60. KAPITEL

Maggie stand vor dem Morgengrauen auf. Sie hinterließ Nick eine hingekritzelte Mitteilung, entschuldigte sich für die letzte Nacht und gab Anweisungen, wie er den Alarm einstellen sollte. Er hatte gesagt, dass er nach Boston zurückmüsse, um sich auf einen Prozess vorzubereiten, doch sie hatte gewusst, dass er nach einem Vorwand suchte, um sie zu verlassen. Sie hatte erwidert, dass er seinen neuen Job nicht gefährden dürfe. Dass sie ihn nicht in der Nähe haben wollte, damit Albert Stucky ihm nichts antun konnte, behielt sie für sich.

Auf dem Weg holte sie Agent Tully ab, doch als er ihr die Tür öffnete, sah er nicht so aus, als hätte er sie erwartet. Er war in Jeans, weißem T-Shirt und barfuß. Außerdem war er unrasiert, und sein kurzes Haar stand in alle Richtungen ab. Grußlos ließ er sie ein, sammelte unterwegs eine verstreute Ausgabe der Washington Post auf und nahm einen Kaffeebecher vom Fernsehgerät.

„Ich mache Kaffee. Möchten Sie eine Tasse?“

„Nein danke.“ Sie hätte gern betont, dass sie keine Zeit für Kaffee hatten. Warum hatte er es nicht so eilig wie sie?

Er verschwand in einem Nebenraum, vermutlich der Küche. Anstatt ihm zu folgen, setzte sie sich auf das steife Sofa, das neu aussah und roch. Das Haus war klein mit wenig Mobiliar, und das sah zumeist gebraucht aus. Es erinnerte sie an das Apartment, das sie mit Greg in der Nähe ihres College bewohnt hatte mit Milchkisten als Fernsehständer und Bücherregalen aus Betonsteinen und Brettern. Fehlte nur noch ein zitronengrüner Knautschsessel. Das Sofa und die schwarze Halogenbodenlampe waren die einzigen neuen Teile.

Ein Mädchen kam im Gang eines Schlafwandlers ins Zimmer, ohne Notiz von ihr zu nehmen, und rieb sich die Augen. Es trug nur ein kurzes Nachthemd, und das lange blonde Haar war wirr. Maggie erkannte es als das Mädchen von dem Foto auf Tullys Schreibtisch. Es ließ sich in einen großen Sessel vor dem Fernseher fallen, fand die Fernbedienung zwischen den Kissen, schaltete das Gerät ein und zappte durch die Kanäle, ohne dem Programm viel Beachtung zu schenken. Maggie hatte das unangenehme Gefühl, den gesamten Haushalt aufgeweckt zu haben, als sei es mitten in der Nacht und nicht bereits Morgen.

Die Suche endete bei den Nachrichten des Lokalsenders. Der Ton war ausgeschaltet, doch Maggie erkannte hinter der hübschen jungen Reporterin den LKW-Treff, und die junge Frau deutete auf den grauen Abfallbehälter, der mit gelbem Band abgesperrt war.

„Emma, schalte bitte den Fernseher aus!“ wies Tully sie nach einem Blick auf das Gerät an. Sein Becher war randvoll, und er brachte Kaffeeduft mit ins Zimmer. Er reichte Maggie eine gekühlte Dose Diät-Cola.

„Was ist das?“ fragte sie überrascht.

„Mir fiel ein, dass Diät-Cola so etwas wie Ihre Version von Morgenkaffee ist.“

Sie sah ihn erstaunt an, weil ihm das aufgefallen war. Mit Ausnahme von Anita hatte das nie jemand beachtet.

„Habe ich das falsch in Erinnerung? Trinken Sie normale Cola und nicht Diät?“

„Nein, Diät ist richtig.“ Sie nahm ihm die Dose ab.

„Agentin O’Dell, das ist meine ungezogene Tochter Emma.“

„Hallo, Emma.“

Das Mädchen blickte auf und fabrizierte ein Lächeln, das weder echt noch freundlich wirkte.

„Emma, zieh dir doch bitte etwas Ordentliches an.“

„Ja sicher, ganz wie du willst.“ Sie zog sich aus dem Sessel hoch und schlenderte hinaus.

„Tut mir Leid“, sagte er und drehte den Sessel herum, den Emma verlassen hatte, damit er Maggie und dem Sofa gegenüber stand und nicht dem Fernsehgerät. „Manchmal habe ich den Eindruck, Außerirdische haben meine richtige Tochter entführt und durch dieses merkwürdige Double ersetzt.“

Maggie öffnete lächelnd die Cola.

„Haben Sie Kinder, Agentin O’Dell?“

„Nein.“ Die Antwort schien ihr erschöpfend genug, doch Tully sah sie an, als erwarte er eine Erklärung. „Eine Familie zu gründen ist für eine Frau beim FBI um einiges schwieriger als für einen Mann.“

Er nickte, als sei das eine neue Erkenntnis, über die er noch nie nachgedacht hatte.

„Hoffentlich habe ich Ihre Frau nicht geweckt.“

„Dann müssten Sie schon ziemlich laut sein.“

„Wieso?“

„Meine Frau lebt in Cleveland ... das heißt, meine Exfrau.“

Das war ein heikles Thema für ihn. Sie merkte es daran, wie er dem Blickkontakt auswich. Beide Hände um den Becher gelegt, trank er langsam seinen Kaffee. Dann, als erinnere er sich plötzlich, warum sie an einem Sonntagmorgen hier zusammen waren, stand er auf, stellte den Becher auf den überladenen Tisch und begann in den Aktenstapeln zu suchen. Maggie fragte sich unwillkürlich, ob es einen Bereich in Agent Tullys Leben gab, in dem Ordnung herrschte.

