihm im Rückblick peinlich war. Sie hatte ihn so beleidigt und gekränkt angesehen, wie sie nur konnte. Was fiel ihm ein, ihr zu misstrauen? Sie war fast fünfzehn, praktisch eine alte Jungfer, verglichen mit ihren Freundinnen, die, so versicherte sie, schon seit zwei oder drei Jahren ausgehen durften. Er unterließ es, mit dem alten Argument zu kontern: Nur weil dein Freund von der Brücke springt ... Das Problem war im Übrigen nicht, dass er ihr misstraute. Auch mit dreiundvierzig wusste er noch, wie scharf fünfzehn- und sechzehnjährige Jungen sein konnten. Er hätte das gern mit Caroline besprochen, wusste aber auch, dass sie Emmas Partei ergreifen würde. War er wirklich nur ein überbesorgter Vater?
Er schob die Faxblätter in einen Aktenordner, legte ihn auf den Stapel auf seinem Arm und ging den Flur hinunter. Nachdem er gestern Nacht mit Detective John Ford aus Kansas City telefoniert hatte, war er darauf vorbereitet, Cunningham in schlechter Stimmung anzutreffen. Der Mord an der Kellnerin sah mehr und mehr nach der Arbeit von Albert Stucky aus. Niemand sonst würde Agentin O’Dell die Niere ins Hotel liefern. Genau genommen wusste er nicht, warum er nicht längst im Flieger nach Kansas City saß, um sich O’Dells Ermittlungen anzuschließen.
„Guten Morgen, Anita“, grüßte er die grauhaarige Sekretärin, die zu jeder Stunde des Tages hellwach und adrett wirkte.
„Kaffee, Agent Tully?“
„Ja, bitte. Sahne, aber ...“
„Keinen Zucker. Ich weiß. Ich bringe Ihnen den Kaffee hinein.“ Sie winkte ihn durch. Jeder wusste, dass niemand den Fuß in Direktor Cunninghams Büro setzen durfte, ehe Anita nicht das Signal gegeben hatte.
Cunningham telefonierte, nickte Tully jedoch zu und deutete auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch.
„Ja, ich verstehe“, sagte er in den Hörer. „Natürlich werde ich das.“ Er legte wie üblich auf, ohne sich zu verabschieden, richtete sich die Brille, trank einen Schluck Kaffee und sah Tully an. Trotz frischem weißen Hemd und perfekt sitzender Krawatte verrieten seine Augen Müdigkeit. Sie waren von Schlafmangel geschwollen, und die roten Äderchen wurden durch die Brillengläser noch vergrößert.
„Bevor wir anfangen“, sagte er und sah auf seine Armbanduhr, „haben Sie Informationen über Walker Harding?“
„Harding?“ Tully unterdrückte Gedanken an hormongesteuerte High-School-Jungs und rosa Ballkleider. „Tut mir Leid, Sir, der Name Walker Harding sagt mir nichts.“
„Er war Albert Stuckys Geschäftspartner“, erklärte eine Frauenstimme von der offenen Tür.
Tully drehte sich, um die junge dunkelhaarige Frau anzusehen. Sie war attraktiv in ihrem blauen Hosenanzug.
„Agentin O’Dell, bitte kommen Sie herein.“ Cunningham erhob sich und deutete auf den Stuhl neben Tully.
Tully räumte ungelenk die Akten beiseite.
„Spezialagentin Margaret O’Dell, das ist Spezialagent R.J. Tully.“
Sein Stuhl wackelte, als Tully aufstand und Agentin O’Dells ausgestreckte Hand schüttelte. Ihr fester Händedruck und die offene Art, ihm in die Augen zu sehen, beeindruckten ihn sofort.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen, Agent Tully.“
Sie war aufrichtig und professionell. Keine Spur von Erschütterung durch ihr Erlebnis von gestern Abend. Das sah zweifellos nicht nach einer Agentin aus, die am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand.
