7. Kapitel
Wenigstens ist es hier bedeutend wärmer als in Murdochville. Als Snow zusammen mit Robert das Herrenhaus des fremden Rudels betrat, hörte sie aus einem der Zimmer laute Musik und zwei Frauen, die wahrscheinlich Karaoke sangen. Die Eine sang ganz passabel, die andere verursachte ihr Ohrenschmerzen. Sie traf überhaupt keinen Ton, schien aber trotzdem großen Spaß zu haben.
Der Rudelführer der Alexandria-Wölfe, Joshua, lächelte Snow an und sagte: »Du kannst dich gerne etwas umsehen. Im Keller ist ein Fitnessraum und hier ist ein Spielzimmer. Meine Frau und eine ihrer Freundinnen benutzen es gerade. Sie haben bestimmt nichts dagegen, wenn du dich zu ihnen gesellst.« Als er mit Robert in einen anderen Raum verschwinden wollte, hielt er noch einmal kurz inne und ergänzte seine Aussage von erst: »Bleib am besten hier oben. Den Keller zeigen wir dir später. Geh nicht allein runter, verstanden?« Was sollte denn das? Hatten sie dort eine Leiche versteckt? Trotzdem nickte sie. Und schon im nächsten Moment waren die Männer verschwunden.
Das Herrenhaus war sehr schön und groß. Wie viele Wölfe hier wohl wohnten? Hoffentlich verstand sie sich mit allen. Sie seufzte. Robert hatte im Flugzeug noch einmal versucht, die Situation zwischen den beiden zu klären. Er hatte mehrmals erwähnt, dass es ihre eigene Schuld war, dass sie aus dem Rudel geflogen war. Hätte sie Vivien gegenüber beteuert, Robert in Ruhe zu lassen, könnte sie weiterhin dort wohnen. Aber so wie die Dinge standen, würde Snow wohl nicht wieder zurückkommen können. Es sei denn, verheiratet und am besten noch mit Nachwuchs. Aber das konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Wenn, dann wollte sie mir Robert zusammen sein und Nachwuchs groß ziehen.
Vivien hatte ein einziges Mal erwähnt, dass sie schon lange versuchten, ein Kind zu bekommen. Aber bisher hatte es noch nicht funktioniert. Wölfe konnten wohl nur einmal im Jahr, zu einer ganz bestimmten Zeit, schwanger werden. Deswegen hielt sich auch die Population in Grenzen. Bei Unsterblichen, die sich wie die Karnickel vermehrten, würde es bald Probleme geben.
Als sie Richtung Keller ging – die Neugier war einfach zu stark – wurde die Musik abgestellt und zwei kichernde Frauen kamen aus dem Spielzimmer. Snow spähte um die Ecke und beobachtete die beiden. Die eine war rothaarig und sehr schlank. Die andere war blond und etwas pummelig. Zwei sehr gegensätzliche Frauen, die sich aber prima verstanden. So wie es aussah, waren beide nett. Mal sehen, was die Zeit bringen würde.
Sie drehte sich um und ging in den Keller.
Derek stand am Fenster seines Hauses und blickte zum dunklen Himmel auf. Bald war die Zeit seiner Rache gekommen. Er hatte die letzten Monate keinen Hinweis auf das Kind gefunden, was ihn glauben ließ, dass es erst noch geboren werden oder hierher kommen würde. Cassandra kam ihm in den Sinn. Sie war schwanger. Vielleicht trug sie das Kind im Leib, dass Odin brauchte. Anders waren auch die Zufälle, die sie immer wieder vor seinen Anschlägen gerettet hatten, nicht zu erklären.
Doch das Rätsel der Geburt hatte er immer noch nicht gelöst. Keine lebendige Frau wird das Kind gebären. Hieß das, dass sie während der Geburt starb? Oder, dass sie schon vorher getötet wurde?
