15. Kapitel
Wärme umfing sie und ein sanftes Schaukeln begann, ihren Körper wieder ins Traumreich zu entführen. Aber sie wollte nicht schlafen. Sie musste die Augen öffnen und einen Weg nach Hause finden. Oder zumindest ihre Brüder auf sie aufmerksam machen. Als sie ihre Augen schließlich zwang, sich zu öffnen, sah sie direkt in Artjoms Gesicht. Er trug sie.
»Du dumme Gans! Was hast du dir nur dabei gedacht? Vater ist außer sich vor Sorge.« Sie hätte jeden anderen hier erwartet, aber nicht ihn. Er war immer derjenige, der sich von ihr fernhielt und nie mit ihr sprach, wenn es nicht wirklich nötig war. Sie hatte immer gedacht, dass er sie hassen würde, weil sie sich in seine Familie gedrängt hatte.
»Tut mir leid.« Er seufzte gequält auf und drückte sie etwas fester an seine Brust. »Warum magst du mich eigentlich nicht?« Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen und sah sie entgeistert an.
»Natürlich mag ich dich. Wie kommst du auf einen solchen Blödsinn?« Sie wurde rot. »Du redest so gut wie nie mit mir und gehst mir so gut wie immer aus dem Weg. Ich dachte, du nimmst es mit übel, dass ich in eure Familie gekommen bin.«
»Josephine! Überlass das Denken den Pferden. Die haben einen größeren Kopf.« Ihre Augen wurden groß.
»Du magst mich also?« Er nickte. Dann sag er wieder nach vorne und setzte sich in Bewegung.
»Du hast mich zu sehr an Jekaterina erinnert. Ich habe sie wirklich geliebt und ihren Tod nie richtig verkraftet. Du siehst ihr so ähnlich, dass ich Angst hatte, sie zu vergessen und nur noch dich zu sehen.« Das hätte sie nie erwartet. Sie hätte ihn schon viel früher fragen sollen, dann wären sie nicht die vielen Jahrzehnte und Jahrhunderte umeinander herumgeschlichen. Der große Wolf kam ihr wieder in den Sinn.
»Sag mal, kennst du einen riesigen Wolf, der mit roten Seilen gefesselt ist?« Wieder blieb ihr Bruder kurz stehen. Allerdings sah er sie nicht an.
»Der Fenriswolf. Eine Gestalt aus der Edda. Warum fragst du?« Sie zuckte mit den Schultern. Fenriswolf. Irgendwo in ihrem Kopf war eine Erinnerung an diesen Namen. Mist! Sie war schon so sehr an Google und Co. gewöhnt, dass sie sich kaum noch etwas merkte, das nicht wirklich wichtig war. Es war einfach zu bequem das Internet zu befragen. Als sie schließlich ihre Überlegungen auf später verlegte, hob sie den Kopf und sah sich um. Sie waren schon fast bei der Burg.
»Wie hast du mich eigentlich gefunden?« Eine leichte Röte überzog seine Wangen.
»In deinen Wanderschuhen ist ein Peilsender versteckt.« Sie versteifte sich und begann schließlich gegen seine Arme zu kämpfen.
»Das ist doch nicht dein Ernst! Lass mich sofort runter!« Doch seine Arme waren wie Schraubzwingen.
»Das war die Idee von Vater. Er macht sich einfach zu große Sorgen um dich und deine Sicherheit.« Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke.
»Wo sind noch überall Peilsender versteckt?« Sie waren schon fast am Tor, als Artjom schließlich klein beigab.
»Er hat fast alles von dir verwanzt. Deine Schuhe, dein Handy, deine Tasche. Ich glaube auch deine Uhr. Aber das kann er dir nur selber sagen.« Sie verschränkte ihre Arme wie ein schmollendes Kind vor ihrer Brust.
»Das glaub ich einfach nicht! Ihr seid unmöglich!«
»Josephine!« Alexej kam sichtlich erleichtert auf die beiden zu.
»Ich hatte solche Angst um dich.« Als er seinen Sohn fragend ansah, erwiderte dieser: »Sie hat sich den Knöchel verstaucht. Sonst ist alles in Ordnung.« Sie wurde vor Artjom zu Alexej übergeben und schließlich in die Burg getragen. Überall lagen Bücher und Möbel auf dem Boden. Auch Geschirr und Glas war kaputt gegangen. Mal sehen, wie ihr Zimmer aussah. Aber vorher hatte sie noch ein Hühnchen mit ihrem Daddy zu rupfen.
»Ich ziehe aus!« Mitten auf der Treppe blieb er stehen und sah sie entgeistert an.
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon ganz richtig verstanden. Ihr behandelt mich wie ein beschränktes, krankes Kind!« Er zog die Augenbraue hoch und deutete mit der Stirn auf ihren Knöchel.
