21. Kapitel
Natürlich spazierten sie in die Innenstadt. Das war zwar nicht weit, aber mit einer hochschwangeren Frau, die jede viertel Stunde auf Toilette musste, eine große Herausforderung. Zuerst redeten sie über Gott und die Welt. Cass erzählte von ihren Plänen mit Josh, welche noch einige Kinder mehr einbezogen. Snow erläuterte ihre wenigen Fortschritte, was die Erforschung ihrer Vergangenheit anging. Dann traute sie sich endlich, das ursprüngliche Thema anzuschneiden.
»Ich habe das Gefühl, das ich innerlich kaputt gehe - dass ich zerreiße.« Sie suchte nach den richtigen Worten, damit sie die Situation besser erklären konnte.
»Es fühlt sich so richtig an, wenn er mich berührt und doch auch wieder nicht.« Cassandra strich sanft über Snows Oberarm und zog sie damit etwas näher zu sich.
»Ich hab gesehen, wie er dich ansieht. Und ich habe ihn erlebt, als er dachte, dass du tot bist. Diese Liebe sitzt tief verankert in ihm. Ihr bedeutet einander viel, aber wenn du ihn noch lange zappeln lässt, wird er sich nach einer anderen Partie umsehen. Könntest du das verkraften?« Snow spürte auf einmal einen dicken Kloß im Hals und dann liefen auch schon die ersten Tränen über ihre Wangen.
»Ach Schätzchen. Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie helfen. Aber diese Entscheidung liegt alleine bei dir.« Snow schüttelte den Kopf.
»Mir kann niemand helfen. Egal wie ich mich entscheide, die Lösung wird nie die Richtige sein.« Plötzlich nahm Cass die Blondine an die Hand.
»Komm. Ich weiß ein gutes Mittel gegen Kummer: Einkaufen! In der Stadt gibt es ein sehr hübsches Geschäft mit den tollsten Schuhen überhaupt.« Sie zerrte das arme Mädchen durch die Straßen und schleppte sie von einen Laden in den nächsten.
Nach zwei Stunden Power-Shopping und einer Stunde in einem kleinen Restaurant, rief Josh an und meinte, dass er die beiden Frauen abholen würde. Cass lachte und sah auf die vielen Tüten, die zu ihren Füßen standen.
»Stell dir vor, wir hätten die alle nach Hause schleppen müssen.« Snow sah sie gequält an, und als Cass bezahlt hatte, standen beide auf, um vor dem Restaurant auf Josh zu warten.
»Ich glaube, ich habe schon früher solche Shoppingausflüge gehasst.«
Wie aus heiterem Himmel tauchte hinter Cass plötzlich ein großer, kahlköpfiger Mann auf und legte ihr ein Tuch auf den Mund. Erschrocken riss sie die Augen auf und schlug um sich. Snow wollte ihr gerade zur Hilfe eilen, als auch auf ihren Mund und Nase ein Tuch landete. Ein anderer Mann schlang ihr einen kräftigen Arm um die Taille, wobei er ihre Arme an ihre Seiten presste. Das Tuch war mit irgendetwas faulig Riechendem getränkt. Dann wurde ihr auch schon schummrig und sie verlor das Bewusstsein.
Sie saßen zusammen in einem kleinen Schnellrestaurant und Josi stopfte unentwegt Pommes in sich hinein. Wie konnte sie nur so viel Fettiges essen und gleichzeitig wie eine dunkle Elfe aussehen? Als sie schließlich mit ihren Pommes fertig war, langte sie auf seinen Teller und fischte sich ein paar, bevor er ihr auf die Finger schlug.
»Finger weg von meinem essen. Kauf dir selber noch welche, wenn du noch Hunger hast. Die gören mir!«
»Du bist genau wie meine Brüder. Liegt es in der Natur der Wölfe, dass ihr nicht teilen könnt? Oder Morgenmuffel seid?« Er grinste. Das waren wirklich Eigenarten, die viele Wölfe an sich hatten. Nicht alle, aber viele. Moment.
»Ihr Wölfe? Du bist doch auch einer, oder?« Sie schüttelte den Kopf und warf einen schnellen Blick hinter ihn. Als er sich umdrehte, sah er niemanden außer einer Kellnerin. Wie er sich wieder herumdrehte, fehlten erneut Pommes auf seinem Teller.
