Sobald Maggie Dr. Kernans Büro betrat, war sie wieder die neunzehnjährige Collegestudentin. Mit dem, was Nase und Augen wahrnahmen, kehrten die Erinnerungen an Verwirrung, Unsicherheit und Einschüchterung jener Zeit blitzartig zurück. Obwohl seine Praxis im Wilmington Tower in Washington, D.C., lag und nicht mehr auf dem Campus der Universität von Virginia, waren Ausstattung und Gerüche gleich geblieben.
Ihr Geruchssinn wurde mit einem Gemisch aus abgestandenem Zigarrenrauch, altem Leder und Ben-Gay-Einreibemittel traktiert. Der kleine Raum wies dieselben eigenartigen Utensilien auf wie damals. In einem Glas schwamm der in Formaldehyd konservierte abgetrennte Frontlappen eines menschlichen Hirns. Das Glas diente - welch Ironie - als provisorische Buchstütze für Titel wie Hitler erklären: Die Suche nach den Quellen des Bösen. Freuds Traumdeutungen und eine, wie Maggie wusste, seltene Erstausgabe von Alice im Wunderland. Vor allem das letzte Buch passte bestens zu Psychologie-Professor James Kernan, der Vergleiche mit dem verrückten Hutmacher heraufbeschwor.
Auf der Mahagonikommode an der gegenüberliegenden Seite befanden sich spitze alte Instrumente in interessanten Formen. Chirurgenwerkzeug, mit dem einst Lobotomien durchgeführt wurden. An der Wand hinter dem Mahagonischreibtisch hingen die passenden Schwarzweißfotos der Eingriffe. Ein weiteres gleichermaßen beunruhigendes Foto zeigte eine junge Frau unter Schocktherapie. Ihr leerer Blick und die resignierte Haltung unter der Metallapparatur hatten Maggie immer eher an eine Exekution denken lassen als an eine medizinische Behandlung. Manchmal verstand sie nicht, wie sie einem Berufsstand angehören konnte, der unter der Maßgabe, Krankheiten der Seele zu heilen, derart brutal vorgegangen war.
Kernan hingegen liebte diese Auswüchse. Sein Büro war exakt der Ausdruck des Wesens dieses sonderbaren kleinen Mannes, der berüchtigt war für seine groben Scherze über „Verrückte“ und seine ureigenste, an seinen Studenten perfektionierte Version der Schocktherapie.
Er liebte psychologische Spielchen, lockte sein Gegenüber in die Falle und trickste jeden ohne Vorwarnung aus. Eben noch bombardierte er im Tempo von Maschinengewehrsalven ein unvorbereitetes Erstsemester mit Fragen, ohne Zeit für Antworten zu geben, gleich danach stand er still in der Zimmerecke, Gesicht zur Wand. Bald darauf sprang er auf einen Schreibtisch, spulte seine Lektion ab, während er von einem Tisch zum nächsten balancierte und sein kleiner, untersetzter, aber alternder Körper abzustürzen drohte. Sogar die älteren Semester wussten nie, was sie von ihrem seltsamen Professor erwarten sollten. Und ausgerechnet diesem Mann traute das FBI zu, über ihre psychische Stabilität zu befinden?
Maggie hörte das vertraute Stampf-Quietsch seiner Schritte vor der Bürotür. Instinktiv setzte sie sich gerade hin und hörte auf, sich umzuschauen. Schon die Schritte dieses Mannes verwandelten sie in ein inkompetentes Collegeküken.
Dr. Kernan betrat ungezwungen sein Büro und schlurfte zum Schreibtisch, ohne ihre Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen. Er ließ sich in den Ledersessel fallen, dass es nur so knarrte. Maggie war nicht sicher, ob das Knarren ausschließlich vom Sessel stammte oder von alternden Gelenken.