„Die Freude ist ganz meinerseits, Agentin O’Dell. Ich habe viel von Ihnen gehört.“
Tully sah, dass Cunningham beim Austausch dieser Freundlichkeiten bereits ungeduldig wurde.
„Warum haben Sie nach Walker Harding gefragt?“ erkundigte sich Maggie und setzte sich.
Tully nahm seine Akten wieder auf. Okay, sie war also an Cunninghams Stil, sofort zur Sache zu kommen, gewöhnt. Tully wünschte, er hätte sich besser vorbereitet, anstatt über die Bedrohung von Emmas Jungfräulichkeit nachzugrübeln. Er hatte nicht mit Agentin O’Dells Erscheinen gerechnet.
„Um Sie ins Bild zu setzen, Tully“, erklärte Cunningham, „Walker Harding und Albert Stucky gründeten Anfang der 90er Jahre eine Firma für Aktienhandel im Internet. Eine der ersten dieser Art. Sie scheffelten Millionen.“
„Tut mir Leid, aber ich habe keine Informationen über ihn.“ Tully blätterte noch einmal prüfend seine Akten durch.
„Vermutlich nicht“, erwiderte Cunningham bedauernd. „Harding war schon von der Bildfläche verschwunden, als Stucky sein neues Hobby aufnahm. Die beiden verkauften ihre Firma, teilten die Millionen und gingen getrennte Wege. Wir hatten keinen Grund, uns mit Walker Harding zu befassen.“
„Ich bin nicht sicher, dass ich Ihnen folgen kann“, sagte Tully und streifte Maggie O’Dell mit einem Seitenblick, um zu sehen, ob nur ihm hier etwas entging. „Gibt es einen Grund, warum wir uns jetzt mit ihm befassen müssen?“
Anita unterbrach sie, eilte in den Raum und reichte Tully einen Becher Kaffee.
„Danke, Anita.“
„Möchten Sie auch etwas, Agentin O’Dell? Kaffee? Oder vielleicht Ihre übliche morgendliche Diät-Cola?“
Tully sah Agentin O’Dell in einer Weise schmunzeln, die verriet, dass die beiden Frauen sehr vertraut miteinander waren.
„Danke, Anita. Aber nein, ich möchte nichts.“
Die Sekretärin drückte der Agentin in einer eher mütterlichen Geste die Schultern, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Cunningham lehnte sich zurück, bildete mit aneinander gelegten Fingerspitzen ein Zeltdach und nahm die Unterhaltung genau dort wieder auf, wo sie unterbrochen worden waren, als hätte es keine Störung gegeben. „Nach dem Verkauf der Firma wurde Walker Harding zum Einsiedler. Er verschwand praktisch von der Bildfläche. Es gab keine Berichte von ihm, keine Transaktionen, absolut kein Lebenszeichen.“
„Und was hat das jetzt mit Albert Stucky zu tun?“ fragte Tully verwundert.
„Ich habe die Passagierlisten der Flüge der letzten Woche von den Flughäfen Dulles oder Reagan National nach Kansas City prüfen lassen. Nicht dass ich erwartet hätte, Stuckys Namen darauf zu finden.“ Er blickte von Tully zu Maggie. „Aber ich suchte nach einem der vielen Pseudonyme, die Stucky in der Vergangenheit benutzt hat. Dabei fiel mir auf, dass ein Walker Harding ein Ticket für den Flug am Sonntagnachmittag von Dulles nach Kansas City gebucht hatte.“
Cunningham wartete offenbar auf Reaktionen. Tully beobachtete ihn, wippte nervös mit dem Fuß, war aber von der Information nicht sonderlich beeindruckt.
„Verzeihen Sie, Sir, wenn ich das sage, aber das bedeutet vielleicht nicht viel. Es ist möglicherweise nicht mal derselbe Mann.“
„Vielleicht nicht. Trotzdem schlage ich vor, Agent Tully, dass Sie so viel über Walker Harding herausfinden wie nur möglich.“
„Direktor Cunningham, warum bin ich hier?“ Maggie O’Dell fragte höflich, aber energisch genug, um anzudeuten, dass sie nicht bereit war, einfach nur weiter zuzuhören.
