27. KAPITEL
Innerhalb von Minuten wimmelte die Hotellobby von Gesetzeshütern. Alle Ein- und Ausgänge wurden besetzt, Lifte überprüft und beobachtet, und die Treppenhäuser wurden in fünfundzwanzig Stockwerken durchsucht. Die Küche des Zimmerservice wurde besetzt und das Personal befragt. Trotz des massiven Einsatzes von Beamten war Maggie klar, dass sie ihn nicht finden würden.
In den Augen der meisten Kriminellen wäre es glatter Selbstmord, sich in einem Hotel aufzuhalten, in dem Hunderte Polizisten, Sheriffs, Kriminalbeamte und FBI-Agenten wohnten. Für Albert Stucky war es nur eine weitere anregende Herausforderung. Maggie stellte ihn sich vor, wie er irgendwo saß und sich über den Aufruhr und die vergebliche Suche nach ihm amüsierte. Deshalb hielt sie an den offenen Plätzen nach ihm Ausschau.
In der ersten Etage gab es ein Atrium mit Blick auf die Lobby. Sie stellte sich an das Messinggeländer und schaute suchend hinunter - über die Schlange am Reservierungstresen, zum Mann am Flügel, zu den wenigen Gästen an den Bistrotischen im verglasten Café, zum Mann vom Empfang und dem Taxifahrer, der das Gepäck holte. Stucky würde sich unauffällig unter die Leute mischen, als gehöre er hierher. Sogar dem Zimmerservice wäre er nicht aufgefallen, wäre er mit weißer Jacke und schwarzer Krawatte durch ihre Küche gegangen.
„Erfolg gehabt?“
Maggie zuckte erschrocken zusammen, widerstand aber dem Reflex, nach der Waffe zu greifen.
„Entschuldige.“ Nick schien ehrlich zerknirscht. „Er wäre verrückt, hier zu bleiben. Ich denke, er ist längst weg.“
„Stucky beobachtet mit Vorliebe, was er angerichtet hat. Die Sache macht ihm nur halb so viel Spaß, wenn er sich nicht an der Reaktion der Leute weiden kann. Die Hälfte der Beamten hier weiß nicht mal, wie er aussieht. Wenn er nur die Ruhe bewahrt, entdeckt man ihn nie. Er hat die unheimliche Fähigkeit, mit seiner Umgebung zu verschmelzen.“
Maggie blieb am Geländer stehen und schaute weiter suchend hinab. Sie spürte, dass Nick sie beobachtete. Sie hatte es satt, dass alle nur nach Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs bei ihr suchten. Allerdings war Nicks Sorge echt.
„Mir geht es gut“, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage.
„Das weiß ich. Trotzdem bin ich besorgt.“ Über das Geländer gebeugt, schaute er ebenfalls suchend hinab. Seine Schulter berührte ihre.
„Cunningham glaubt, er beschützt mich, indem er mich von den Ermittlungen ausschließt.“
„Ich habe mich schon gefragt, warum du unterrichtest. John sagte, es gäbe Gerüchte, du wärst ausgebrannt und am Ende deiner Nerven.“
Etwas in der Art hatte sie vermutet. Es bestätigt zu bekommen war jedoch wie ein Schlag ins Gesicht. Sie strich sich das feuchte Haar hinter die Ohren. Mit dem strähnig feuchten Haar und der weiten Kleidung entsprach sie wirklich dem Bild einer durchgeknallten Agentin.
„Glaubst du das auch?“ fragte sie, nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.
Sie standen fast im Schulterkontakt nebeneinander an der Brüstung und blickten geradeaus. Das Schweigen dauerte zu lange.
„Ich habe John gesagt, dass die Maggie O’Dell, die ich kenne, hart wie Stahl ist. Ich habe gesehen, wie du ein Messer in den Bauch bekamst und nicht aufgegeben hast.“
Eine weitere Narbe. Der verrückte Kindermörder, den sie mit Nick in Nebraska gejagt hatte, hatte sie niedergestochen und zum Sterben in einem Erdtunnel auf einem Friedhof zurückgelassen. „Niedergestochen zu werden scheint mir leichter verkraftbar zu sein als das, was Stucky mir antut.“
„Ich weiß, du willst das nicht hören, Maggie, aber ich glaube, Cunningham tut gut daran, dich aus den Ermittlungen herauszuhalten.“
Diesmal sah sie ihn an.