»Aber du hast dir den Knöchel verstaucht.« Sie gab einen missbilligenden Laut von sich und sah ihm in die Augen.
»Ich meine die Peilsender in meinen Sachen.« Er war sichtlich überrumpelt und öffnete ein paar Mal den Mund um etwas zu erwidern.
»Entweder du vertraust mir, oder ich ziehe noch in der nächsten Stunde hier aus!« Sie konnte spüren, wie er sich verkrampfte und sie enger an sich drückte. Es war ähnlich wie bei Artjom, als er sie zur Burg gebracht hatte.
»Du bist meine Tochter. Ich liebe dich und will dich vor Schmerz und Gefahr beschützen.« Jetzt versuchte er es wieder auf diese Tour.
»Daddy! Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen. Dafür hast du gesorgt. Wenn ich ein Problem habe, weiß ich, dass ich immer zu dir kommen kann. Aber dass du in meinen Sachen Peilsender versteckst, nehm ich dir schwer übel!« Er zuckte zusammen und trug sie ohne ein weiteres Wort die Treppen zu ihrem Zimmer hoch. Als er sie auf dem Bett abgesetzt hatte und sich von ihr abwandte, sagte sie:
»Daddy! Das wird jetzt nicht totgeschwiegen! Ich will, dass diese Peilsender aus meinen Sachen verschwinden, sonst packe ich meine Taschen!« Wieder zuckte er sichtlich zusammen.
»Ich bin gleich wieder da.« Damit verschwand er aus ihrem Zimmer. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Ihr Vater war wirklich ein Kontrollfreak. Aber sie liebte ihn trotzdem. Der Fenriswolf kam ihr wieder in den Sinn. Sie rappelte sich in eine sitzende Position und kämpfte sich schließlich auf ihr noch heiles Bein. Wie ein kleiner Hase hüpfte sie nun auf einem Bein zu ihrem Computer. Sie betätigte die Eingabetaste, gab ihr Kennwort ein und startete den Internetbrowser. Als sich das Fenster von Google öffnete, gab sie Fenriswolf ein und wartete die Ergebnisse ab.
Als Snow am Abend aus ihrem Zimmer kam, wartete Sylvester schon auf sie. Er hatte sich an die gegenüberliegende Wand gelehnt und sah sie nun grinsend an.
»Soll ich dir das Haus zeigen?« Sie musterte ihn von oben bis unten. Josh hatte ihm erzählt, dass sie ein E-Mail-Konto gefunden hatte, dass auch pikante Fotos von ihnen beiden enthielt. Stellte sie sich ihn gerade nackt vor?
»Nein, danke. Das hat Cassandra schon übernommen.« Gut. Sie spielte die Unerreichbare. Das hatte sie auch früher ab und zu gemacht, als sie noch nicht zusammen gewesen waren.
»Ich könnte dir noch mein Zimmer zeigen. Das Schlafzimmer wird dir gefallen.« Sie verdrehte die Augen und ging an ihm vorbei zur Treppe.
»Wo willst du hin?« Erst jetzt viel ihm auf, dass sie recht schick aussah in ihrem dunkelroten, kurzen Kleid. Und den passenden High Heels.
»Cassandra hat mich zu ihrem Weiberabend eingeladen. Bis später, Sylvester.« Noch während er auf ihre hübschen Beine starrte, ging ihm auf, was sie eben gesagt hatte.
Cassandras Weiberabend. Eine Horde Frauen, die sich einmal in der Woche trafen und wie aufgeregte Hühner gackerten. Und bei so etwas wollte Snow dabei sein? Freiwillig? Er schüttelte den Kopf und ging in sein Zimmer.
Früher hatte sie sich nicht einmal mit ihren Studienkollegen getroffen, weil sie ihr zu unreif waren und nur nebensächliche und völlig banale Dinge besprachen. Und nun hatte sie ernsthaft vor, sich diesen Haufen plappernden Frauen anzuschließen? Wenn sie wieder kam, würde er über ihr genervtes Gesicht lachen und sie noch einmal fragen, ob sie sein Zimmer gern ansehen wollen würde.
Nein! Das konnte nicht sein. Wenn dieser riesige Wolf wirklich der Fenriswolf gewesen war und ein Zeichen des nahenden Ragnarök, dann hatte sie nicht mehr genügend Zeit.
Sie sah wieder zu ihrem Computer-Bildschirm und ohne weiter darüber nachzudenken, buchte sie bei einer Airline einen Flug nach Amerika. Das Ticket druckte sie aus und transferierte anschließend ihr Geld von diversen Tagesgeldkonten zu ihrem Girokonto und auf ihre Visakarte.