Tully hätte fast gelächelt. Doch er widmete seine Aufmerksamkeit Cunningham. Es war schwer, Agentin O’Dell nicht zu mögen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie sich unruhig auf ihrem Stuhl zurechtrückte, sich aber zurückhielt. Da sie von Anfang an von dieser Ermittlung ausgeschlossen worden war, ärgerte es sie vermutlich, hier dabei zu sitzen, den Details zu lauschen, jedoch nicht mitmischen zu dürfen. Oder hatte Cunningham etwa seine Meinung geändert? Tully studierte sein Gesicht, fand allerdings keinen Anhaltspunkt, was sein Boss dachte.
Da Cunningham nicht gleich antwortete, nutzte die Agentin O’Dell die Gelegenheit fortzufahren.
„Bei allem Respekt, aber wir drei sitzen hier und reden über ein Ticket, das eventuell von einem Mann gekauft wurde, mit dem Albert Stucky eventuell vor Jahren gesprochen hat. Von einer Sache können wir jedoch ganz sicher ausgehen: Albert Stucky hat in Kansas City eine Frau ermordet und ist höchstwahrscheinlich noch dort.“
Tully wartete mit verschränkten Armen und hätte dieser Frau am liebsten applaudiert, die doch angeblich ausgebrannt und am Rande des Nervenzusammenbruchs war. Heute Morgen war sie zweifellos im Vollbesitz ihrer Kräfte.
Cunningham ließ sein Zeltdach einstürzen. Er beugte sich langsam vor und stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch. Dabei sah er aus, als sei er schachmatt gesetzt worden. Doch jetzt war er am Zug.
„Samstagnacht wurde etwa zwanzig Meilen von hier eine junge Frau ermordet aufgefunden. Ihre Leiche lag in einem Abfallcontainer. Die Milz wurde ihr chirurgisch entfernt und in einem Pizzakarton abgelegt.“
„Samstag?“ Nervös berechnete Maggie den ungewöhnlich kurzen Zeitabstand. „Das war kein Nachahmungstäter in Kansas City. Er hat die verdammte Niere vor meiner Tür abgelegt!“
Tully korrigierte sich insgeheim. Das war mehr als Schach, das war so etwas wie ein Showdown. Cunningham blieb jedoch gelassen.
„Die junge Frau war vom Lieferdienst des Pizzaservice. Sie wurde auf ihrer Tour verschleppt.“
Agentin O’Dell wurde ungeduldiger, schlug die Beine übereinander und stellte sie wieder nebeneinander. Tully unterstellte, dass sie erschöpft sein musste.
Cunningham fuhr fort: „Sie muss in Ihrer Nähe überfallen worden sein. Vielleicht in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Der Täter vergewaltigte sie, sodomisierte sie, schnitt ihr die Kehle durch und entfernte ihre Milz.“
„Wenn Sie sodomisierte sagen, bezieht sich das auf Analverkehr oder benutzte er einen Gegenstand?“
Tully sah da keinen Unterschied. War nicht beides scheußlich genug? Cunningham sah ihn an und erteilte ihm das Wort. Leider konnte er diese Frage beantworten, ohne in seine Akten zu sehen. Das Opfer hatte ihn so sehr an Emma erinnert, dass er sich jedes Detail des Falles eingeprägt hatte. Ob er wollte oder nicht, er konnte es sofort aus dem Gedächtnis abrufen.
„Keine Spermaspuren, doch der Gerichtsmediziner ist von Stimulation durch Penis überzeugt. Keine Spuren oder Rückstände, die auf Benutzung eines Fremdkörpers schließen ließen.“
„Stucky hat so etwas noch nie gemacht.“ Sie rückte eifrig auf die Stuhlkante vor. „Er würde das nicht tun. Das ergibt keinen Sinn. Er will ihre Gesichter betrachten, er genießt es, ihre Angst zu sehen. Von hinten kann er das nicht.“
Cunningham trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte, als könne er nicht erwarten, dass O’Dell schwieg.