Er begann in Stapeln von Papieren zu wühlen. Sie sah schweigend zu, die Hände im Schoß gefaltet. Kernan wirkte seit ihrer letzten Begegnung vor zehn Jahren zusammengeschrumpft. Damals war er ihr schon uralt vorgekommen, doch jetzt waren seine Schultern eingesunken und die braun gefleckten Hände zittrig. Sein Haar, schlohweiß, wie sie es in Erinnerung hatte, war dünn und federig geworden, so dass weitere braune Flecken auf Stirn und Kopfhaut hervortraten. Weiße Haarbüschel sprossen ihm aus den Ohren.
Er schien schließlich zu finden, was er so verzweifelt gesucht hatte, mühte sich, die kleine Blechdose Mintbonbons zu öffnen, nahm zwei heraus, ohne Maggie etwas anzubieten, und schloss die Dose wieder.
„O’Dell, Margaret“, sagte er vor sich hin und nahm sie immer noch nicht zur Kenntnis.
Er wühlte wieder in dem Durcheinander. „Kurs von 1990.“ Er hielt inne und blätterte in einem Ordner. Maggie sah auf die Beschriftung, um zu sehen, ob er ihre Akte las, entdeckte aber nur das Etikett: „Vierundzwanzig der besten Internet-Pornoseiten.“
„Ich erinnere mich an eine Margaret O’Dell“, sagte er, ohne sie anzuschauen mit der Stimme eines senilen alten Mannes, der Selbstgespräche führt. „O’Dell, O’Dell, der Bauer bürstet Fell.“
Maggie rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht und zwang sich, geduldig abzuwarten. Es hatte sich nichts geändert. Warum wunderte sie das? Er behandelte seine Patienten genauso wie seine Studenten? Er machte Wortspiele und reduzierte Namen und Persönlichkeiten auf Kinderreime. Alles Teil seiner Einschüchterungstaktik.
„Grundstudium in Medizin“, fuhr er fort und blätterte die Liste mit Pornoseiten durch. Ein paar Mal hielt er inne, schürzte die Lippen und machte „ts, ts, ts.“, bevor er sagte: „Sie saß in der linken hinteren Ecke des Raumes und notierte wenig. Gute Studentin. Stellte nur Fragen über kriminelles Verhalten und ererbte Charaktereigenschaften.“
Maggie verbarg ihre Überraschung. Diese Fakten konnte er zufällig notiert und in einer Studentenakte aufbewahrt haben. Und natürlich hatte er vor diesem Treffen ihre Akte durchgesehen, um im Vorteil zu sein. Nicht dass er das nötig gehabt hätte. Sie zwang ihre Hände zum Stillhalten, obwohl sie gern fest die Armlehnen gepackt und die Fingernägel ins Leder gebohrt hätte, um sich daran zu hindern, vor dieser lächerlichen Inquisition zu flüchten.
„Machte den Abschluss in Kriminalpsychologie“, fuhr er in seinem drolligen Ton fort. „Bekam eine Assistenzstelle in der forensischen Abteilung in Quantico.“ Schließlich sah er zu ihr auf. Seine wässerigen blassblauen Augen wurden durch das dicke Brillenglas vergrößert, darüber sprossen buschige weiße Brauen. Er rieb sich das Kinn und sagte: „Ich frage mich, wie weit sie es gebracht hätte, wenn sie eine sehr gute Studentin gewesen wäre.“ Er sah sie auf Antwort wartend an.
Wie gewöhnlich erwischte er sie unvorbereitet. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Er hatte das Talent, Menschen zu entwaffnen, indem er ihnen das Gefühl gab, unsichtbar zu sein. Dann erwartete er plötzlich eine Antwort auf etwas, das nie infrage gestanden hatte. Maggie blieb stumm, erwiderte seinen Blick nur ruhig und schwor sich, nicht klein beizugeben. Es ärgerte sie, dass er sie mit wenigen Worten und diesem durchdringenden Blick zu einem unsicheren, sprachlosen Teenager degradierte. Das war zweifellos nicht ihre Vorstellung von Therapie. Cunningham war gehörig auf dem Holzweg. Sie zu einem Psychologen zu schicken war Zeitverschwendung. Sie zu Kernan zu schicken half ihr nicht, sondern gefährdete zusätzlich ihre psychische Stabilität.
