13. Kapitel
Snow saß auf einem Friseurstuhl und sah zu der älteren Frau auf, die eine Schere in der Hand hielt.
»Sind sie wirklich sicher? Sie haben so schöne lange und gesunde Haare. Das werden sie später bestimmt bereuen.« Snow winkte gelassen ab.
»Schneiden sie die Haare ruhig ab. Ich bin nicht so eitel.« Sie brauchte nur das Geld. Früher war sie stolz auf ihre langen, blonden Haare gewesen und in der Schule hatten viele Mädchen sie darum beneidet. Aber jetzt, wo sie für sich allein sorgen musste, brauchte sie das Geld. Und ihre Haare würden ihr wenigstens etwas mehr einbringen, als das Blutspenden.
Nächste Woche konnte sie endlich ihren Job als Pizzalieferantin beginnen, dann hätte sie ein festes Einkommen und müsste sich keine großen Sorgen mehr um ihre Wohnung machen.
Sie spürte, wie sie Friseuse die Schere ansetzte und oberhalb des Haargummis die Haare abschnitt. Und sowie die Haare fielen, fühlte sie sich plötzlich leichter. Freier. Unabhängiger.
Zwei Hände fuhren ihr durch das schulterlange Haar und massierten sanft ihre Kopfhaut. Sie fühlte sich gelassen und entspannt. Aller Stress fiel von ihr ab.
»Oh! Das ist gut«, hörte sie sich selbst sagen. Sie wurde an einen muskulösen und warmen Körper gedrückt und leidenschaftlich geküsst. Ganz nah an ihrem Ohr konnte sie heißen Atem spüren, als Sylvester sagte: »Wenn du nicht so erschöpft wärst, würde ich dich noch auf eine andere Weise verwöhnen.«
Sie riss die Augen auf und sah mit klopfenden Herzen an die Decke in ihrem Zimmer. Es war nur ein Traum. Sie war allein im Raum. Aber warum fühlte sie sich nicht erleichtert? Und warum träumte sie von Sylvester, statt von Robert?
Sie drehte ihren Kopf zur Seite und sah auf ihren Wecker. Sieben Uhr morgens. Die anderen würden nicht vor neun oder zehn aufstehen. Sollte sie versuchen, noch einmal einzuschlafen? Nein. Das würde nicht funktionieren.
Mühsam rappelte sie sich auf und schlurfte ins angrenzende Bad. So schön ihre Hütte bei Vivien und Robert auch gewesen war, ihr Zimmer in Alexandria war mit nichts anderem zu vergleichen. Die Wände waren in einem sehr schönen Pastellgrün gestrichen und die Möbel bestanden alle aus dunklem Holz. Und erst das Bad! Ein kleiner Wohlfühltempel für sie ganz allein.
Nach einer belebenden Dusche zog sie sich an und ging in den Speisesaal, wo die Köchin schon das Frühstück zubereitet hatte. Der Duft von frischen Brötchen stieg ihr in die Nase und zog sie magisch an.
»Guten Morgen.« Erschrocken drehte sie sich zu Sylvester um, der am anderen Ende des Speisesaals saß und bereits aß.
»Morgen«, nuschelte sie und belud ihren Teller mit zwei Brötchen und einer kleinen Schale Marmelade. Als sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte, dachte sie wieder an den Traum. Was, wenn das kein Traum war, sondern eine Erinnerung? Ob Sylvester ihr ein paar Fragen beantworten konnte, ohne ihr zu nahe zu kommen?
Ohne das Für und Wider abzuwägen, drehte sie sich zu ihm um und setzte sich neben ihn. Er schien völlig perplex über ihren plötzlichen Bedarf an Nähe zu sein und ließ seinen Löffel mitten in der Luft zwischen Schüssel und seinem Mund verharren.
»Ich habe ein paar Fragen. Wegen früher. Würdest du ...?«
»Schieß los.« Er sah sie gespannt an.
»Was hab ich beruflich gemacht?« Seine Augenbrauen wanderten nach oben.
»Du hast studiert und nebenbei Pizza ausgefahren.« Also stimmte schon mal ein Teil von ihren Träumen.
»Hatte ich mal längere Haare?« Seine Augenbrauen waren schon fast an seinem Haaransatz, so stark runzelte er die Stirn.