»Ich bin ein Rabe.« Oho. Die intelligenten Raben Odins waren genau so hoch angesehen, wie seine Wölfe. Wenn nicht sogar noch höher. Das erklärte auch ihre zierliche Gestalt.
»Und wie kommst du zu den Wölfen?« Ihr Blick verdunkelte sich etwas.
»Adoption. Ich bin eine Vollwaise.« Oh. Wahrscheinlich eine schlechte Themenwahl für ein Gespräch. Doch sie schien es ihm nicht übel zu nehmen.
»Erzähl mir von deiner Familie. Ich hab ja nun niemanden kennengelernt.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Familie kommt aus Europa. Als ich alt genug war, bin ich meinen Brüdern nachgereist und hab mich Joshs Rudel angeschlossen.«
»Hattest du schon viele Frauen?« Wollte sie ihn anbaggern? Dann würde ihr die nun folgende Antwort sicher gefallen.
»Nur eine.« Sie zog verwundert die Augenbrauen hoch und musterte Erik kurz.
»Warum seid ihr nicht mehr zusammen?« Und ja. Sie klang ungläubig.
»Sie hatte völlig andere Interessen als ich. Wir waren jung und haben das einvernehmlich beendet.« Sie nickte langsam.
»Seht ihr euch noch?« Ihre Hand wanderte wieder zu seinem Teller, um sich eine weitere Pommes zu nehmen.
»Nein. Aber wir schreiben uns ab und zu über ein soziales Netzwerk.« Wieder nickte sie.
»Und? Erzähl was über deine Adoptivfamilie.«
»Ach. Da gibt es auch nicht viel zu erzählen. Meine Brüder hast du ja schon kennengelernt. Mein Daddy sieht genau so aus wie sie und ist ein Multimillionär. Du weißt schon. Steinreich.«
»Ist er verheiratet?«
»Das war er. Aber sie hat ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Das war noch vor meiner Adoption.«
»Snow! Wach auf!« Ihre Lider flatterten, als sie aus einem traumlosen Schlaf erwachte. Über ihr lehnte Cass, die besorgt in ihre blauen Augen sah.
»Ist alles in Ordnung?« Snow nickte langsam und rappelte sich auf.
»Wo sind wir?« Cass zuckte mit ihren Schultern und setzte sich in eine Ecke, wo eine Decke lag. Ihre Hand lag beschützend auf ihrem Bauch. Snow sah sie ängstlich an.
»Du wirst aber nicht gerade hier dein Kind bekommen, oder?« Cass kicherte.
»Keine Angst. Du musst nicht Hebamme spielen.« Sie blickte sich noch einmal im Raum um. »Außer wir sind länger als vier Wochen hier.« Snow tastete ihren Körper auf eventuelle Verletzungen ab und spürte auf einmal, dass ihre Entführer wohl das Handy um ihren Hals übersehen hatten.
»Mein Handy ist noch da!« Cass kam wieder auf sie zugekrabbelt und beobachtete, wie Snow das Handy an einem Band aus ihrem Ausschnitt hervor zog.
»Zum Glück. Schnell. Ruf bei Josh an.« Sie tat es, aber es meldete sich nur die Mailbox. Sie sprach schnell eine Nachricht darauf und beendete dann das Gespräch.
»Ich versuche es bei Robert. Der kann seine Männer mitbringen. Josh wird sowieso mehr als drei oder vier Männer brauchen, um uns hier rauszuholen. Egal wo wir gerade sind.« Also wählte sie Roberts Nummer. Eine weibliche Stimme meldete sich und Snows Herzschlag beschleunigte sich.
»Vivien! Gott sei Dank. Ist Robert in der Nähe?« Snow hielt das Handy etwas vom Ohr weg und Cass konnte das Geschrei sicher auch in einiger Entfernung hören.
»Vivien ... Warte ... Ich stecke in Schwierigkeiten! Joshs Frau und ich wurden entführt und er hat die Männer des Rudels in eine Falle gelockt.« Eine kurze Pause entstand.