„Margaret O’Dell, der stille kleine Vogel in der Ecke, die gute Studentin, die sich so sehr für Kriminelle interessierte, aber nicht der Meinung war, sie gehöre in meine Vorlesung, ist nun Spezialagentin Margaret O’Dell, die eine Waffe trägt und ein glänzendes Abzeichen und wieder mal der Meinung ist, sie gehöre nicht in meine Praxis.“
Er sah sie an, erwartete eine Reaktion und stellte immer noch keine Frage. Die Ellbogen auf die wackeligen Stapel Unterlagen gestemmt, verschränkte er die Finger miteinander.
„Stimmt doch, oder? Sie finden, Sie sollten nicht hier sein.“
„Ja, das stimmt“, bestätigte sie mit kräftiger, trotziger Stimme, obwohl der Mann sie höllisch einschüchterte.
„Ihre Vorgesetzten irren sich also. Trotz des jahrelangen Trainings, trotz der Erfahrung liegen sie schlichtweg falsch. Ist das so?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Wirklich nicht? Haben Sie das etwa nicht gesagt?“
Wortspiele, Gedankenspiele, Konfusion - Kernan war ein Meister darin. Maggie musste sich konzentrieren. Sie durfte nicht zulassen, dass er ihre Worte verdrehte. Sie wollte ihm nicht in die Falle gehen.
„Sie haben mich gefragt, ob ich der Meinung sei, dass ich nicht hier sein sollte“, erklärte sie ruhig. „Ich habe das bejaht. Ich glaube nicht, dass ich hier sein sollte.“
„Aaaaah“, machte er und ließ den Laut in einen Seufzer übergehen, als er sich in seinem Sessel zurücklehnte. Er legte die Hände auf die Brust, und das verknitterte Jackett sprang auf. „Ich bin sehr froh, dass Sie das für mich geklärt haben, Margaret O’Dell.“
Sie erinnerte sich, dass ihre Vier-Augen-Gespräche mit ihm immer etwas von einem Verhör gehabt hatten. Und es wurmte sie, dass dieser tüddelige alte Mann, der aussah, als schliefe er in seinen Klamotten, immer noch so viel Autorität hatte. Nicht gewillt, sich nervös machen zu lassen, sah sie ihn ruhig, abwartend an.
„Verraten Sie mir, Margaret O’Dell, die der Meinung ist, sie gehört nicht in meine Praxis, genießen Sie Ihre Besessenheit von Albert Stucky?“
Ihr Magen zog sich zusammen. Verdammt! Man konnte sich drauf verlassen, dass Kernan zur Jagd blies.
„Natürlich nicht!“ Stimme und Blick blieben gelassen. Sie durfte nicht zu häufig blinzeln. Er würde ihre Wimpernschläge zählen. Trotz dieser Panzergläser in der Brille würde Kernan nicht das kleinste Zucken entgehen.
