10. KAPITEL

Reston, Virginia, Samstagabend,
28. März

R.J. Tully blätterte eine weitere Zehndollarnote hin und schob sie unter dem Kassenfenster durch. Seit wann kostete eine Kinokarte nicht mehr 8,50 Dollar? Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal an einem Samstagabend ins Kino gegangen war. Wann war er überhaupt das letzte Mal im Kino gewesen? Sicher hatte er Caroline während ihrer dreizehnjährigen Ehe mal ins Kino ausgeführt. Ehe sie ihren Mitarbeitern den Vorzug vor ihm gegeben hatte.

Er sah sich um und entdeckte Emma, die, mindestens drei Kinobesucher entfernt, hinter ihm her trödelte. Manchmal fragte er sich, wer dieses große, hübsche Wesen war, diese Vierzehnjährige mit dem seidigen blonden Haar und dem Körper, der allmählich Rundungen annahm, die sie keck mit engen Jeans und knappen Pullis betonte. Sie sah ihrer Mutter jeden Tag ähnlicher. Oh Gott, wie er die Zeit vermisste, als dasselbe Mädchen seine Hand gehalten und ihm in die Arme gesprungen war, um ihn überall hin zu begleiten. Das hatte sich völlig geändert, genau wie sein Verhältnis zu ihrer Mutter.

Er wartete beim Kartenentwerter auf sie und fragte sich, ob sie es aushielt, im Kino zwei Stunden neben ihm zu sitzen. Ihr Blick wanderte unruhig durch die volle Lobby. Er begriff enttäuscht, dass sie von ihren neuen Freunden nicht gesehen werden wollte, wie sie am Samstagabend mit ihrem Dad ins Kino ging. War er ihr wirklich derart peinlich? Er konnte sich nicht erinnern, bei seinen Eltern ähnlich empfunden zu haben. Kein Wunder, dass er so viel Zeit bei der Arbeit verbrachte. Serienkiller zu verstehen erschien ihm derzeit wesentlich einfacher als vierzehnjährige Mädchen.

„Wie wär’s mit Popcorn?“ bot er an.

„Popcorn hat tonnenweise Fett.“

„Ich glaube kaum, dass du dir deshalb Sorgen machen musst, Spätzchen.“

„Oh mein Gott, Dad!“

Er sah sich erschrocken um, weil er fürchtete, ihr auf die Zehen getreten zu haben, so gequält klang sie.

„Nenn mich nicht so!“ flüsterte sie.

Er lächelte auf sie herab, was sie noch mehr in Verlegenheit brachte.

„Okay, also kein Popcorn für dich. Wie sieht’s mit Cola aus?“

„Diät-Cola“, korrigierte sie.

Erstaunlicherweise wartete sie neben ihm am Stand, doch ihr Blick schweifte immer wieder durch die Lobby. Seit fast zwei Monaten lebte Emma ganz bei ihm. Eigentlich sah er sie jetzt noch weniger als seinerzeit in Cleveland, wo er nur ein Wochenend-Dad gewesen war. Wenigstens hatten sie dort gemeinsam etwas unternommen, um die verlorene Zeit wettzumachen.

Seit sie nach Virginia gezogen waren, hatte er versucht, zumindest jeden Abend mit ihr zu essen. Diese Regel hatte allerdings er als Erster gebrochen. Sein neuer Job in Quantico war viel zeitaufwändiger als vermutet. Und es war eine große Umstellung für beide. Sie mussten sich nicht nur an ein neues Haus, einen neuen Job, eine neue Stadt und eine neue Schule gewöhnen. Emma musste auch noch damit klarkommen, ohne Mutter zu leben.

Er konnte immer noch nicht glauben, dass Caroline mit dem Arrangement einverstanden gewesen war.

Sobald sie es müde wurde, tagsüber die Geschäftsführerin zu spielen und nachts auszugehen, wollte sie ihre Tochter bestimmt wieder bei sich haben.

Er beobachtete Emmas rasches, nervöses Wegstreichen aufmüpfiger Haarsträhnen. Ihr Blick schweifte immer noch umher. War es ein Fehler gewesen, um das volle Sorgerecht zu kämpfen? Emma vermisste ihre Mutter, obwohl die weniger verfügbar gewesen war als er. Warum war es nur so schwer, Eltern zu sein?