»Als ich dich kennenlernte, hattest du ganz kurze Haare, vielleicht fünf oder sechs Zentimeter. Aber vorher musst du wohl mal sehr lange Haare gehabt haben, zumindest hast du mir das immer erzählt.« Noch ein Punkt, der übereinstimmte.
»Und wo hab ich gewohnt? Vom Rudel kannte mich niemand. Also muss ich irgendwo anders gewohnt haben.« Er nickte und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.
»Wenn du willst, kann ich dich hinfahren.«
Sylvester hielt vor einem schicken Wohngebäude und drückte ihr einen Schlüssel in die Hand.
»Kommst du nicht mit?«
»Soll ich denn mitkommen?«
»Bitte.« Sie stiegen aus und fuhren mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage. Als sie den Schlüssel in das Schloss steckte, überzog eine langsam lästig werdende Gänsehaut ihren Körper. Dann öffnete sie die Tür und trat ein.
»Ich hab nichts verändert. Konnte ich ja auch nicht. Die Wohnung ist so, wie du sie verlassen hast.« Es war eine helle Wohnung mit viel Farbe und wenig Möbeln. Und ordentlich. Sie ging ins Wohnzimmer und sah sich um.
Auf dem Couchtisch lagen Wirtschaftsbücher und ein Schreibblock. Nirgends stand ein Fernseher. Nur ein kleines Radio. Auf dem Sofa lag eine Uniform. Als sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, erklärte er: »Wir haben uns kennengelernt, als du eine Pizza in meine Wohnung gebracht hast. Tagsüber studierst du.«
»Was ist mit meiner Familie?«
»Du hast mir erzählt, dass du mit sechzehn weggelaufen bist. Mehr weiß ich leider nicht. Bei diesem Thema warst du immer recht reserviert.«
»Und wie konnte ich mir diese Wohnung leisten? Als Pizzabote verdient man doch sicher nicht so viel.« Er sah verlegen aus.
»Du hast ursprünglich in einem billigen Ein-Zimmer-Appartment gewohnt. Das hier war meine Wohnung.«
»Und ich war deine Geliebte, die du hier hast wohnen lassen?«
»Nun ja. Du hast die Nebenkosten übernommen.« Er blickte an ihrem Körper herab und konnte sicher sehen, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. »Du hast dich erst geweigert. Deinen Job wolltest du auch nicht aufgeben, obwohl ich dir das Studium und alles finanziert hätte.«
»Warum?«
»Du hast mich vom ersten Augenblick an verzaubert. Ich konnte nur noch an dich denken.« Das war schon ein halbes Liebesgeständnis. Sie ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Dort stand ein großes Bett. Nichts deutete darauf hin, dass jemand darin geschlafen hatte.
»Du warst ein sehr ordentlicher Mensch.« Er stand hinter ihr in der Tür. »Pack ein, was du mitnehmen willst. Es gehört sowieso alles dir.« Er holte eine große Reisetasche unter dem Bett hervor und reichte sie ihr.
»Danke.« Seine einzige Reaktion war ein Nicken. Sie packte ein paar der Sachen im Kleiderschrank ein, Hygieneartikel aus dem Bad und zwei paar Schuhe. Plötzlich fiel ihr die Bibel auf, die neben dem Bett auf dem Nachttisch lag. Es war dieselbe, wie in ihrem Traum. Ob immer noch Geld darin war? Sie nahm die Bibel in die Hand und öffnete sie vorsichtig. Es lag kein Geld in der Aussparung, sondern Fotos und Eintrittskarten. Auch eine Rechnung aus einem Schnellrestaurant lag dabei. Als sie diese umdrehte, sah sie einen handgeschriebenen Text.
Heute hat Sylvester mich das erste Mal geküsst.
Als sie wieder auf das Datum der Rechnung sah, bemerkte sie, dass das schon fast drei Jahre her war. Sie sah sich die Fotos an. Eines zeigte Sylvester beim Schlafen.
Wir haben gestern seinen Geburtstag gefeiert.
Ein weiteres zeigte sie zusammen mit ihm im Bett.
Unsere erste gemeinsame Nacht.