„In der Nacht ihrer Ermordung lieferte die junge Frau eine Pizza an Ihre neue Adresse.“
Völlige Stille, da das Trommeln der Finger aufhörte. Cunningham und Tully beobachteten Agentin O’Dell. Sie lehnte sich zurück und schaute von einem zum anderen. Tully sah, wie ihr die Erkenntnis dämmerte. Er rechnete mit Furcht oder Zorn und war überrascht, dass sie nur resigniert wirkte. Sie rieb sich mit einer Hand über das Gesicht und strich sich die Haare hinter die Ohren. Ansonsten saß sie ruhig da.
„Deshalb, Agentin O’Dell, bin ich der Ansicht, es ist gleichgültig, ob Sie in Kansas City bleiben oder hier sind. Er wird Ihnen folgen.“ Cunningham lockerte sich die Krawatte und krempelte die Ärmel auf, als sei ihm plötzlich zu warm. Beide Gesten waren untypisch für ihn. „Albert Stucky zieht Sie in diese Sache hinein, egal, was ich tue, um Sie herauszuhalten.“
„Und indem Sie mich heraushalten, Sir, berauben Sie mich meiner einzigen Verteidigungsmöglichkeit.“ O’Dells Stimme bebte leicht. Tully sah, dass sie sich auf die Unterlippe biss. Tat sie das, um nicht zu viel zu sagen oder um ihrer Emotionen Herr zu werden?
Cunningham lehnte sich zurück, streifte Tully resigniert seufzend mit einem Blick. „Agent Tully hat darum gebeten, dass Sie ihn bei diesem Fall unterstützen.“
O’Dell sah Tully überrascht an. Er fühlte sich ein wenig befangen, ohne genau zu wissen, warum. Schließlich hatte er sie ja nicht angefordert, um ihr einen Gefallen zu tun. Sie konnte durch ihre Mitwirkung noch mehr in Gefahr geraten. Aber Tatsache war nun mal, dass er sie brauchte.
„Ich habe mich entschlossen, Agent Tullys Bitte unter zwei Bedingungen nachzukommen. Keine von beiden ist verhandelbar oder kompromissfähig.“ Cunningham beugte sich wieder vor, Ellbogen auf den Tisch, die Hände zur Faust geschlossen. „Erstens, Agent Tully leitet diese Ermittlung. Ich erwarte, dass Sie alle Informationen und Erkenntnisse umgehend an ihn weitergeben. Sie werden nicht - ich wiederhole, Agentin O’Dell, Sie werden nicht ohne Agent Tullys Begleitung auf Verbrecherjagd gehen oder einer Ahnung folgend irgendetwas überprüfen. Haben Sie das verstanden?“
„Natürlich“, erwiderte sie, die Stimme wieder kräftig und fest.
„Zweitens. Ich möchte, dass Sie unseren Psychologen aufsuchen.“
„Sir, ich glaube wirklich nicht ...“
„Agentin O’Dell, ich sagte, es gibt keine Verhandlungen und keine Kompromisse. Ich überlasse es Dr. Kernan, wie viele Sitzungen er pro Woche mit Ihnen abhalten will.“
„Dr. James Kernan?“ Maggie war entsetzt.
„Richtig. Ich habe von Anita Ihren ersten Termin festmachen lassen. Vergewissern Sie sich beim Hinausgehen, ob er Ihnen passt. Anita richtet Ihnen auch ein neues Büro ein. Agent Tully belegt ihr altes. Wenn Sie beide mich jetzt entschuldigen würden.“ Er lehnte sich wieder zurück und entließ sie.
Tully sammelte seine Unterlagen ein und wartete an der Tür auf O’Dell. Für jemand, der bekommen hatte, was er sich seit fünf Monaten wünschte, wirkte sie eher aufgebracht als erleichtert.