Er hätte fast gebuttertes Popcorn verlangt, begnügte sich aber mit normalem in der Hoffnung, dass Emma vielleicht etwas stibitzte. „Und zwei Diät-Colas.“

Er sah sie an, um zu prüfen, ob sie von ihrem Einfluss auf ihn beeindruckt war. Stattdessen wurde ihre helle Haut noch blasser, als sich ihr Unbehagen in Panik verwandelte.

„Oh mein Gott, da ist Josh Reynolds!“

Jetzt schmiegte sie sich so nah an ihn, dass er einen Schritt zurücktreten musste, um ihre Colas und das Popcorn zu nehmen.

„Oh Gott! Hoffentlich sieht er mich nicht!“

„Wer ist Josh Reynolds?“

„Bloß einer der coolsten Jungs in der Mittelstufe.“

„Begrüßen wir ihn.“

„Was? Oh Gott, vielleicht hat er mich nicht gesehen.“

Sie drehte das Gesicht zu ihm, den Rücken zu dem dunkelhaarigen Jungen, der eindeutig auf sie zusteuerte. Und wieso auch nicht? Seine Tochter war umwerfend. Er fragte sich, ob Emma wirklich in Panik war oder Theater spielte. Er konnte es nicht erkennen. Da er Frauen nicht verstand, wie konnte er da hoffen, Mädchen in der Pubertät zu verstehen.

„Emma? Emma Tully?“

Tully beobachtete mit Erstaunen, wie seine Tochter aus der Panik, die sie noch vor Sekunden fest im Griff hatte, ein nervöses, aber strahlendes Lächeln hervorzauberte. Sie drehte sich um, als Josh sich gerade durch die Schlange quetschte.

„Hallo, Josh!“

Tully vergewisserte sich mit einem Blick, ob ein Double seine widerspenstige Tochter ersetzt hatte. Denn diese Mädchenstimme klang viel zu fröhlich.

„Welchen Film siehst du dir an?“

Ace of Hearts“, gestand sie zögerlich, obwohl es ihre Wahl gewesen war.

„Ich auch. Meine Mutter will ihn unbedingt sehen“, setzte er viel zu schnell hinzu.

Tully hatte Mitgefühl mit dem Jungen, der seine Hände tief in die Taschen schob. Was Emma für cool hielt, erforderte offenbar Anstrengung. Bemerkte er als Einziger, wie nervös der Junge mit dem Fuß wippte? Da betretenes Schweigen eintrat und die beiden ihn ignorierten, meldete Tully sich zu Wort. „Hallo, Josh. Ich bin R.J. Tully, Emmas Vater.“

„Hallo, Mr. Tully.“

„Ich würde dir gern die Hand geben, aber meine Hände sind voll.“

Aus den Augenwinkeln sah er Emma die Augen verdrehen. Wie konnte ihr die Bemerkung peinlich sein? Er war doch nur höflich. In dem Moment meldete sich sein Piepser. Josh erbot sich, die Colas abzunehmen, ehe Emma auch nur reagierte. Tully schaltete das Gerät ab, erntete aber noch einige ärgerliche Blicke. Emma lief entzückend rosa an. Er erkannte die Telefonnummer auf einen Blick. Ausgerechnet heute Abend!

„Ich muss telefonieren.“

„Sind Sie Arzt oder so was, Mr. Tully?“

„Nein, Josh. Ich bin FBI-Agent.“

„Sie machen Witze. Das ist cool!“

Das Gesicht des Jungen hellte sich auf, und Tully merkte, dass Emma es merkte. Anstatt sofort zu den Telefonzellen zu eilen, blieb er noch einen Moment. „Ich arbeite in Quantico. Ich bin das, was man einen Profiler nennt.“

„Wow, das ist cool!“ wiederholte Josh.

Ohne sie anzusehen, wusste Tully, dass Joshs Begeisterung Emmas Mienenspiel veränderte.

