18. Kapitel

 

 

Lydia rieb sich genervt die Augen. Dann sah sie wieder auf den Bildschirm ihres Notebooks. Das brachte alles nichts. Sie hatte heute eine E-Mail von einem Bekannten bekommen, der über Beziehungen zu einem angesehenen Ahnenforscher verfügte. Der würde ihr vielleicht helfen können. Aber sollte sie das wirklich tun?

Seit Josh diese rothaarige Ausgeburt der Hölle geheiratet und gleich darauf geschwängert hatte, war in ihr wieder der Wunsch aufgekommen, ihre Verwandten zu finden. Sie hatte schon vor ein paar Jahrzehnten versucht, etwas über deren Verbleib zu erfahren, war aber damals noch auf Briefkorrespondenz angewiesen gewesen.

Seit dem Zeitalter des Internets war die Informationsbeschaffung deutlich einfacher geworden. Sie konnte sich nur noch undeutlich an das Wappen ihrer Familie erinnern, selbst der Familienname war ihr nur noch verschwommen in Erinnerungen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb zehn. Sie klappte ihr Notebook zu und ging zu dem Schrank, indem ihren Tabletten waren. Sie schüttete sich zwei auf die flache Hand und schloss die Pillendose wieder. Danach ging sie zu ihrem Schreibtisch, um die Tabletten mit einem Schluck Wasser hinunter zu spülen.

Im Haus würde es nun ruhiger werden und die anderen gingen auf ihre Zimmer. Für Lydia, die den anderen gegenüber recht scheu eingestellt war und versuchte, Cassandra weitestgehend aus dem Weg zu gehen, die Zeit, um im Spielzimmer eine DVD anzusehen oder sich im Fitnessraum zu betätigen.

Heute würde es wohl nur eine DVD werden. Seit ihrem letzten handgreiflichen Streit mit Cass am DVD-Abend des Rudels, hatte sie nicht wieder daran teilgenommen. Sie holte sich einen Becher Eiscreme aus ihrem Gefrierschrank und zwei Löffel. Das war immer noch ein vertrauter Griff, den sie einfach nicht ablegen konnte. Sie hatte früher immer mit Christopher zusammen den Becher geleert, wenn dieser wiedermal von seiner Frau terrorisiert wurde und dem gemeinsamen Zimmer fern geblieben war.

Das waren damals die schönsten Abende, ohne dass sie befürchten musste, dass es ein Mann auf ihren Körper abgesehen hatte. Im Spielzimmer angekommen, stellte sie den Becher und die Löffel auf den Tisch vor dem Sofa und ging zum Schrank, um sich eine DVD auszusuchen.

Apokalyptica. Ja, das war der perfekte Film für ihre momentane Stimmung. Sie legte ihn ein, setzte sich aufs Sofa und bedeckte ihre Beine mit einer Decke. Danach öffnete sie den Becher mit dem Schokoeis und begann, den Film anzusehen. Er lief etwa eine viertel Stunde, als sich plötzlich die Tür öffnete und Snow eintrat.

»Hallo Lydia. Weißt du zufällig, wo Sylvester ist? Ich kann ihn nirgendwo finden.« Lydia sah die junge Frau vor sich abschätzend an. Josh hatte ihr berichtet, dass sie wahrscheinlich von hier verschleppt und nach einer Vergewaltigung lebensgefährlich verletzt im Schnee liegen gelassen wurde. Außerdem hat er erzählt, dass sie die ehemalige Geliebte von Sylvester gewesen war. Jetzt erinnerte sie sich an nichts mehr. Wie gerne hätte Lydia mit ihr getauscht. Ein Leben ohne die Erinnerung an ihre Vergangenheit wäre Lydias größter Wunsch, der aber wohl immer nur ein Traum bleiben würde.

»Er hat ein neues Projekt. Normalerweise kommt er dann nicht vor dem Wochenende nach Hause.« Als Snow die Augenbrauen fragend hochzog, schüttelte Lydia den Kopf.

