11. Kapitel
Robert war weg! Er war wirklich ohne sie gegangen. Und das Schlimmste? Er hatte sich nicht von ihr verabschiedet. Oder hatte Sylvester etwas damit zu tun? Hatte er ihn raus geworfen? Sie sah sich in dem Gästezimmer um, wo sie ihn eigentlich hatte überreden wollen, dass er sie doch wieder mitnimmt. Panik erfasste sie. Ohne großartig darüber nachzudenken, lief sie aus dem Herrenhaus und hielt sich ein Taxi an.
»Zum Flughafen. Ich hab es eilig.« Der Fahrer nickte und raste förmlich davon.
Wie würde Robert reagieren? Würde er sich freuen oder würde er verärgert sein? Nein, er würde sie nicht ausschimpfen. Er mochte sie, das wusste sie. Es musste einfach so sein. Er wollte Vivien nur nicht verletzen. Und sein Rudel bedeutete ihm auch zu viel.
Eine neue Idee formte sich in ihrem Kopf. Sie könnte sich doch in der Nähe des Rudels eine Wohnung mieten und sich am Wochenende oder sogar unter der Woche mit ihm treffen. Für ihn würde sie alles tun. Ihre Gedanken schweiften ab und sie konnte es kaum noch erwarten, Robert ihre Idee zu offenbaren.
Noch während sie zum Flughafen fuhr, schossen ihr plötzlich andere, unwirkliche Gedanken durch den Kopf. Und immer wieder kam ihr ein Name in den Sinn. Sylvester.
In der Kerkerzelle hatte sie furchtbare Angst vor ihm gehabt und trotzdem hatte seine Gegenwart tröstend gewirkt. Vertraut. Aber sie liebte ihn nicht und genau deswegen ging sie Robert hinterher. Das Taxi hielt vor dem Flughafen, und nachdem sie den Fahrer sehr großzügig bezahlt hatte, rannte sie in das große Gebäude.
Völlig außer Atem kam sie in der Halle des Flughafens zum Stehen und sah an die große Anzeigentafel. Sein Flug war noch nicht weg. Gut. Sie lief zum Wartebereich und sah sich um. Er ging eben Richtung Check-in und studierte die Angaben auf dem Flugticket.
»Robert! Warte!« Er drehte sich verwundert um und sein Blick verriet ihr augenblicklich, dass er mehr als nur ein bisschen verärgert war. Er ließ seine Tasche fallen und kam ihr ein Stück entgegen.
»Snow! Was zum Teufel machst du hier? Weiß Joshua, dass du hierher gekommen bist? Hat dich jemand begleitet?« Sie schüttelte den Kopf und griff nach seiner Hand.
»Robert! Mir ist eingefallen, wie wir doch zusammen sein können. Ich miete mir eine Wohnung in deiner Nähe und ...« Er löste seine Hand aus ihrer Umklammerung und sah sie eindringlich an.
»Mach es dir doch nicht so schwer. Geh wieder zu Joshuas Rudel und such dir einen netten Mann, wenn du diesen Sylvester nicht magst.«
»Ich will nicht irgendeinen netten Mann. Ich will dich!« Er schüttelte den Kopf.
»Ich liebe Vivien und ich werde sie nicht verletzen.« Dafür brach er ihr das Herz. Sah er nicht, was sie für ihn empfand?
»Aber ich liebe dich!« Kaum waren diese Worte aus ihrem Mund gewichen, sah sie einen lächelnden Sylvester vor sich. Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus und sie bekam plötzlich ein völlig neues Hochgefühl. Robert legte in diesem Moment seine Hände auf ihre Schultern.
»Snow. Wie Vivien schon sagte, empfindest du Dankbarkeit, keine Liebe.« Sein Flug wurde aufgerufen. Und ihre Gedanken verwirrten sie immer mehr. Es war doch Liebe, was sie für Robert empfand, oder? Sie war sich so sicher gewesen. Zumindest, bevor sie Sylvester getroffen hatte. Nun ja, getroffen war zu viel gesagt. Er hatte sie mit sich gerissen.
»Ich muss los.« Sie umarmte ihn und hatte nicht vor, ihn wieder loszulassen. Was auch immer Sylvester für sie war, Robert stand hier und jetzt vor ihr und sie würde alles Mögliche versuchen, damit er bei ihr blieb.