»Robert hat mir versichert, dass ihr mir helfen würdet, wenn es Probleme gibt.« Auf einmal war nur noch ein Piep-Ton zu hören. Snow seufzte.
»Sie hat aufgelegt.« Cass sah Snow fragend an.
»Sie mag dich nicht, was?« Snow errötete.
»Ich hab versucht ihren Mann zu verführen. Das hat sie wohl nicht so gut verkraftet.«
»Snow! Du wolltest einen verheirateten Mann ins Bett zerren?« Diese zuckte nur mit den Schultern.
»Ich dachte, ich liebe ihn. Aber mittlerweile hab ich eingesehen, dass es nur brüderliche Gefühle waren. Aber das hilft uns jetzt auch nicht weiter.« Das Signal des leeren Akkus klang wie Totenglocken in ihren Ohren.
»Scheiße, nein! Ich hab vergessen, es aufzuladen.« Sie wählte Sylvesters Nummer, doch gerade, als der abnahm, versagte der Akku seinen Dienst.
»Nein, nein, nein!« Unerwartet waren Schritte vor der Tür zu hören.
Derek betrat den kleinen Raum und sah von Cassandra zu Snow. Er blinzelte kurz und starrte Snow dann regelrecht an.
»Wie kann das sein? Du müsstest tot sein.« Snow hob fragend ihre Augenbrauen und wurde blass.
»Ich kenne deine Stimme. Du hast mich geschlagen.« Er kam auf sie zu und zog die Luft durch die Nase ein. Verwirrt riss er die Augen auf.
»Du bist ein Wolf!«
»Natürlich ist sie ein Wolf. Was sollte sie denn sonst sein?«, erwiderte Cass schnippisch.
»Als ich sie in der Fabrik zurückgelassen habe, war sie noch ein Mensch.«
»Dann hatte Sylvester also recht. Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich hab sie bewusstlos geschlagen und dann gefickt.« Er grinste Snow ins Gesicht.
»Nachdem ich sie hatte, hab ich sie meinen Männern überlassen. Leider ist sie die ganze Zeit nicht mehr zu sich gekommen. Ich hatte schon gedacht, mein Schlag hätte sie getötet. Menschen sterben so schnell.« Snow begann zu würgen. Ihr gesamtes Frühstück verteilte sich auf dem Boden. Cass ging zu ihr und strich ihr das Haar aus der klammen Stirn. Ihr Blick war leer.
»Atmen, Süße. Atmen!« Sie hatte einen Schock. Cass sah wieder zu Derek, der das Schauspiel zu genießen schien.
»Du widerlicher Bastard. Sie war ein unschuldiges Mädchen!«
»Niemand ist im Krieg unschuldig. Sie hat sich mit meinen Feinden verbündet und war somit auch meine Feindin.« Wieder würgte Snow. »Und ich mache mit meinen Feinden, was ich will.« Er stieß Cass beiseite, packte Snow an den Haaren und zog deren Kopf hoch, sodass sie ihn ansehen musste.
»Wie hast du es geschafft, ein Wolf zu werden?« Cassandra wollte eben dazwischen gehen, als sie Snows leise Stimme vernahm.
»Odin hat mich verwandelt.« Sowohl Derek als auch Cass sahen sie mit schreckgeweiteten Augen an.
»Von keiner lebendigen Frau geboren ...« Obwohl er es nur geflüstert hatte, wusste Cass sofort, wovon er redete. War Snow die Kriegerin von der Vorhersage? Abaddon? Konnte sie sich deswegen in einen Wolf verwandeln? Oder täuschten sie sich beide? Er ließ die Blondine zögernd los, betrachtete sie aber noch eine Weile. Es war, als müsste er überlegen, was er als Nächstes tat.
»Ich muss die Ankunft deines Mannes vorbereiten.« Er sah Cass durchdringend an. Sie konnte noch immer seinen Hass auf sie spüren, weil sie seiner Ansicht nach daran Schuld war, dass er sein Rudel verloren hatte.
»Dann komm ich wieder zu euch und wir beide reden über Odin.« Snow zuckte sichtlich zusammen und starrte wieder auf den Boden.
