37. KAPITEL
Maggie übte sich in Geduld, während Delores Heston von Heston Immobilien den richtigen Schlüssel suchte. Die Sonne sank bereits hinter der Baumreihe an der Grundstücksgrenze. Die vergebliche Suche nach Tess McGowan hatte Maggie viel Zeit gekostet. Obwohl sich Miss Heston sehr entgegenkommend zeigte, war Maggie nervös, gereizt und sehr besorgt. Sie wusste, hier hatte Albert Stucky Jessica Beckwith getötet. Sie konnte es spüren. Es war so einfach hier für ihn gewesen und absolut typisch.
Miss Heston zog ein weiteres Schlüsselbund heraus, und Maggie verlagerte ungeduldig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Die Maklerin bemerkte es.
„Ich weiß nicht, wo Tess ist. Wahrscheinlich hat sie beschlossen, sich ein paar Tage freizunehmen.“
Dieselbe Erklärung hatte sie bereits am Telefon gegeben, doch Maggie hörte ihre Besorgnis.
„Einer von denen muss passen.“
„Ich dachte, Sie würden die Schlüssel kennzeichnen.“ Maggie zügelte ihre zunehmende Gereiztheit. Schließlich tat Miss Heston ihnen einen Gefallen, indem sie ihnen einen Blick in das Haus gestattete. Maggie hatte ihr erzählt, sie untersuchten mögliche Einbrüche in der Gegend. Seit wann befasste sich das FBI mit Einbrüchen? Gottlob kam Miss Heston nicht auf diese Frage.
„Ich habe hier die Ersatzschlüssel. Die Hauptschlüssel sind alle gekennzeichnet. Aber Tess muss vergessen haben, sie zurückzubringen, nachdem sie gestern jemand das Haus gezeigt hat.“
„Gestern? Sie hat gestern jemand dieses Haus gezeigt?“
Miss Heston hielt inne und warf Maggie über die Schulter einen besorgten Blick zu. Maggie merkte, dass sie zu schrill und hysterisch gesprochen hatte.
„Ja, ich bin sicher, es war gestern. Ich habe den Terminplan eingesehen, ehe ich vorhin das Büro verließ - Mittwoch, 1. April. Gibt es ein Problem damit? Glauben Sie, es hat vorher jemand in das Haus eingebrochen?“
„Das weiß ich wirklich nicht“, erwiderte Maggie und versuchte neutral zu klingen, obwohl sie jetzt vor Ungeduld am liebsten die Tür eingetreten hätte. „Wissen Sie, wem sie das Haus gezeigt hat?“
„Nein, die Namen tragen wir aus Gründen der Vertraulichkeit nicht ein.“
„Sie haben den Namen nicht zufällig irgendwo aufgeschrieben?“
Miss Heston warf ihr noch einen besorgten Blick zu. In ihre makellose tiefbraune Haut hatten sich um Stirn und Mund Sorgenfalten eingegraben. „Tess hat ihn irgendwo notiert. Ich traue meinen Angestellten und schaue ihnen nicht ständig über die Schulter“, fügte sie mit einem Anflug von Frustration hinzu.
Maggie hatte keine Rechtfertigung verlangt. Sie wollte nur, dass diese Tür endlich aufging.
Sie schaute sich um und sah Agent Tully aus dem gegenüberliegenden Haus kommen. Er war lange dort geblieben. Sie fragte sich, ob die Blondine an der Tür ihn mit ihrem Charme aufgehalten hatte oder mit Informationen. Wie die Frau ihm lächelnd nachwinkte, ließ Maggie auf Charme tippen. Sie sah ihren großen, schlaksigen Partner über die Straße eilen. Hier draußen bewegte er sich mit selbstbewussten, langen Schritten. Im dunklen Anzug mit Sonnenbrille und kurz geschnittenem Haar sah er aus wie die Standardausgabe des FBI-Agenten. Außer dass Agent Tully zu höflich, zu freundlich und zu entgegenkommend war. Auch wenn er ihr nicht gesagt hätte, dass er aus Cleveland stammte, hätte sie auf den Mittleren Westen getippt. Da musste etwas Besonderes im Wasser des Ohio sein.