»Sei vernünftig, bitte.« Halb mit Gewalt musste er sie von sich lösen und beugte sich zu ihr hinab. Ihr Herz setzte einen Moment aus, als sie den erträumten Kuss erwartete. Aber er kam nicht. Und so wie Robert aussah, würde er nie kommen.
»Ich habe unsere Nummer in dein Handy gespeichert. Wenn Du Hilfe brauchen solltest, sind wir zur Stelle.« Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen und sie schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Bitte geh nicht. Ich will bei dir bleiben.« Er zog sie in eine Umarmung und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Das war der falsche Platz für einen Kuss! Hätte sie ihren Kopf gehoben, hätte er sie auf den Mund geküsst. Aber sie war einfach zu langsam gewesen. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. So eine Gelegenheit würde sich ihr nie wieder bieten.
»Sei ein braves Mädchen und geh zurück zu Joshua. Ich muss los, sonst verpasse ich meinen Flug.« Und damit ging er aus ihrem Leben.
Cassandra platzte in die Besprechung und ging sofort zu Josh. Sylvester hatte sie bis jetzt nur kurz gesehen. Einmal, bevor er sich in ein wildes Tier verwandelt hatte und dann noch einmal, als Maya ihn im Kerker gefunden hatte. Er hatte schon mitbekommen, dass es Josh richtig ernst mit ihr war. Mit heiraten und so. Leider hatte er das große Fest verpasst.
Außerdem erwartete sie sein Kind. Das konnte man allerdings noch nicht sehen. Erstens trug sie nur weite Sachen, die den Bauch kaschierten und zweitens hatte sie so gut wie keinen Bauch. Sie beugte sich zu ihm herunter und flüsterte in sein Ohr: »Ich kann Snow nirgendwo finden. Sie ist verschwunden.«
Sylvester hätte schon taub sein müssen, um ihre Worte nicht zu hören. Sie war garantiert Robert hinterher gefahren. Der hatte sich heute Morgen bei allen außer Maya verabschiedet und war dann von Evan zum Flughafen gefahren worden. Allerdings hätte Sylvester nicht erwartet, dass sich Maya einfach so allein auf den Weg machen würde. Er musste sie zurückholen. Und sei es mit Gewalt. Sie gehörte ihm. Mit einer flüssigen Bewegung stand er auf und ging mit langen Schritten zur Tür.
»Warte!« Er ignorierte seinen Bruder, obwohl sich alles in seinem Körper dem Befehl des Alphas beugen wollte. Es lag einfach in der Natur der Wölfe, dem Anführer bedingungslos zu folgen, egal was er befahl. Aber nicht in diesem Fall. Nicht bei Maya.
»Sylvester! Du wirst ihr nicht nachgehen. Das machen wir.« Er lief einfach weiter und grummelte leise: »Du kannst mich mal kreuzweise.« Josh würde garantiert nicht hier herumsitzen, wenn Cassandra dort draußen herumlief und diesem Derek in die Hände fallen könnte. Oder einem anderen Mann. Die Eifersucht brannte sich wie Säure in seinen Verstand. Maya hatte Angst vor ihm, Todesangst. Doch diesen Robert schmachtete sie an und erträumte sich eine Zukunft mit ihm. So wie er sich früher eine Zukunft mit ihr erträumt hatte.
Josh packte ihn grob am Arm und zerrte ihn regelrecht von der Tür weg.
»Wenn du dich meinen Befehlen widersetzt, wanderst du wieder in den Keller und wir lassen Snow machen, was sie will. Wenn du kooperierst, bringen wir sie wieder her. Du hast die Wahl.« Er hasste es manchmal wirklich, wenn sein Bruder das tat. Anderen einfach eine solche Aussage an den Kopf zu knallen, bei der Josh mehr oder weniger als Sieger hervor ging. Aber das könnte auch der Grund sein, warum er Rudelführer war und kein anderer.
Auf einmal sah er die nervöse Cassandra neben seinem Bruder stehen. Sein Blick wanderte zu ihrem leicht gerundetem Bauch. Es wäre bestimmt nicht gut, wenn der kleine Wolf ohne Vater aufwachsen würde. Und Cass blieb bestimmt nicht gern als alleinerziehende Mutter zurück. Also verzichtete er auf einen handgreiflichen Streit und senkte den Kopf.