»Ich liebe dich. Lebewohl.« Sie hörte noch, wie er das Handy auf den Boden fallen ließ, und nahm das Handy vom Ohr. Mit einem Schluchzen und einem herzzerreißendem Schrei, drehte sie sich zur Bombe um und wartete, bis die Zeitanzeige auf null stand.
Ein heller Blitz ging von der Bombe aus, doch dann war auf einen Schlag alles still. Als sie die Augen wieder öffnete, stand ein blonder, großer Mann vor ihr. Die Bombe hielt mitten in der Explosion inne. Wie, wenn man bei einem DVD-Film auf Pause drückt.
»Maya. Ich bin deinem Ruf gefolgt. Danke, dass du meine Wölfe vor dem Tod gerettet hast. Es wäre für mich in Zukunft sonst sehr kompliziert geworden. Bitte lass mich dir dafür danken, indem ich dich zu einer meiner Walküren mache.« Sie sah ihn fragend an und versuchte ihre Nacktheit zu bedecken.
»Wer bist du?«
»Mein gebräuchlichster Name unter meinen Anhängern ist Odin.« Odin? Der Gott? Sylvesters Gott? Und er wollte sie zu einer seiner Walküren machen?
Sie starrte ihn an. Sie hatte ihn sich ganz anders vorgestellt. Älter. Nicht so gepflegt. Mehr wie einen Wikinger mit Bart. Aber er sah mit seiner Jeans und dem weißen T-Shirt wie ein ganz normaler Mittdreißiger aus.
Plötzlich kam ihr wieder Sylvester in den Sinn. Sie war schon immer fasziniert von seiner Aura und seiner Kraft. Er war gefährlich und sie liebte es, wenn es etwas rauer zuging. Es schien, als wüsste er immer genau, was sie wollte und brauchte. Sie liebte ihn und sie wollte mit ihm zusammen sein.
»Kann ich nicht lieber ein Wolf werden?« Er runzelte die Stirn und dann breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus. Er schien sie zu verstehen. Sylvester hatte ihr ein paar alte Geschichten und Sagen von Odin und seiner schönen Frau erzählt.
Er erwählte starke und mutige Krieger für seine Armee und Hekate erschuf magische Wesen. Also Hexen, Nymphen und so. Wobei sie sich in den letzten Jahrhunderten sehr zurückgehalten hatten. Warum mischten sie sich ausgerechnet jetzt ein?
»Wegen des Mannes?« Sie nickte. »Meinetwegen. Obwohl du eine hübsche und starke Walküre gewesen wärst.« Ein kleines Licht erschien vor ihm, fast wie ein Glühwürmchen, und bewegte sich dann langsam auf Maya zu. Sie streckte den Zeigefinger danach aus und sah wieder zu dem Mann.
»Wie komme ich hier raus?« Er lächelte immer noch.
»Lass das meine Sorge sein.« Dann sah sie wieder zu dem Glühwürmchen und berührte es. Eine wunderbare Hitze durchströmte sie und jede einzelne Zelle begann zu kribbeln. Als das Licht wieder weg war, fühlte sie sich zwar stark, aber immer noch verletzt und erniedrigt. Sie rieb sich die Arme und legte ihre Hände vors Gesicht.
»Ich kann dir auch die Erinnerung nehmen, wenn du möchtest.« Sie schluchzte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass durch die Wandlung zum Wolf diese Erinnerung nicht mehr so schwer auf ihr lasten würde. Aber durch die Aussicht auf ein Leben mit Sylvester kam die ganze Scham wieder hoch.
Wie konnte sie ihm je wieder in die Augen sehen? Sie würde sich nie wieder bei ihm entspannen können, wie es bisher der Fall gewesen war. Wie könnte er sich nicht vor ihr ekeln? Diese Männer hatten sie vergewaltigt, als sie bewusstlos war. Mehrere fremde Männer.
Welcher Mann wollte schon benutzte Ware? Kaputte Ware? Aber wenn sie das alles vergessen könnte, würde sie ihm einfach als Wolf gegenübertreten und ein neues Leben mit ihm anfangen können. Sie bräuchten sich nicht mehr verstecken. Sie wären gleich.
»Ja, bitte. Ich will einfach alles vergessen.« Er nickte.