45. KAPITEL
„Ich glaube, Stucky hat auch meine Nachbarin entführt.“
„Komm schon, Maggie, jetzt spinnst du.“ Gwen saß in Maggies Liegesessel, nippte Wein und tätschelte Harveys großen Kopf auf ihrem Schoß. Sie hatten sich sofort miteinander angefreundet. „Nebenbei bemerkt, dieser Wein ist recht gut. Du entwickelst dich zum Kenner. Siehst du, es gibt noch was anderes als Scotch.“
Maggies Glas war noch randvoll. Sie wühlte in den Akten, die Tully ihr über Jessicas und Ritas Ermordung gegeben hatte. Außerdem hatte sie schon vor Gwens Ankunft ausreichend Scotch getrunken, um die Rastlosigkeit zu dämpfen, die ihr ständiger Begleiter geworden war. Sie hatte gehofft, Zielschießen würde die Anspannung lindern, doch nicht mal der Scotch entfaltete heute seine übliche anästhesierende Wirkung. Stattdessen hatte sie Schwierigkeiten, mit ihrem verschwommenen Blick die eigene Handschrift zu entziffern. Allerdings freute es sie, endlich einen Wein gefunden zu haben, der Gwen schmeckte.
Als Gourmetköchin genoss Gwen gutes Essen und gute Weine. Nachdem sie vorhin angerufen und angeboten hatte, das Dinner mitzubringen, war Maggie zu Sheps Spirituosenladen geeilt und hatte in den Regalen gesucht. Die Verkäuferin, eine attraktive, sehr enthusiastische Brünette namens Hannah, hatte ihr erklärt, der Bolla Soave sei ein delikater trockener Weißwein mit blumiger Würze und Aprikosenaroma. Hannah hatte ihr versichert, er passe ausgezeichnet zu Gwens Dinner aus Hühnchen, in Folie gegart, mit Spargel.
Wein war Maggie viel zu komplex. Bei Scotch musste sie nicht zwischen Merlot, Chardonnay, Chablis, rosé, rot oder weiß wählen. Alles, was sie sich merken musste, war Scotch pur. Ganz einfach. Und er erfüllte seinen Zweck. Allerdings nicht heute Abend.
„Was sagt die Polizei zu Rachels Verschwinden?“
„Ich bin mir nicht sicher.“ Maggie blätterte eine Akte mit Zeitungsausschnitten durch, fand aber nicht, was sie suchte. „Der leitende Detective beschwerte sich bei Cunningham, ich sei in sein Territorium eingedrungen. Deshalb kann ich ihn nicht einfach anrufen und sagen: ,He, ich glaube, ich weiß, was in dem Fall passiert ist, aus dem Sie mich heraushalten wollen‘. Aber meine Nachbarin und der Ehemann der Verschwundenen tun so, als sei Rachel einfach abgehauen.“
„Das ist komisch. Hat sie das denn schon mal gemacht?“
„Keine Ahnung. Aber ist es nicht noch komischer, dass der Ehemann den Hund nicht haben will?“
„Nicht, wenn er glaubt, dass sie mit jemand durchgebrannt ist. Den Hund abzulehnen ist eine der wenigen Möglichkeiten, die ihm bleiben, sie zu strafen.“
„Das erklärt nicht, warum wir den Hund verletzt aufgefunden haben. Da war eine Menge Blut in dem Haus, und ich bin immer noch nicht überzeugt, dass alles von Harvey stammte.“ Maggie bemerkte, dass Gwen wie therapeutisch Harveys Kopf streichelte. „Wer nennt einen Hund Harvey?“
Er blickte auf, als Maggie seinen Namen nannte, bewegte sich jedoch nicht.
„Es ist ein schöner und guter Name“, erklärte Gwen und setzte ihr großzügiges Streicheln fort.
„So hieß auch der schwarze Labrador, von dem der Serienkiller David Berkowitz glaubte, er sei besessen.“
Gwen verdrehte die Augen. „Warum denkst du jetzt gleich wieder an so was? Vielleicht ist Rachel ein Fan von James Stewart, oder sie ist wild auf Filmklassiker und benannte ihn nach dem zwei Meter großen unsichtbaren Karnickel Harvey.“
„Na klar. Warum ist mir das nicht gleich eingefallen?“ fragte Maggie sarkastisch. Sie wollte nicht so gern über Harveys Besitzerin und deren mögliches Schicksal nachdenken und widmete sich wieder den Aktenordnern.
Sie wünschte, sie könnte sich erinnern, was Tully erwähnt hatte, das sie nicht mehr losließ. Es war eine Bemerkung gewesen, die Rachels Verschwinden mit Jessicas Ermordung in Verbindung brachte - abgesehen von dem Lehm. Sie kam einfach nicht drauf, wodurch sie augenblicklich diese Verbindung hergestellt hatte. Sie hoffte, dass die Polizeiberichte ihrer Erinnerung auf die Sprünge halfen.