„Wie kannst du so was sagen? Es ist doch offensichtlich, dass Stucky wieder mit mir spielt.“
„Genau. Er versucht dich wieder hineinzuziehen. Warum soll man ihm den Wunsch erfüllen?“
„Aber du verstehst nicht, Nick.“ Sie hatte Mühe, ihre Verärgerung zu unterdrücken, und sprach betont ruhig und gelassen. Wenn sie über Stucky redete, klang sie schnell ein wenig hysterisch. „Stucky wird mich nicht in Ruhe lassen, ob ich nun an der Jagd teilnehme oder nicht. Cunningham kann mich nicht beschützen. Stattdessen hindert er mich an der einzigen Möglichkeit, zurückzuschlagen.“
„Ich vermute wohl richtig, dass er dich aufgefordert hat, die Abendmaschine nach Washington zu nehmen.“
„Agent Turner soll mich abholen.“ Sie ließ ihrem Ärger freien Lauf. „Das ist lächerlich! Albert Stucky ist hier, in Kansas City. Ich sollte hier bleiben.“
Schweigen. Sie schauten wieder suchend über die Menschenmenge in der Lobby, nah beieinander, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, Blicke und Hände sorgsam voneinander abgewandt. Nick rückte näher, als suche er bewusst den Körperkontakt. Seine Schulter berührte sie nicht mehr zufällig, sondern blieb in ständigem Kontakt. Diese zarte Berührung war eigenartig tröstlich und vermittelte Maggie das Gefühl, in dieser Sache nicht allein zu sein.
„Du bedeutest mir immer noch viel, Maggie“, sagte er ruhig, ohne sie anzusehen. „Ich dachte, ich hätte dich überwunden. Ich habe versucht, meine Gefühle zu unterdrücken. Doch als ich dich heute Morgen sah, wurde mir klar, dass sie unverändert sind.“
„Ich möchte darüber nicht sprechen, Nick. Es geht einfach nicht. Nicht jetzt.“ Ihr Magen krampfte sich zusammen vor Nervosität und Angst. Noch mehr Emotionen verkraftete sie momentan nicht.
„Ich habe dich angerufen, als ich nach Boston gezogen bin“, fuhr er ungeachtet ihrer Erwiderung fort.
Sie streifte ihn mit einem Seitenblick. War das eine Masche? Der jungenhaft charmante Draufgänger, der Frauenheld konnte sich doch nicht so schnell verändert haben.
„Ich habe keine Nachricht erhalten“, erwiderte sie, einerseits neugierig, aber auch bereit, seinen Bluff zu entlarven, falls es einer war.
„Quantico hat mir nicht verraten, wo du bist oder wann du zurückkommst. Nicht mal, als ich ihnen sagte, ich arbeite für das Büro des Bezirksstaatsanwaltes von Stafford County.“ Er sah sie flüchtig an und lächelte. „Die waren nicht beeindruckt.“
Das war eine sichere Geschichte, die sie weder bestätigen noch widerlegen konnte. Sie sah konzentriert in die Lobby. Unten schoben drei Männer Gepäck hinter einer Frau mit einem englischen Regenmantel her, der nicht einen einzigen Regentropfen aufwies.
„Schließlich habe ich Gregs Anwaltskanzlei angerufen.“
„Du hast - was?“
Sie drückte sich vom Geländer ab, wartete, bis er dasselbe tat, und betrachtete ihn aufmerksam.