Wut bemächtigte sich seines Verstandes, als er wieder an Carla dachte. Sie war nicht Tod, wie er die ganzen Jahre angenommen hatte. Sie hatte sich irgendwo versteckt und abgewartet, bis ihre Tochter ihm die Rudelführung streitig gemacht hatte. Jetzt waren Richard und Carla die neuen Rudelführer der Silver-Spring-Wölfe und er musste versuchen, andere Wölfe für ein eigenes Rudel zu finden. Aber niemand wollte sich mit ihm zusammenschließen. Seine jetzigen Arbeiter musste er bezahlen oder erpressen. Das war so entwürdigend. Aber er kam seinem Ziel näher.
Sein Handy riss ihn aus seiner Gedankenwelt, und als er die Nummer auf dem Display sah, nahm er das Gespräch erwartungsvoll an.
»Was gibt es Neues?« Er klang barsch und ungeduldig.
»Wölfe eines fremden Rudels sind im Herrenhaus. Es sieht so aus, als würden sie eine junge Frau hier lassen.« Derek spitzte die Ohren. War das etwa Abbadon? War es so einfach?
»Wer ist sie?«
»Keine Ahnung. Ich hab sie nur aus der Ferne gesehen.« Er wusste es sicher, sagte nur nichts um ihn hinzuhalten. Das machten alle so. Wenn er ihnen gegenüberstand, hatte keiner von ihnen mehr die große Klappe. Aber am Telefon konnte er nicht viel ausrichten.
»Finde mehr über sie heraus.« Damit legte er auf.
»Wir waren gerade auf der Jagd, als wir Blut witterten. Dann haben wir sie gefunden. Splitternackt im Schnee. Jemand hatte sie wohl gegen ihren Willen ...« Er verstummte und sah betreten zu Josh. »Ich konnte sie dort nicht einfach liegen lassen. Außerdem hat sie nach Wolf gerochen. Das wäre Mord gewesen. Als sie wieder aufgewacht ist, wusste sie nichts mehr.«
»Und warum behältst du sie nicht in deinem Rudel?« Mit einem leicht enttäuschten Blick erklärte Robert: »Die Kleine ist wirklich heiß und hat schon jedem meiner Wölfe den Kopf verdreht, aber meine Frau ist nicht mehr so begeistert von ihr. Snow verwechselt wohl Dankbarkeit mir gegenüber mit Liebe. Als Vivien sie dabei erwischt hat, wie sie mich verführen wollte, hat sie darauf bestanden, dass Snow das Rudel verlässt.« Josh kicherte.
»Sie wollte dich verführen?« Robert sah ihn etwas beleidigt an.
»Ich war betrunken und konnte mich nicht dagegen wehren.«
»Konntest oder wolltest?« Verträumt sah er zu Josh.
»Hast du sie dir mal angeschaut? Sie ist eine Göttin auf zwei Beinen. Als sie nackt vor mir stand, brachte ich kein Wort mehr heraus.« In diesen Moment platze Cass, ohne anzuklopfen ins Zimmer.
»Josh! Wo bleibst du denn? Ich warte schon mindestens eine halbe Stunde auf dich!« Sie trug eine sommerliche, gelbe Tunika, die ihren kleinen runden Bauch gut kaschierte. Darunter hatte sie wegen der anfänglichen Kälte ein dünnes Shirt gezogen. Es war zwar Ende September, aber für die Jahreszeit schon ungewöhnlich kalt. Als Robert aufstand und sie verwundert ansah, zog sich eine leichte Röte über ihr Gesicht.
»Oh! Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.« Robert nahm ihre Hand und küsste diese federleicht. Josh stellte ihn vor, und als Robert ihn lächelnd ansah, sagte Josh lachend: »Das ist meine ganz persönliche Göttin.« Cass schlug ihm verlegen auf den Arm und ihre Augen funkelten spitzbübisch.
»Wenn du hier fertig bist, musst du dein Versprechen einlösen. Vergiss es nicht! Ich warte oben im Zimmer auf dich.« Damit verabschiedete sie sich wieder und verließ das Zimmer. Robert sah ihr nach, bis die Tür sich wieder schloss, und drehte sich dann zu Josh.