Sie schnappte sich ihr Blackberry und übertrug die Daten des Fluges darauf. Als es leise an der Tür klopfte, blendete sie das Fenster mit der Buchung und der Bankseite aus und drehte sich schließlich um.
»Es ist offen.« Zum Glück hatten die Männer in diesem Haushalt die löbliche Eigenschaft anzuklopfen, bevor sie ein Zimmer betraten. Ihr Vater stand in der Tür, hielt aber seinen Blick auf das Tablett gesenkt, dass er vorsichtig balancierte.
»Ich hab dir etwas zu essen gebracht und eine Kompresse für deinen Knöchel.« Er war also wirklich der Ansicht, dass er das Thema totschweigen konnte. Aber so hatte sie wenigstens einen Vorwand, um nach Amerika abzuhauen.
»Kannst du mir bitte die Reisetasche von meinem Schrank reichen? Ich komm da nicht ran.« Sichtlich blass sah er ihr ins Gesicht und das Besteck auf dem Tablett klirrte.
»Ich hab diese Sender nur zu deinem Schutz gekauft.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und setzte ihren finsteren Blick auf.
»Die Tasche ist ganz hinten. Die Schwarze.« Als ob sie wüsste, welche Farbe diese beschissene Reisetasche hatte. Im äußersten Notfall müsste sie diese sowieso allein herunterholen. Plötzlich ließ ihr Vater den Kopf hängen.
»Also gut. Es sind sechs Peilsender. In deinem Notebook, in deinem Handy, den Wanderschuhen, den abgetragenen Turnschuhen, deiner Uhr und in deiner Tasche.« Er gab nach? In einer Sache, die ihm so wichtig war? Mist.
Jetzt musste sie ihn davon überzeugen, sie gehen zu lassen. Scheiße! Er würde sie nie freiwillig gehen lassen. Nicht in Tausend Jahren, nicht mal, wenn der Weltuntergang bevorstünde. Also blieb ihr nur noch ein Mittel: Lügen. Und das tat sie ihm nicht gern an.
»Danke. Ich kümmer mich dann gleich um die Entsorgung der Sender.« Wieder sah er auf das Tablett.
»Iss erst mal was und ich schau mir in der Zwischenzeit deinen Knöchel an.«
»Das ist lieb von dir. Aber meinem Knöchel geht es schon wieder ganz gut.« Um dies zu verdeutlichen, stand sie von dem Computerstuhl auf und wollte einen Schritt auf ihren Vater zugehen. Showtime!
Josi verzog ihr Gesicht zu einer Maske des Schmerzes und ging sehr theatralisch zu Boden. Alexej ließ sofort das Tablett fallen und ruinierte damit ihren Lieblingsteppich, aber das war es wert.
»Josi! Großer Gott. Nichts ist in Ordnung. Du wirst dich sofort hinlegen und ich mach dir einen Stützverband. Artjom besorgt schon Schmerzmittel.« Es klappte. Und das er schon vorher seinen Ältesten losgeschickt hatte, um Medikamente für sie zu holen, war so typisch für ihn.
»Daddy! Ich bin doch kein kleines Kind mehr«, protestierte sie, als er sie zu ihrem Bett trug.
»Keine Widerrede! Du kannst von Glück sprechen, dass der Knöchel nicht gebrochen ist!« Da könnte er Recht haben.
»Aber von diesen Schmerzmitteln werde ich immer so müde und high.« Das war keine Lüge. Zumindest nicht komplett. Am Anfang, als sie die neuen Schmerzmittel ausprobiert hatte, konnte Josi nur noch lallen und schlafen. Später, als sie schon mehrfach wegen kleinerer Unfälle die Schmerzmittelchen bekommen hatte, bemerkte sie, dass sie ihr nicht mehr ganz so zusetzten.
Natürlich hatte sie das ihrem Vater und ihren Brüdern nie gesagt, immerhin ließen sie Josi dann für mindestens einen Tag in Ruhe. Das war normalerweise das Maximum an ungestörter Freizeit. Sonst kam immer einer von ihnen zu ihr, um zu reden, sie etwas Technisches zu fragen oder einfach nur zu schauen, warum es so ruhig war.
»Es ist sowieso besser, wenn du schläfst und deinen Knöchel entlastest.« Und nicht meine Drohung wahr werden lassen kann. Sie setzte ihr süßestes Schmollgesicht auf und ließ ihn ihr einen Stützverband anlegen. Gerade, als er fertig war, betrat Artjom nach einem artigen Klopfen das Zimmer und reichte seinem Vater das Schmerzmittel.
»So, du nimmst jetzt zwei davon und ich will dich nicht vor morgen Nachmittag unten sehen. Ich bring dir dann gleich noch etwas Neues zu essen.« Als sie zu einem Protest ansetzen wollte, schnitt er ihr mit einem barschen »keine Widerrede« die Luft ab.