„Sie verfolgen Serienkiller, genau wie in Filmen?“

„Ich fürchte, in Filmen sieht das sehr viel glamouröser aus, als es ist.“

„Mann oh Mann! Ich wette, Sie haben schon ziemlich ekliges Zeug gesehen, was?“

„Leider ja, das habe ich. Aber jetzt muss ich wirklich telefonieren. Josh, würde es dir etwas ausmachen, Emma ein Weilchen Gesellschaft zu leisten?“

„Natürlich nicht. Kein Problem, Mr. Tully.“

Er sah Emma nicht mehr an, bis er am Telefon war. Seine kampflustige Tochter war das personifizierte freundliche Lächeln, und dieses Lächeln war auch noch echt. Während er die Nummer wählte, sah er die beiden Teenager lachend plaudern. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er froh und glücklich, Emma bei sich zu haben. Für wenige Minuten hatte er fast vergessen, dass die Welt grausam und gewalttätig war. Dann hörte er die Stimme des stellvertretenden Direktors Cunningham.

„Hier ist Tully, Sir. Sie haben mich angewählt?“

„Könnte sein, dass wir eins von Stuckys Opfern haben.“

Tully wurde es augenblicklich mulmig. Seit Monaten hatte er auf diesen Anruf gewartet und sich davor gefürchtet. „Wo, Sir?“

„Direkt vor unserer Haustür. Dreißig bis fünfundvierzig Minuten von hier entfernt. Können Sie mich in etwa einer Stunde abholen? Wir können zusammen an den Tatort fahren.“

Ohne nachzufragen wusste Tully, dass Cunningham meinte, er solle ihn in Quantico abholen. Ging der Mann eigentlich nie nach Hause?

„Sicher. Ich bin da.“

„Dann sehe ich Sie in einer Stunde.“

Das war’s. Nach Jahren hinter dem Schreibtisch in Cleveland, in denen er Täterprofile aus der Ferne erstellt hatte, bekam er jetzt die Chance, sich zu beweisen und zu den wirklichen Jägern zu stoßen. Warum war ihm dann so beklommen zu Mute?

Tully ging zurück zu seiner Tochter und ihrem Freund und erwartete, dass sie enttäuscht sein würde. „Tut mir Leid, Emma. Ich muss weg.“

Ihr Lächeln schwand sofort, und ihr Blick wurde finster.

„Josh, hast du nicht gesagt, du wärst mit deiner Mom hier?“

„Ja, sie holt uns Popcorn.“ Er deutete auf eine attraktive Rothaarige in der Schlange. Als sie merkte, dass Josh auf sie wies, zuckte sie bedauernd lächelnd die Schultern, weil es so lange dauerte.

„Einverstanden, wenn ich Joshs Mom frage, ob Emma sich euch anschließen darf?“ Tully wappnete sich vor Emmas Panik und Entsetzen.

„Na klar, das wäre cool“, sagte Josh sofort erfreut.

„Klar, Dad“, bestätigte auch Emma.

Tully fragte sich, ob sie wusste, wie cool sie zu wirken versuchte.

Als er sich Jennifer Reynolds vorstellte, schien sie erfreut, ihm helfen zu können. Er versprach, es wieder gutzumachen, indem er sie irgendwann zusammen zu einem anderen Film ausführte. Als er ihren Ehering bemerkte, hätte er sich für das Angebot treten mögen. Doch Jennifer Reynolds nahm es ohne Zögern und mit einem flirtenden Blick an, den nicht mal ein ungeübter und frisch gebackener Single wie er enträtseln musste.

Auf dem Weg zum Auto lächelte er, grüßte Passanten und klimperte mit den Wagenschlüsseln. Der Abend war noch warm, und der Mond versprach trotz gelegentlich durchziehender Wolken hell zu scheinen. Tully glitt hinters Steuer und prüfte sein Gesicht im Rückspiegel, als hätte er vergessen, wie es aussah, wenn er glücklich war. Wie ungewöhnlich, Glück und Vorfreude an einem Abend zu empfinden. Das war ihm seit Jahren nicht widerfahren. Obwohl seine Hochstimmung von kurzer Dauer sein musste, fuhr er mit dem Gefühl vom Kinoparkplatz, es mit allem und jedem aufnehmen zu können. Vielleicht sogar mit Albert Stucky.