Er zog eine Landkarte hervor, faltete sie auf und legte sie über die unebene Unterlage.

„Nach dem, was Sie mir am Telefon sagten, reden wir wohl über dieses Gebiet hier.“

Sie sah auf den Bereich der Karte, den er mit gelber Leuchtfarbe markiert hatte. Schau an, dabei hatte sie unterstellt, er hätte ihr nicht mal zugehört, als sie ihn mit ihrem Anruf geweckt hatte.

Er fuhr fort: „Da Rosen sich verirrt hatte, ist es schwer zu sagen, wo er sich befand. Aber wenn man den Potomac an der Mautbrücke überquert, gibt es da dieses Landstück etwa fünf Meilen breit und fünfzehn Meilen lang, das wie eine Halbinsel in den Fluss ragt. Die Brücke führt über die obere Hälfte. Die Karte verzeichnet dort keine Straßen, nicht mal Wege. Sieht aus, als gäbe es da nur Wälder, Felsen und wahrscheinlich Schluchten. Ziemlich raues Gelände. Mit anderen Worten, ein großartiges Versteck.“

„Und ein Ort, von dem man kaum fliehen kann.“ Maggie beugte sich vor, kaum fähig, ihren Eifer zu verbergen. Das musste es sein! Das war der Ort, an dem Stucky sich und seine „Sammlung“ versteckte. „Also, wann starten wir?“

„Langsam.“ Tully setzte sich und langte nach seinem Kaffeebecher. „Wir machen das genau nach Vorschrift.“

„Stucky schlägt hart und schnell zu und verschwindet wieder!“ Sie ließ Ärger und Ungeduld in der Stimme anklingen. „Er hat in einer Woche bereits drei Frauen umgebracht und wahrscheinlich zwei weitere entführt. Und das sind nur die, von denen wir wissen!“

„Ich weiß“, sagte er viel zu ruhig.

Verstand sie als Einzige diesen verrückten Killer? „Er könnte sich jede Minute, jeden Tag absetzen. Wir können nicht auf Gerichtsbeschlüsse oder die Unterstützung der örtlichen Polizei oder was auch immer warten!“

Er trank Kaffee und betrachtete sie über den Becherrand hinweg. „Sind Sie fertig?“

Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte sie sich zurück. Sie wusste, sie konnte Rosen überreden, einen Suchtrupp zusammenzustellen, obwohl das fragliche Gebiet jenseits des Flusses nicht nur in einem neuen Gerichtsbezirk, sondern auch in einem anderen Bundesstaat lag.

„Zunächst einmal setzt sich Cunningham mit den Behörden in Maryland in Verbindung.“

„Cunningham? Sie haben Cunningham angerufen? Na, wunderbar!“

„Ich habe versucht herauszufinden, wem das Land gehört.“ Er ignorierte ihren Einwurf und fügte hinzu: „Es war mal Regierungseigentum, was vielleicht die eigenartige chemische Zusammensetzung des Lehms erklärt. Wahrscheinlich haben die da irgendwas getestet. Der Besitz wurde vor etwa vier Jahren von einer Firma gekauft, von WH Enterprises. Allerdings kann ich keine Angaben über die Firma finden, keinen Geschäftsführer, keine Treuhänder, nichts.“

„Seit wann braucht das FBI eine Erlaubnis, einen Serienmörder zu schnappen?“

„Wir agieren auf bloße Vermutungen hin, Agentin O’Dell. Wir können da kein Einsatzkommando hinschicken, wenn wir nicht wissen, was uns erwartet. Sogar der Lehm bedeutet nur, dass Stucky mal in der Gegend war. Es heißt nicht, dass er noch dort ist.“

„Verdammt, Tully!“ Sie sprang auf und ging hin und her. „Das ist unsere einzige Spur zu seinem möglichen Versteck. Und Sie analysieren sie zu Tode, wo wir doch einfach hinfahren und uns vergewissern könnten!“

„Wollen Sie denn nicht wissen, in was Sie diesmal hineinstolpern, Agentin O’Dell?“ Er betonte diesmal und bezog sich auf ihr letztes Fiasko, als sie Stucky fangen wollte. Damals war sie allein einer Ahnung gefolgt und Stucky in die Falle gegangen. Wartete er vielleicht schon wieder auf sie?

„Also, was schlagen Sie vor?“

„Wir warten“, sagte er, als sei das keine große Sache. „Wir finden heraus, was da los ist. Die Behörden von Maryland und ihre Ermittler können uns aufklären. Wir wollen bestimmt keinen Privatbesitz betreten, auf dem uns eine Gruppe Verrückter mit einem Waffenarsenal erwartet, das uns vom Planeten pusten könnte.“

„Von wie viel Zeit reden wir hier?“

„Es ist schwer, am Sonntag mit allen, die wir brauchen, in Verbindung zu treten.“

„Wie lange, Agent Tully?“

„Einen Tag, höchstens zwei.“

Sie starrte ihn an, als müsste sie vor Zorn platzen.

„Inzwischen sollten Sie wissen, was Albert Stucky in einem oder zwei Tagen anrichten kann!“ Sie marschierte hinaus und ließ den Knall der zuschlagenden Tür betonen, was sie vom Warten hielt.