„Warum sind Sie dann weiterhin so besessen?“
„Weil ich will, dass er gefangen wird.“
„Und Sie sind die Einzige, die ihn fangen kann?“
„Ich kenne ihn besser als jeder andere.“
„Oh ja, natürlich. Weil er sein kleines Hobby mit Ihnen geteilt hat. Richtig? Er hat Ihnen eine kleine Tätowierung hinterlassen, eine Art Brandzeichen, das Sie immer an ihn erinnern soll.“
Sie hatte vergessen, wie grausam Kernan sein konnte. Bleib ruhig, ermahnte sie sich, keinen Zorn zeigen, dass will er ja nur. „Ich habe ihn zwei Jahre lang verfolgt. Deshalb kenne ich ihn besser als jeder andere.“
„Verstehe.“ Er neigte den Kopf, als sei das absolut notwendig. „Dann ist Ihre Besessenheit vorbei, sobald Sie ihn gefangen haben?“
„Ja.“
„Und nachdem er bestraft wurde?“
„Ja.“
„Weil er bestraft werden muss, richtig?“
„Es gibt keine Strafe, die hart genug wäre für einen Albert Stucky.“
„Wirklich nicht? Der Tod wäre nicht Strafe genug?“
Sie zögerte, bemerkte seinen Sarkasmus, erwartete eine Falle und sprach trotzdem weiter. „Gleichgültig, wie viele Opfer ... wie viele Frauen er tötet, er kann nur einmal sterben.“
„Ah ja, verstehe. Und das wäre keine angemessene Bestrafung. Wie sähe eine angemessene Strafe aus?“
Sie schwieg. Diesen Köder fraß sie nicht.
„Sie möchten ihn leiden sehen, nicht wahr, Margaret O’Dell.“
Sie hielt seinem Blick stand. Nicht zurückweichen, sagte sie sich. Er wartete nur auf einen Ausrutscher, belauerte, bedrängte und zwang sie, ihren Zorn preiszugeben.
„Wie würden Sie ihn gern leiden lassen? Durch Schmerz? Durch entsetzlichen, lang andauernden Schmerz?“ Er sah sie an, sie erwiderte den Blick und weigerte sich zu sagen, was er hören wollte.
„Nein, nicht durch Schmerz“, stellte er schließlich fest, als hätte ihr Blick bereits die Antwort geliefert. „Sie bevorzugen Angst. Sie möchten, dass er leidet, indem er Angst hat“, fuhr er fast beiläufig fort, ohne Vorwurf, ohne Konfrontation, eine Einladung, sich ihm anzuvertrauen.
Maggie hatte die Hände im Schoß liegen, saß aufrecht und wich seinem Blick nicht aus, während Wut ihr fast den Magen umdrehte.
„Sie wollen, dass er dieselbe Angst, dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit empfindet wie seine Opfer.“ Er lehnte sich im Sessel vor, und dessen Knarren wirkte in der Stille besonders laut. „Dieselbe Angst, die Sie hatten, als er Sie in die Falle lockte. Als er Sie verletzte, als sein Messer in Ihre Haut schnitt.“ Er machte eine Pause und studierte sie.
Maggie hatte das Gefühl, im Zimmer sei es erstickend heiß geworden mit zu wenig Atemluft. Sie unterließ es jedoch, die feuchten Haare aus der Stirn zu streichen, und widerstand der Versuchung, an der Unterlippe zu nagen. Ruhig und stumm erwiderte sie seinen Blick.
„Ist das nicht so, Margaret O’Dell? Sie möchten Mr. Albert Stucky sich winden sehen, wie Sie sich gewunden haben.“
Sie verabscheute, dass er von Stucky derart respektvoll als Mister sprach. Was fiel ihm ein?
„Zu sehen, wie er sich auf dem elektrischen Stuhl windet, reicht Ihnen nicht aus“, bedrängte er sie weiter.
Maggie begann die Hände im Schoß zu ringen. Ihre Handflächen waren schweißnass. Warum war es so verdammt heiß im Zimmer? Ihre Wangen brannten, der Kopf tat ihr weh.
„Nein, der elektrische Stuhl ist keine angemessene Bestrafung für seine Taten, nicht wahr? Sie haben eine bessere Bestrafung im Sinn. Und wie soll die nach Ihrer Vorstellung angewandt werden, Margaret O’Dell?“
„Indem er mich ansieht, wenn ich diesem gottverdammten Scheißkerl zwischen die Augen schieße!“ platzte sie heraus, und es war ihr gleichgültig, dass sie soeben in Dr. James Kernans psychologische Falle getappt war.