„Warum, zum Kuckuck, ist der Ehemann nicht ein Hauptverdächtiger?“ fragte Gwen plötzlich gereizt. „Das wäre für mich nur logisch.“
„Du müsstest Detective Manx kennen, um das zu verstehen. Er geht die ganze Sache mit keinerlei Logik an.“
„Da ist er wohl nicht der Einzige. Der Ehemann scheint der logische Verdächtige zu sein, und du kommst zu dem Schluss, dass Stucky sie gekidnappt hat, weil ... nur damit ich das richtig verstehe ... du glaubst, Stucky hat Rachel Endicott entführt, weil du sicher bist, dass er das Mädchen vom Pizzadienst ermordet hat und Einwickelpapier von Schokoriegeln an beiden Tatorten gefunden wurde?“
„Und Lehm. Vergiss den Lehm nicht.“ Maggie überprüfte den Laborbericht über Jessicas Wagen. „Der Lehm vom Gaspedal enthielt eine Art metallischen Rückstand, den Keith gerade analysiert.“ Wieder dachte sie an den Lehm mit den glänzenden Teilchen auf Rachel Endicotts Treppe. Und wenn Manx sich nun nicht die Mühe gemacht hatte, die Lehmprobe einzusammeln? Aber selbst wenn, wie sollte sie die beiden Proben vergleichen? Manx würde sein Beweismittel garantiert nicht herausrücken.
„Okay“, sagte Gwen. „Das mit dem Lehm verstehe ich, falls er denselben Ursprung hat. Aber das Einwickelpapier in beiden Häusern zu finden, ist das als Beweis nicht ein bisschen weit hergeholt?“
„Stucky hinterlässt nur so zum Spaß Körperteile in Speisebehältern, um Leute zu schockieren. Warum sollte er nicht absichtlich dieses Einwickelpapier hinterlassen, nur um uns eine Nase zu drehen? Um zu zeigen, dass er diese unglaublich grausamen Morde begehen und hinterher einen kleinen Imbiss zu sich nehmen konnte.“
„Demnach wäre das Einwickelpapier als Hinweis Teil seines Spiels?“
„Ja.“ Sie blickte zu Gwen, die offenbar ihre Theorie anzweifelte. „Warum ist das so schwer zu glauben?“
„Hast du je daran gedacht, dass die Süßigkeiten eine Notwendigkeit sein könnten? Vielleicht haben der Killer oder seine Opfer ein Insulinproblem. Diabetiker nehmen manchmal Süßigkeiten zu sich, um Insulinüberschuss auszugleichen. Der kann durch Stress oder das Injizieren von zu viel Insulin auftreten.“
„Stucky ist kein Diabetiker.“
„Weißt du das sicher?“
„Ja“, erwiderte Maggie, erinnerte sich aber dann, dass Stuckys Blut nie auf diese Krankheit hin untersucht worden war.
„Wie kannst du da so sicher sein?“ beharrte Gwen. „Ein Drittel der Typ-2-Diabetiker wissen nichts von ihrer Erkrankung. So etwas überprüft man nicht routinemäßig, es sei denn, man hat Symptome oder die Krankheit liegt in der Familie. Und ich muss dir sagen, die Symptome sind vor allem im Frühstadium eher unauffällig.“
Natürlich hatte Gwen Recht, doch Maggie glaubte, sie wüsste es, wenn Stucky Diabetes hätte. Seine Blutwerte und die der DNS waren in den Akten. Es sei denn, er hatte die Krankheit erst seit kurzem. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass Albert Stucky anfällig war für etwas anderes als Revolverkugeln und vielleicht einen hölzernen Pflock durchs Herz.
„Was ist mit den Opfern?“ gab Gwen zu bedenken. „Vielleicht gehörte das Einwickelpapier den Opfern. Waren sie möglicherweise Diabetikerinnen?“
„Der Zufall wäre zu groß. Und ich glaube nicht an Zufälle.“
„Nein, da glaubst du schon lieber, Stucky hätte deine Nachbarin entführt, die noch gar nicht deine Nachbarin war, und dann deine Immobilienmaklerin, weil sie dir ein Haus verkauft hat. Ich muss dir sagen, Maggie, das klingt alles ein bisschen verrückt. Dir fehlt jeder Beweis, dass diese Frauen wirklich entführt wurden, geschweige denn, dass Stucky sie hat.“
„Gwen, es ist kein Zufall, dass die Kellnerin in Kansas City und das Mädchen vom Pizzaservice nur Stunden vor ihrer Ermordung Kontakt zu mir hatten. Ich bin die einzige Verbindung. Denkst du denn, es macht mir Spaß anzunehmen, dass Stucky Rachel und Tess erwischt hat? Ich ginge wahrhaftig lieber davon aus, sie lägen an einem verschwiegenen Strand in der Sonne und schlürften Piña coladas mit ihren Lovern.“
Es ärgerte sie, wie schrill ihre Stimme wurde. Sie wandte sich wieder ihrem Aktenstapel zu und versuchte ein System in Tullys Ordnung - besser gesagt - seine Unordnung zu bringen. Sie spürte, wie Gwen sie musterte. Vielleicht hatte sie ja Recht. Vielleicht minderte Paranoia ihre Vernunft, und sie bauschte die ganze Angelegenheit über Gebühr auf. Geriet sie wirklich psychisch aus den Fugen? Leider sah es ganz danach aus.
