2. Kapitel
Die folgenden Tage verbrachte Vivien in ständiger Angst um das Mädchen. Sie war immer wieder kurz bei Bewusstsein und aß etwas Suppe. Nach nur wenigen Löffeln fiel sie wieder in einen tiefen Schlaf und lag wie tot im Bett.
Der Arzt kam jeden Tag vorbei, untersuchte sie und versuchte anschließend, Vivien zu beruhigen. Das gebrochene Schlüsselbein verheilte viel besser als erwartet und die Beule am Hinterkopf war schon vor ein paar Tagen wieder verschwunden. Die Kratzer und blauen Flecke waren auch schon lange nicht mehr zu sehen, was nun allerdings ihr blasses Gesicht betonte. Dabei konnte sie gar nicht so viel Blut verloren haben. Sie hatte ja nur diese kleine Platzwunde am Kopf gehabt.
Robert hatte schon mehrfach anklingen lassen, dass er das Mädchen gern in ein Krankenhaus schaffen lassen würde. Aber Vivien war strikt dagegen. Die Kleine erinnerte sie einfach viel zu sehr an ihre kleine Schwester. Auch die Art, wie sie ums Leben gekommen war, wies eine direkte Parallele zu der Fremden auf.
Vivien schrak mitten in der Nacht, durch hysterische Schreie im Nebenzimmer, auf. Als sie neben sich sah, erinnerte sie sich daran, dass Robert heute und morgen unterwegs war, um sich mit Geschäftspartnern zu treffen. Sie schwang ihre Beine über die Bettkante, warf sich einen Morgenmantel über und ging im Laufschritt zur Tür.
Wieder ertönte ein greller Schrei, und als sie die Tür zum Gästezimmer öffnete, konnte sie das Mädchen auf dem Bett erkennen, das mit der Decke rang, als ob es ein böses Monster wäre. So schnell sie ihre Beine trugen, ging sie zum Bett und rüttelte das wimmernde Bündel an der Schulter.
»Wach auf, Kleine. Es ist alles gut.« Sie hatte das blonde Mädchen nur kurz berührt, da riss sie die Augen auf und wich vor Vivien zurück. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn hoch und sah die brünette Frau ängstlich an.
»Wo bin ich?« Erinnerte sie sich nicht mehr? Vielleicht hatte sie doch eine Gehirnerschütterung.
»Du bist bei mir und Robert. Er hat dich im Wald gefunden.« Das Mädchen atmete die angehaltene Luft aus und sah fragend zu Vivien. Ihr Blick klärte sich und anscheinend erinnerte sie sich wieder an sie.
»Wieso helfen sie mir?« Vivien sah mitleidig zu dem Mädchen und setzte sich dann auf die Bettkante. Sie bewegte sich absichtlich langsam, damit sie das junge Ding nicht noch mehr verschreckte.
»Meine jüngere Schwester Victoria wurde von zwei Männern vergewaltigt, als sie vierzehn war. Sie wurde wie ein Stück Dreck in einer Gasse liegen gelassen und verblutete.« Das Mädchen sah auf ihre Hände, die mittlerweile über der Bettdecke zur Ruhe gekommen waren.
»Das tut mir leid.« Jetzt wo sie den Grund für ihre Anteilnahme ausgesprochen hatte, fühlte sie sich besser. Und das Mädchen schien auch beruhigt zu sein, dass Vivien keine Hintergedanken zu haben schien.
»Wovon hast du geträumt?« Mit aufgerissenen Augen sah die Kleine auf und krallte ihre Hände in die Decke.
»Ich bin gefallen. Immer weiter.« Tränen sammelten sich in ihren Augen und Vivien stand auf, um zu ihr zu rutschen. Sie hatte ihre Arme noch nicht ganz geöffnet, da viel die Blondine schon laut schluchzend hinein.
»Hey Kleine. Es ist alles in Ordnung. Bei uns bist du sicher.« Es fühlte sich gut und richtig an, das verängstigte Mädchen in den Arm zu nehmen. Nach dem Tod ihrer Schwester hatte ihr dieser innige Körperkontakt immer gefehlt.
»Möchtest du etwas trinken? Oder hast du Hunger?«
»Nein, danke. Das ist lieb von ihnen, aber ich möchte nichts.«
»Du kannst mich ruhig duzen.« Das Mädchen nickte und löste sich aus der Umarmung.
»Danke für alles, Vivien.« Sie streichelte über das blonde Haar des Mädchens und blieb an einer verfilzten Stelle hängen.
»Darf ich dir die Haare bürsten? Das hat mich früher immer beruhigt. Vielleicht hilft es dir.« Sie zuckte nur mit den Schultern und Vivien holte aus dem angrenzenden Badezimmer eine Bürste.
»Rutsch ein Stück vor. Ich setz mich hinter dich.« Das Mädchen gehorchte und Vivien begann, ihr Haar mit leichten Bürstenstrichen zu entwirren.
»Du hast sehr schöne Haare.« Die Kleine reagierte nicht. Also arbeitete sie schweigend, bis alle Knötchen entfernt waren und das Haar glänzte. Sie hatte sich früher immer mit ihrer Schwester gegenseitig die Haare gebürstet. Und es hier bei diesem Mädchen zu tun, beruhigte sie innerlich auf eine seltsame Art und Weise.
Es war fast so, als wäre ihre kleine Schwester wieder da. Vielleicht ... Wenn der Gedächtnisverlust anhielt ... Könnte sie in diesem Mädchen ihre kleine Schwester sehen? Sicher! Sie müsste nur mit Robert darüber reden.
Die Kleine hatte ihre Beine angewinkelt und ihren Kopf darauf gelegt. Ein gleichmäßiges Atmen verriet Vivien, dass sie eingeschlafen war. Sie muss sehr erschöpft sein, um in dieser Position schlafen zu können. Vivien stand langsam auf und stützte den Körper des Mädchens, als sie dieses auf die Seite legte und wieder zudeckte. Hoffentlich würden die Alpträume bald ein Ende nehmen.