14. Kapitel

 

 

Snow drehte nervös den Kalender in den Händen hin und her. Sie hatte ihn bei den Sachen in der Tasche gefunden und eher zufällig darauf gestoßen, dass diese Maya ein Konto im Internet hatte.

Sie hasste es, dass sie nicht einmal so etwas Einfaches wie die Bedienung eines Computers hinbekam. Das Einzige, was sie sah, waren Zahlen und Buchstaben.

Plötzlich ging die Tür der Bibliothek auf und Erik trat ein. Er war der Einzige im ganzen Rudel, der sie nicht beunruhigte. Seine positive und liebevolle Ausstrahlung ließen sie jedes Mal aufs Neue daran zweifeln, dass er mit Sylvester verwandt war. Er zog sich einen Stuhl an den Computer und lächelte sie liebevoll an.

»Was wolltest du denn nachschauen?« Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und hielt den Kalender hoch.

»Die ... Freundin von Sylvester hat ein Postkonto im Internet. Aber ich hab keine Ahnung, wie ich dorthin kommen soll. Kannst du mir helfen?« Erik sah sie fragend an.

»Natürlich kann ich dir helfen. Was ist es für ein Konto?« Sie nannte ihm die Adresse und er tippte mehrere Buchstaben- und Zahlenfolgen in den Rechner. Dann sah er sie wieder an.

»Ich brauche ein Passwort und einen Benutzernamen.« Sie schlug ihren Kalender auf und suchte die Seite mit den Daten. Nachdem er diese eingegeben hatte, öffnete er mehrere Fenster.

»Dort sind deine E-Mails, Termine und das Mediacenter. Wenn du mich brauchst, weißt du ja, wo ich zu finden bin.« Sie lächelte ihn dankbar an.

»Du hast was gut bei mir.« Als er die Bibliothek verlassen hatte, begann sie, die E-Mails zu lesen. Bis auf eine E-Mail von einer anderen Studentin war nur Werbung im Postfach. In ihrem Terminkalender waren nur wenige Einträge, hauptsächlich die Daten von Prüfungen, wo Maya kurze Notizen zu den Themen hinterlegt hatte.

Als Letztes blieb das Mediacenter. Als sie es öffnete, sah sie mehrere Ordner. Zuerst durchforstete sie den Ordner Dokumente. Dort waren eine Kopie ihrer Geburtsurkunde, ihr Highschoolabschlusszeugnis, ein Mietvertrag und die Kopie eines Sparbuchs. Im Ordner Fotos war eine Unmenge von Daten. Sie begann eines nach dem anderen anzusehen.

Die meisten zeigten Sylvester in lustigen Situationen. Beim Eis essen, im Tierpark, in einem Freizeitpark, vor einem Kino. Und immer hatte er dieses charmante Grinsen auf den Lippen. Es waren auch viele Fotos von ihr oder wo sie beide zusammen abgebildet waren. Und sie sah glücklich aus. Verliebt.

Als sie den letzten Ordner Privat öffnete, wurde sie plötzlich rot. Das waren sehr intime Fotos von Sylvester und ihr im Bett. Er nackt und gefesselt. Sie mit Strapsen und Reizwäsche. Sexspielzeug.

»Was siehst du dir da an?« Erschrocken fuhr sie herum und sah in Joshs grinsendes Gesicht. Sie spürte die Röte in ihrem Gesicht und sein wissendes Lachen machte es nur noch schlimmer.

»Ich hab ein E-Mail-Konto gefunden, dass ich vor meinem Gedächtnisverlust angelegt hatte. Ich hab ein paar Fotos angesehen.« Josh seufzte und zog sich einen Stuhl heran. »Auf den Fotos seht ihr glücklich aus.« Sie sah wieder auf den Bildschirm.

»Ich weiß, aber ich erinnere mich nicht daran. Wie kann ich ihn lieben, wenn ich mich nicht an unsere Beziehung erinnere?« Josh zuckte mit den Schultern.

»Dann schafft euch doch neue Erinnerungen.«

»So einfach ist das nicht.«

»Warum?« Snow sah ihm wieder in die Augen.

»Ich liebe einen anderen Mann.« Sie sah in seinem Gesicht, dass diese Information nicht spurlos an ihm vorbei ging.

»Als Sylvester dachte, du wärst tot, hat er den Verstand verloren. Wenn er dich nun wieder verliert, weiß ich nicht, was aus ihm wird.« Es schnürte ihr das Herz zusammen, als ihr das Bild von Sylvester wieder in den Sinn kam, als er im Kerker wie ein wildes Tier angekettet war. Wie er vor ihr auf die Knie gefallen war. Sie schüttelte den Kopf.

»Gefühle ändern sich. Ich kann nicht nur wegen meines schlechten Gewissens mit ihm zusammen sein. Das wäre Verrat.«

 

Josi rannte lachend durch den Wald. Ihre zwei Brüder waren hinter ihr her, weil sie ihnen wieder einmal bei der Jagd im Weg gestanden und das arme Reh verscheucht hatte. Nur Artjom nahm nicht an der kleinen Verfolgungsjagd teil. Wie immer, dachte Josi.

»Kommt schon Jungs! Das nächste Reh kommt bestimmt!« Sie war völlig außer Atem, konnte aber noch lachen. Plötzlich hallte ein donnernder Befehl von Artjom durch den Wald: »Josi! Komm sofort her! Etwas stimmt nicht!« Sie blieb sofort stehen und um sie herum erhoben sich alle Vögel zum Himmel. Es war gespenstisch. Dann bewegte sich die Erde.