„Falls das stimmt, heißt das im Klartext, Stucky beobachtet dich und folgt dir.“
„Ja“, bestätigte Maggie so gelassen wie möglich.
„Wenn er sich Frauen aussucht, mit denen er dich sieht, warum hat er mich dann noch nicht aufs Korn genommen?“
Maggie sah zu ihrer Freundin auf, und der Anflug von Angst in deren sonst ruhigen, selbstsicheren Miene erschreckte sie. „Er sucht sich nur Frauen aus, mit denen ich flüchtigen Kontakt hatte. Nicht Freundinnen oder Bekannte. Das macht es für uns so schwer einzuschätzen, wen er sich als Nächstes greift. Er möchte, dass ich mich als Komplizin fühle. Ich glaube nicht, dass er mich vernichten will. Und dir etwas anzutun würde mich vernichten.“
Sie setzte ihr Aktenstudium fort, wollte das Thema beenden und die mögliche Gefahr für Gwen verdrängen. Doch sie hatte selbst schon darüber nachgedacht, dass Stucky sich demnächst an Menschen vergreifen könnte, die ihr nahe standen. Was sollte ihn daran hindern, wenn er seinen Verbrechen noch eins draufsetzen wollte?
„Hast du mit Agent Tully darüber gesprochen?“
„Du bist meine Freundin, und du hältst mich schon für verrückt. Warum in aller Welt sollte ich meine Befürchtungen mit Tully teilen?“
„Weil er dein Partner ist, und weil ihr beide diesen Mist zusammen abarbeiten müsst, gleichgültig wie verrückt die Details zu sein scheinen.“
Maggie fand einen weiteren Satz Dokumente und begann die Seiten durchzublättern. Wo war nur diese vermutete Verbindung zwischen Rachel und Stucky?
„Maggie, hast du mich gehört?“
Sie blickte auf und bemerkte, dass Gwens sonst glatte Stirn tief gefurcht war und die warmen grünen Augen sie sorgenvoll betrachteten.
„Maggie, versprich mir, dass du keine Alleingänge startest!“
„Ich mache keine Alleingänge mehr.“ Sie zog einen braunen Umschlag hervor und holte den Inhalt heraus.
„Maggie, das ist mir ernst.“
Sie unterbrach ihre Tätigkeit und sah Gwen an. Sogar Harvey sah sie mit traurigen Augen aufmerksam an, obwohl er die letzten Tage und Nächte hin und her gelaufen war und in der Hoffnung, sein Frauchen hole ihn ab, Türen und Fenster kontrolliert hatte, als könnte er es keine Minute länger bei ihr aushalten.
„Mach dir bitte keine Sorgen, Gwen. Ich verspreche, dass ich nichts Dummes anstelle.“ Sie faltete einige Kopien auf und fand sofort, wonach sie suchte. Es war der Bericht der Flughafenbehörde und eine Notiz über die polizeiliche Beschlagnahme eines weißen Ford Van. „Hier ist es. Das hat mich die ganze Zeit nicht losgelassen.“
„Was denn?“
Maggie stand auf und begann hin und her zu gehen.
„Susan Lyndell erzählte mir, dass der Mann, mit dem Rachel Endicott vielleicht durchgebrannt ist, ein Mann vom Telefondienst war.“
„Wo ist der Beweis? Ihre Telefonrechnung?“ fragte Gwen ungeduldig.
„Hier ist eine Notiz über die Beschlagnahme. Als die Polizei Jessica Beckwiths Auto am Flughafen entdeckte, parkte ein Van daneben. Er war vor zwei Wochen gestohlen worden.“
„Tut mir Leid, Maggie, aber da komme ich nicht mit. Also hat Stucky einen Wagen geklaut und ihn stehen lassen, als er ihn nicht mehr brauchte. Was hat das mit deiner vermissten Nachbarin zu tun?“
„Der beschlagnahmte Wagen gehörte der Northeastern Bell Telefongesellschaft.“ Sie wartete auf Gwens Reaktion, und als die zurückhaltend ausfiel, fuhr sie fort: „Okay, es ist nur ein Indiz, aber du musst zugeben, dass es ein ziemlich merkwürdiger Zufall ist, und ...“
„Ich weiß, ich weiß.“ Gwen brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. „Du glaubst nicht an Zufälle.“