»Bring sie mir zurück.« Damit verschwand er aus dem Zimmer und noch im Gehen konnte er das erleichterte Seufzen der anderen hören. Machte er ihnen wirklich solche Angst? Das war früher nie der Fall gewesen. Aber da hatte er auch nicht wegen einer Frau völlig den Kopf verloren. Und wenn doch mal eine seiner Geliebten gestorben war, dann hatte er sich zurückgezogen und still getrauert. Aber das war bei Maya nicht möglich. Er hatte sie heiß und innig geliebt. Diese Gefühle konnte man nicht einfach begraben, als wären sie nie da gewesen. Ein solcher Mann war er nun einmal nicht.
Zuerst lief er ziellos durchs Herrenhaus. Sollte er unten bleiben, um gleich zu sehen, wann Josh mit Maya zurückkam? Aber dann würde er ihr vielleicht wieder Angst einjagen. Sie war ihm gegenüber sowieso schon sehr reserviert. Und ihren Tritt in seine Juwelen hatte er auch noch gut in Erinnerung. Nein. Er beschloss, in seinem Zimmer zu warten. Josh würde sofort zu ihm kommen und bescheid geben, wenn er mit der kleinen Blondine zurückkam.
Sylvester betrat sein Zimmer und sofort stieg ihm Mayas Duft in die Nase. Vor Erleichterung wären ihm beinahe die Beine weggeknickt. Sie stand am Fenster, als wäre nichts gewesen, und sah abwesend hinaus.
»Maya! Cass hat dich überall gesucht.« Sie drehte sich nicht um, sondern sprach in Richtung Fenster. Sie klang traurig.
»Ich bin Robert hinterher gelaufen. Er hat mich zurückgeschickt.« Er ging einen Schritt auf sie zu. Sie wandte sich immer noch nicht vom Fenster ab, aber sie konnte ihn in ihrem Blickwinkel wahrnehmen.
»Und darüber bin ich sehr froh.« Er sah, wie sich ihr Körper verspannte, und blieb stehen. Dann drehte sie sich doch zu ihm um und sah ihn mit tränennassen Augen an. Er hätte Robert so gern getötet. Einfach nur aus dem Grund, dass er Maya zum Weinen gebracht hatte. Und dass sie nicht seinetwegen weinte. Er wollte, dass sie ihn anlächelte und sich, wie früher über seine Scherze kaputtlachte. Er wollte sie wieder im Arm halten können. Sie küssen. Ihren Körper spüren. Doch immer wieder stand dieser Name zwischen ihnen. Robert.
»Ich kenne dich nicht, aber als ich vor Robert stand und ihn bat, mich wieder mitzunehmen, kam mir dein Bild in den Sinn. Das macht mir Angst.« Die letzten Worte hatte sie nur geflüstert. Er ging nicht weiter auf sie zu, sondern sah sie aus einigen Metern Entfernung an.
Ihre Wangen waren gerötet und sie rang ihre Hände vor dem Körper. Die Worte gingen ihr nicht leicht von den Lippen. Und was sollte er nun darauf antworten? Hab keine Angst vor mir? Darauf würde sie gerade noch warten. Aber zu einer Antwort kam er überhaupt nicht.
»Wenn ich hierbleibe, dann will ich dich kennenlernen ohne, dass du etwas überstürzt. Kein grapschen mehr und keine Küsse. Vor allem keine nächtlichen Besuche.« Er nickte verwundert. Verhandelte sie etwa mit ihm? Gab sie ihm eine Chance?
»Außer du willst es.« Nun nickte sie.
»Ich kann dir aber nichts versprechen. Außerdem heiße ich Snow. Merk dir das!« Wenn das nur eine Bedingung für ihr Entgegenkommen war, dann nannte er sie, wie sie es wollte. Er grinste. Früher hatte er sie auch schon das eine oder andere Mal Herrin oder Meisterin genannt, allerdings im Bett und nicht, um sie zum Bleiben zu bewegen, sondern eher um dafür zu sorgen, dass ihre süße Qual noch etwas länger anhielt.