»Ein Erdbeben!« Sie hatte bis jetzt noch keines miterlebt. Nicht ein Mal in ihrem langen Leben. Sie wollte zu ihren Brüdern zurück, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie war vor Angst wie gelähmt.

Als neben ihr dicke Äste auf den Waldboden krachten, sah sie sich nach einem Fluchtweg um. Wo war sie hergekommen? Panik übermannte sie und sie rannte blind in den Wald. Das Beben dauerte immer noch an.

Auf einmal rutschte neben ihren Füßen ein Erdklumpen weg und sie schlitterte den Abhang hinab. Schwer atmend lag sie auf dem Rücken und wartete, bis das letzte Beben vorüber war. Anschließend stand sie auf und kontrollierte sich auf Verletzungen.

Zum Glück nichts außer ein paar Schürfwunden und ein paar blauer Flecken. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass sie inmitten tiefster Dunkelheit stand. Hier war sie noch nie gewesen.

Allein. Ihr Herz klopfte schneller. Sie drehte sich einmal um sich selbst und rannte anschließen völlig planlos in eine Richtung. Dann hörte sie es zum ersten Mal. Ein Wolf! Das Geheul eines Wolfes. Bestimmt hatten sich ihre Brüder verwandelt, um sie schneller zu finden.

Sie lief in die Richtung, wo das Geheul herkam. Abrupt blieb sie stehen. Das waren nicht ihre Brüder. Dort zwischen zwei riesigen Bäumen lag ein gefesselter Wolf. Aber kein normaler Wolf, sondern ein Riese.

Er war von einigen Ästen der Bäume bedeckt, die ihn umgaben. Wahrscheinlich durch das Beben. Er hatte bestimmt Schmerzen. Sie ging näher zu ihm. Seine bernsteinfarbenen Augen suchten ihren Blick und sahen dann schnell in eine andere Richtung.

Als sie seinem Blick folgte, sah sie ein Schwert. Es steckte im Waldboden und schien schon sehr alt zu sein. Sie ging auf das Schwert zu und zog es mit einem kräftigen Ruck aus der Erde. Der Wolf jaulte gequält auf und wand sich in den Fesseln. Wie konnte so ein dünnes rotes Seil diesen Riesen gefangen halten? Sie kam näher und streckte vorsichtig die Hand aus. Der Wolf wich zurück, soweit es das Seil zuließ.

»Keine Sorge! Ich befreie dich.« Der Wolf beruhigte sich und sie versuchte, mit der rostigen Klinge, das Seil zu durchtrennen. Aber es ließ sich nicht kappen. Sie warf das nutzlose Schwert weg. Danach setzte sie sich im Schneidersitz neben ihn.

»Tut mir leid. Aber meine Brüder finden uns bestimmt bald, dann helfen sie mir, dich zu befreien.« Dann wurde der Wolf plötzlich gespenstig ruhig. Und der Boden bebte ein weiteres Mal. Josi krallte sich in das Fell des Wolfes und sah nach oben. Sie bedeckte mit ihrem kleinen Körper sein Gesicht und schütze es vor den Ästen, die nun auf ihren Rücken trommelten.

»Es ist gleich wieder vorbei!« Jeder Ast, der auf sie fiel, schien einen Knochen zu brechen. Aber sie wich keinen Zentimeter von dem Wolf zurück. Er konnte sich nicht beschützen und sie würde sich eher eine Hand abbeißen lassen, als ein Tier schutzlos zurückzulassen.

Urplötzlich spürte sie, wie sie zur Seite gestoßen wurde. Der Wolf erhob sich und das rote Seil fiel von seinem Körper. Das Erdbeben musste die Befestigung des Seils gelöst haben. Würde er sie nun fressen? In Stücke reißen? Die Äste fielen immer noch auf Josi, als der Wolf näher kam. Sie schloss in Erwartung auf das Kommende die Augen. Der schmerzliche Astregen hörte abrupt auf, und als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie den Wolf, der sich schützend über sie gestellt hatte. Sie streckte ihre Hand aus und begann ihm den Bauch zu streicheln.

»Danke.« Nachdem die letzten Äste an dem riesigen Wolf abgeprallt waren, entfernte er sich etwas von ihr. Er war ein wirklich beeindruckender und vor allem furchteinflößender Wolf. Als er wieder auf sie zuging, blieb sie stehen. Er hatte sie vor den Ästen beschützt, warum sollte er sie also nun töten? Er senkte seinen Kopf und sog Luft ein. Er beschnupperte sie!

»He Großer! Ich rieche bestimmt nicht sehr angenehm.« Doch es schien ihn überhaupt nicht zu stören. Ganz im Gegenteil. Er schmiegte seine große Schnauze an ihr Gesicht und ein Teil seiner Nase wurde von ihren Haaren bedeckt.

»Das kitzelt!« Nachdem er noch ein paar Mal ihren Duft eingezogen hatte, entfernte er sich wieder von ihr und drehte sich um.

»Pass gut auf dich auf!« Er drehte sich nicht noch einmal um, sondern verschwand im Wald. Sie sah sich um. Sie musste den Hügel wieder hinauf, den sie vorhin heruntergefallen war. Na toll. Sie nahm Anlauf und rannte so schnell wie möglich den Abhang hoch. Sie sah schon das Ende und trat versehentlich auf eine Baumwurzel, die aus dem Erdreich hervor lugte.

»Scheiße!« Sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, spürte einen stechenden Schmerz im Fuß und fiel schließlich rücklings den Abhang wieder hinunter.

 


Wölfe der ewigen Nacht
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