„Dieses Haus hat eine Alarmanlage.“ Miss Heston versuchte immer noch, den richtigen Schlüssel zu finden. „Oh, da ist er. Endlich.“
Das Schloss sprang klickend auf, als Agent Tully die Stufen hinaufeilte. Miss Heston drehte sich um, erschrocken über sein plötzliches Auftauchen.
„Miss Heston, das ist Spezialagent R.J. Tully.“
„Mein Gott, das muss ja eine wichtige Sache sein.“
„Nur Routine, Ma’am. Heutzutage arbeiten wir meist als Team“, erklärte er mit einem Lächeln, das sie sofort beruhigte.
Maggie hätte ihn gern gefragt, ob er etwas von der Nachbarin erfahren hatte, erkannte jedoch, dass sie auf einen günstigeren Augenblick warten musste. Warten war ihr verhasst.
Sobald sie das Foyer betraten, merkte Maggie, dass die Alarmanlage ausgeschaltet war. Keine der üblichen Warnlampen brannte oder blinkte.
„Sind Sie sicher, dass die Anlage noch aktiviert ist?“ fragte sie mit Hinweis auf die stumme Schalttafel. Inzwischen müsste sie summen und nach dem richtigen Eingabecode kreischen.
„Ja, ich bin ziemlich sicher. Es steht in unserem Vertrag mit dem Besitzer.“ Miss Heston drückte mehrere Knöpfe, und die Alarmanlage erwachte zum Leben. „Ich verstehe das nicht. Tess hätte bestimmt nicht vergessen, den Alarm einzuschalten.“
Maggie erinnerte sich, dass Tess McGowan in den Häusern, die sie ihr gezeigt hatte, sehr gewissenhaft im Aus und Einschalten der Alarmanlagen gewesen war. Da sie besonders auf die Sicherheitseinrichtungen geachtet hatte, wusste sie auch noch, dass diese hier nicht ungewöhnlich war, doch ausreichend für den normalen Hausbesitzer. Die meisten Menschen mussten sich ja nicht vor Serienkillern schützen.
„Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns umsehen?“ fragte Agent Tully, doch Maggie war bereits die offene Treppe hinaufgeeilt , als sie Miss Hestons Ausruf hörte: „Ach du großer Gott!“
Maggie beugte sich über das Eichegeländer und sah Miss Heston auf eine Aktentasche in der Ecke des Wohnzimmers deuten.
„Die gehört Tess!“ Bisher hatte sich die Maklerin sehr professionell verhalten. Ihre plötzliche Panik war enervierend.
Als Maggie wieder herunterkam, hatte Agent Tully die Aktentasche bereits an sich genommen und holte mit Hilfe eines weißen Taschentuchs den Inhalt heraus.
„Ausgeschlossen, dass Tess die hat liegen gelassen und nich’ wiedergekommen ist, die zu holen!“ Vor Aufregung sprudelten ihre Worte nur so hervor, und ihre gepflegte Sprechweise bekam einen Hauch von Slang, in dem sie sich offenbar wohler fühlte. „Da is’ ihr Terminkalender, ihr Notizbuch ... großer Gott, da stimmt doch was nich’!“
Maggie sah zu, wie Agent Tully den letzten Gegenstand aus der Tasche herausholte, ein Schlüsselbund mit gekennzeichneten Schlüsseln. Ohne genauer hinzusehen, wusste Maggie, dass es die Schlüssel zu diesem Haus waren. Ihr wurde flau im Magen. Tess McGowan hatte das Haus gestern jemand gezeigt, und sie hatte es zweifellos nicht aus freiem Willen verlassen.