»Meinen Glückwunsch zu so einer Frau. Ich wusste gar nicht, dass du plötzlich auf so magere Dinger stehst.« Josh lachte aus vollem Hals.
»Ich hoffe auch, dass sie in der Schwangerschaft ein paar Kurven dazu gewinnt.« Roberts Augen wurden groß.
»Dann muss ich dir schon wieder gratulieren. Du wirst also Vater?« Josh nickte zufrieden.
»In drei Monaten ist es so weit.«
»Aber man sieht ihr doch noch gar nichts an.«
»Leider. Sie ist ein schlankes Persönchen und ich dachte schon, sie würde unter der Last des Babybauches umkippen, aber selbst jetzt im sechsten Monat hat sie nur eine kleine Wölbung, statt einer Kugel.«
Snow sah sich überall um. Ein unheimlicher Schauer lief ihr über den Rücken, je näher sie dem Ende der Treppe kam. Sie erinnerte sich wieder an die Worte von dem Rudelführer, dass sie sich vom Keller fernhalten sollte. Was hatte dieses Rudel zu verbergen?
Wie sie die am Ende der Treppe angekommen war, stand sie plötzlich in einem Gang mit mehreren schweren Stahltüren. Zuerst ging sie nach links. Da waren Waschräume mit Wäscheleinen, eine kleine Küche. Gegenüber war ein Raum mit einem Whirlpool, ein Fitnessraum und eine Sauna. Warum sollte sie sich das nicht ansehen? Und warum war ihr so unwohl?
Als sie wieder zurück zur Treppe gehen wollte, kam sie an einem besonders stark gesicherten Raum vorbei. Sie streckte die Hand nach der Klinke aus, bekam aber eine Art kleinen Stromstoß, so als wäre sie elektrisch aufgeladen gewesen. Komisch. Es war nicht dieses übliche Gefühl, sondern als würde es sie warnen wollen.
Trotzdem drückte sie die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Ein Kerker. Nachdem Sie das Licht in dem komplett fensterlosen Raum angeschaltet hatte, blieb ihr vor Schreck die Luft weg. Da war jemand angekettet. Sie konnte das Gesicht des Gefangenen nicht sehen, aber es schien ihr sehr barbarisch, einen Mann so an die Kette zu legen. Er war doch bestimmt nicht so gefährlich. Sie sah sich um. Niemand war in der Nähe.
Da die Tür nicht abgeschlossen war, mussten sie sich wohl sehr sicher sein, dass die Ketten halten würden. Sie wollte nur einen kleinen Blick riskieren und dann gleich wieder gehen. Was das wohl für ein Mann war, der es verdient, hatte in einem Keller angekettet zu werden. Er war halb nackt und schien zu schlafen. Zumindest lag er auf dem Boden und blickte nicht auf, als sie eingetreten war und das Licht angeschaltet hatte.
Wie lang waren wohl die Ketten? Wie weit konnte sie sich herantrauen? Als sie vor ihm stand und er sich immer noch nicht gerührt hatte, kniete sie sich zu ihm und strich ihm die langen Haare aus dem Gesicht.
Auf einmal öffneten sich seine Augen und er packte ihre Arme mit seinen großen, dreckigen Händen. Erschrocken schrie sie auf und versuchte sich aus seinem harten Griff zu befreien. Ein Knurren entwich seiner Kehle und er sah mit wildem Blick zur Tür, die noch immer offen stand. Dann sah er wieder auf seine Fesseln und ein furchtbarer Schrei entwich seinem Mund.
Nun schrie sie ebenfalls auf und wand sich noch stärker. Er stand auf und legte seine große Hand an ihren Hals. Dann drückte er sie gegen die Wand und seine Hand schloss sich immer kräftiger um ihre Kehle.
»Nein! Bitte!«