»Hat er dir denn nichts von sich erzählt?« Sie sah für einen kurzen Augenblick Schmerz in ihren Augen aufflackern, dann presste sie ihre Lippen aufeinander und sah auf ihre Hände.

»Nein. Und es interessiert mich auch gar nicht.« Sie sah so verloren aus. Wie von selbst rückte Lydia ein Stück zur Seite und klopfte neben sich auf die Couch.

»Hast du Lust, den Film mit mir anzusehen?« Gegen ihre normale Art, hielt sie den Becher mit Schokoladeneis hoch und reichte ihr einladend einen zweiten Löffel. Snow lächelte. Das war das erste richtige Lächeln, das sie bisher bei der jungen Frau gesehen hatte. Na gut. Sie hatte sie immer nur kurz im Flur gesehen, oder wenn sie mit Sylvester irgendwo hin ging.

»Gern. Wenn ich dich nicht störe.« Nein, nein, dachte Lydia traurig. Ablenkung tut mir immer gut.

 

»Hey alter Kumpel.« Erik kannte Johnas schon seit ein paar Jahren. Er betrieb einen kleinen Stripclub, der sehr beliebt war. Vor allem weil die Mädchen hier gerne arbeiteten und man es ihnen auch ansah. Sie wurden gut bezahlt und Johnas verlangte dafür im Gegenzug »saubere« Mädchen. Außerdem war es den Zuschauern verboten, die Mädchen zu belästigen, was unter anderem eine nie endende Welle der Jobnachfragen zur Folge hatte. Er konnte unter den besten und hübschesten Mädchen wählen. Und das Geschäft lief wirklich gut.

»Was gibt‘s?« Johnas Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Gab es Probleme, bei denen er Hilfe brauchte?

»Du sagtest doch, wenn ich jemanden entdecke, der nicht von eurem Rudel ist, soll ich sofort beschied sagen, richtig?« Erik nickte. Johnas war einer der wenigen Menschen, die in ein paar Wolfsangelegenheiten involviert waren. Hauptsächlich um ihnen Informationen zukommen zu lassen. Ein Stripclubbesitzer kam eindeutig besser an Infos als ein geschniegelter Wolf, der wie ein Börsenmanager aussah. Nicht, das Erik immer geschniegelt war. Er bevorzugte Jeans und T-Shirts.

»Komm mit. Ich hab heut auf der Straße ein Mädchen aufgelesen.« Erik folgte seinem Freund. Als sie in einen kleinen Hinterraum kamen, schloss Johnas die Tür zu seinem Büro auf. Schon schoss ein kleines Persönchen heraus und ging Johnas an die Gurgel.

»Sie haben gesagt, sie hätten Informationen für mich! Sie sagten nicht, dass sie mich in ein Freudenhaus schleppen und in so ein winziges Zimmer sperren!« Langes schwarzes Haar bedeckte den Rücken des Mädchens. Erik verschlug es die Sprache. Das Mädchen schlug immer weiter auf Johnas ein, der sich gegen ihre unbändige Wut nicht wehren konnte. Erik schüttelte seine Benommenheit ab und versuchte das Mädchen von seinem Freund zu zerren.

»Josi! Hör auf!« Plötzlich verstummten ihre Hasstiraden. Große schwarze Augen blickten zu ihm auf und ihre hübschen rosa Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Du bist das! Ich hab dich schon überall gesucht!« Sie sprang auf und er konnte ihre kleine Gestalt überblicken. Sie hatte ein knielanges schwarzes Kleid an, dessen Träger hauchdünn waren. Darunter trug sie schwarze Leggins und an den Füßen ausgeleierte Turnschuhe. Um ihren Hals hatte sie wieder die Kette mit diesem blutroten Anhänger.

»Du hast mich gesucht? Steckst du in Schwierigkeiten?« Josi schüttelte den Kopf und lächelte ihn auf ihre bezaubernde Art an.