„Keiner von euch steht im Telefonbuch“, verteidigte er sich. „Ich dachte mir, die Anwaltskanzlei von Brackman, Harvey und Lowe sei verständnisvoller und könne es nachvollziehen, wenn jemand aus dem Büro des Distriktstaatsanwaltes einen ihrer Anwälte nach Dienstschluss sprechen möchte.“
„Du hast mit Greg gesprochen?“
„Ungewollt. Ich hatte gehofft, dich an den Apparat zu bekommen. Falls Greg abnahm, wollte ich ihm erzählen, ich müsste mit dir über eine ungeklärte Sache in Nebraska sprechen. Schließlich wusste ich, dass du immer noch nach Pater Keller suchst.“
„Aber Greg hat es dir nicht abgekauft.“
„Nein.“ Leicht verlegen fuhr er fort: „Er sagte mir, ihr beide würdet an eurer Ehe arbeiten, und er bat mich als Gentleman, das zu respektieren und mich von dir fern zu halten.“
„Wie war das? Greg hält sich für einen Gentleman? Der weiß nicht mal, was das ist!“ Kopfschüttelnd nahm sie die alte Haltung am Geländer wieder ein. Greg war inzwischen so gut im Lügen, dass sie sich fragte, ob er seinen eigenen Mist glaubte. „Wie lange ist das her?“
„Ein paar Monate.“ Nick lehnte sich ebenfalls wieder auf das Geländer, hielt aber Distanz.
„Einige Monate?“ Sie konnte nicht fassen, dass Greg ihr den Anruf verschwiegen hatte, oder ihm nicht wenigstens bei einer ihrer vielen Streitereien ein Hinweis darauf als Stichelei entschlüpft war.
„Das war gleich nach meinem Umzug, etwa in der letzten Januarwoche. Ich hatte den Eindruck, dass ihr noch zusammenlebt.“
„Wir hatten beschlossen, beide vorerst dort wohnen zu bleiben, weil wir ja kaum zu Hause waren. Aber ich habe Greg Silvester um die Scheidung gebeten. Das klingt vielleicht herzlos - ich wollte auch warten.“ Sie sah, wie eine Putzkolonne große Bohnermaschinen durch die Lobby schob. „Wir waren auf der Silvesterparty seiner Kanzlei. Greg wollte, dass wir das glückliche Paar mimen.“
Der Aufseher der Bohnertruppe hatte eine Klemmkladde und trug glänzende Lederschuhe. Maggie beugte sich über das Geländer, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Zu jung und zu groß für Stucky.
„Die Leute auf der Party gratulierten mir und hießen mich in der Kanzlei willkommen. Sie ruinierten Greg die Überraschung. Er hatte mir einen Job als Leiterin ihrer Ermittlungsabteilung besorgt, ohne mit mir darüber zu reden. Er konnte überhaupt nicht verstehen, warum ich mich nicht auf die Chance stürzte, mich durch Firmenakten zu graben und nach Fehlinvestitionen zu suchen, anstatt in Abfallcontainern nach Körperteilen.“
„Also wirklich, wie unerträglich von ihm.“
Sie wandte sich ihm zu und lächelte über seinen Sarkasmus.
„Ich bin ein Mistweib, was?“
„Ein schrecklich schönes.“
Sie spürte ihre Wangen warm werden und wandte sich wieder ab. Wie widersinnig, sich sinnlich und lebendig zu fühlen, wo ihre derzeitige Lebenssituation sie doch beinah verrückt machte.
„Letzte Woche bin ich in mein eigenes Haus gezogen. In einigen Wochen sollte die Scheidung durch sein.“
„Vielleicht wärst du in eurer Wohnung sicherer gewesen. Ich meine, im Hinblick auf diese Sache mit Stucky.“
„Newburgh Heights liegt gleich außerhalb von Washington. Es ist wahrscheinlich einer der sichersten Orte in Virginia.“
„Ja, aber die Vorstellung, dass du da allein lebst, missfällt mir ziemlich.“
„Ich bin lieber allein, falls er mich holen kommt. Dann wird wenigstens kein Zweiter verletzt. Diesmal nicht.“
„Mein Gott, Maggie, du willst, dass er dich holen kommt?“
Sie wich seinem Blick aus, um darin keine Besorgnis lesen zu müssen. Seine Sorge konnte sie sich nicht auf noch als Bürde aufladen. Stattdessen beobachtete sie die mit Mopps und Kabeln hantierenden Männer in blauen Overalls. Er schob die Hand unter ihrem Arm hindurch und legte sich ihre Hand an die Brust. Sie lag warm über seinem klopfenden Herzen, und so standen sie still da und sahen zu, wie der Boden der Hotellobby gewachst und gebohnert wurde.