»Ich hab mir mal frei genommen und bin hierher geflogen.« Eriks Augen weiteten sich.

»Ganz allein? Wo sind deine Brüder?« Während sie sprach, ging sie wieder in das kleine Büro und holte ihren Mantel sowie einen kleinen Rucksack.

»Die sind noch in Russland, hoffe ich zumindest. Wie gesagt, ich hab mir frei genommen.« Als sie wieder heraustrat, henkelte sie sich bei Erik ein und zog ihn zur Tür. Johnas hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und rieb seine Brust.

»Ich glaub, die Kleine hat mir die Rippen gebrochen.« Sie funkelte ihn böse an.

»Das ist deine gerechte Strafe. Niemand trickst mich aus und sperrt mich dann auch noch ein. Wärst du nicht ein Freund von Erik, hätte ich dich getötet. Merk dir das.« Aus ihrer amüsierten Stimme zu schließen, war sie ihm eigentlich dankbar, dass er Erik gerufen hatte. Damit zerrte sie Erik aus dem Gebäude. Und er wusste, dass sie es wahr gemacht hätte. Er hatte sie schon einmal in Action gesehen und war froh, dass sie auf seiner Seite stand.

»Wo wohnst du?« Erik sah ihr fragend ins Gesicht.

»Warum willst du das wissen?« Sie lächelte ihn immer noch an.

»Na ich muss doch irgendwo schlafen.« Erik blieb stehen.

»Du willst bei mir wohnen?« Sie nickte und sah dann an ihm vorbei.

»Oh! Schau mal!« Sie rannte an ihm vorbei und blieb vor einem Schaufenster stehen. »Da sind ja ganz viele Hundebabys!« Erik folgte ihr zu dem Schaufenster der Zoohandlung.

»Du kannst nicht bei mir wohnen. Ich wohne bei meiner Familie.« Sie sah ihn strahlend an.

»Ist deine Familie groß?«

»Meine zwei Brüder, ihre Frauen, meine Schwester und ihr Mann und bald zwei Kinder. Außerdem noch unser Personal.« Sie klatschte in die Hände.

»Das ist ja toll! So eine große Familie!« Erik runzelte die Stirn. Sie hatte ihn geschickt abgelenkt. Also wiederholte er: »Du kannst nicht bei mir wohnen!«

 

Derek saß am Morgen in seinem Haus und sah sich im Fernsehen die aktuellen Weltnachrichten an. Es war so weit. Die Vorzeichen des Ragnarök häuften sich, und zwar genau in der richtigen Reihenfolge.

In der Nacht, als er das Alexandria-Rudel in der Fabrik loswerden wollte, war die Mondfinsternis. Etwas später die ungewöhnlich hohe Zahl an Sternschnuppen. Dann das Erdbeben auf der Eurasischen Platte und heute wurde Japan und ein Teil Chinas von einem Tsunami getroffen.

Alles stimmte exakt überein, was bedeuten musste, dass Abbadon entweder schon geboren oder hier war. Also trug Cassandra den ultimativen Krieger in sich oder diese neue Frau im Rudel war Abbadon. Anders konnte es nicht sein.

Bevor der Ragnarök begann, musste er unbedingt die beiden Frauen in seine Gewalt bekommen. Er hatte sich schon lange überlegt, wie er alle Probleme mit einem Mal lösen konnte und er glaubte, endlich die perfekte Lösung gefunden zu haben.

Vor ein Paar Tagen hatte er zwei gut ausgebildete Söldner angeworben, die zwar teuer waren, aber ihre Arbeit ohne Gewissen erledigten. Nicht wie diese verdammten Informanten, die er in Joshs und Richards Rudel hatte. Sie hielten ihn hin, erzählten nur das Nötigste und er musste ihnen jede Information aus der Nase ziehen.

Das würde bald ein Ende haben. Wenn alles so lief, wie er es geplant hatte, würden ihm bald beide Rudel gehören und er konnte sich an allen rächen.

 

Wölfe der ewigen Nacht
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