Auf den Eintrittskarten stand nichts, was sie etwas enttäuschte. Ihre eigene Schrift zu sehen und sich nicht daran erinnern zu können, wann man das geschrieben hat, war beängstigend. Sie legte die Bibel ebenfalls in ihre Tasche. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, stand Sylvester am Fenster und sah hinaus.
»Ich bin dann so weit fertig.« Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen drehte er sich um und nahm ihr die Tasche ab. »Hatte ich nichts Persönliches, als ich bei dir eingezogen bin?« Er zuckte mit den Schultern.
»In deiner damaligen Wohnung waren nur eine Matratze, eine Kommode und ein Kühlschrank. Mehr als diese Tasche und deine Schultasche hast du nicht mitgebracht.« Sie nahm die Umhängetasche vom Sofa und drehte sich zur Wohnungstür.
Josi grinste ein letztes Mal in die Kamera.
»Morgen um die gleiche Zeit?« Erik nickte und schloss dann das Programm. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür.
»Josi? Wir gehen jagen. Kommst du mit?« Sie verdrehte die Augen. Für ihre Brüder war dieses Leben hier in Russland alles. Die Burg, das Dorf, die Frauen aus dem Dorf ... Sie durften überall allein hingehen. Nur Josi nicht. Jedes Mal, wenn sie sich mit ihrem Vater darüber stritt, brachte er das alte Argument »Ich hab schon eine Tochter verloren und es hat mir das Herz gebrochen. Wenn ich dich jetzt auch noch verliere ...« und sie konnte nichts dagegen sagen. Es war ja nicht so, dass sie hier in der Burg eingesperrt war. Sie musste nur überall, wo sie hinging, jemanden mitnehmen.
»Josi? Hast du mich gehört?« Sollte sie mitgehen? Sie seufzte.
»Ich muss mich nur noch anziehen.« Vielleicht konnte sie ja ein paar arme Rehe retten. Oder einen Hasen. Sie schmunzelte. Ihre Brüder behandelten sie immer noch wie ein kleines Mädchen, das verwöhnt werden musste. Als sie daran zurückdachte, wie sie zu den Wolkows gekommen war, verdüsterten sich ihre Gedanken.
Sie war damals noch sehr jung gewesen, aber diese wenigen Monate vor ihrer Befreiung hatten sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. Als ihr Vater sie in seine Burg gebracht hatte - sie war damals halb Tod gewesen - hatte er sie immer wieder Jekaterina genannt und so getan, als würde er sie kennen. Nachdem sie sich wieder erholt hatte, verkroch sie sich und redete mit niemandem. Ihr Vater brachte jeden Tag ein neues Kleid oder Spielzeug zu ihr und ihre Brüder versuchten, sie mit Süßigkeiten zu locken. So ging das mehrere Monate.
An einem schönen Wintermorgen standen sie dann plötzlich vor der Burg. Hexen. Ihre Anführerin, eine Brünette mit freundlichen, grünen Augen, hatte um Obdach für eine Nacht gebeten. Widerwillig hatte ihr Vater zugestimmt und die Hexen im entlegensten Winkel der Burg untergebracht.
Als sie am Abend zusammen aßen, betrachtete die Brünette Josi sehr interessiert. Ihrem Vater schien das ganz und gar nicht zu gefallen. Sie hatte damals noch nichts von seiner Abneigung gegenüber Hexen gewusst. Nach dem Essen bat die Frau um ein vertrauliches Gespräch mit ihrem Vater. Josi folgte ihnen in sein Arbeitszimmer und belauschte das Gespräch.
»Wir werden sie mitnehmen, wenn wir die Burg verlassen.« Noch nie in ihrem Leben hatte sie ihren Vater so gesehen wie damals, als er die Hexe anschrie, dass sie ihre dreckigen Hurenhände von seiner Tochter lassen soll. Die Hexe war ruhig geblieben und hatte ihm die ganze Wahrheit offenbart.
»Sie ist zum Teil wie ich. Ihre Mutter war eine entfernte Verwandte von mir, die sich mit einem Raben eingelassen hatte und vom Zirkel verstoßen wurde. Sie gehört zu meinem Blut, nicht zu deinem.« Alexej war hochrot geworden und packte sie an den Oberarmen. »Sie ist meine Tochter! Und ich werde sie vor solchen abartigen Höllenwesen wie dir fernhalten. Sie wird nie wieder so leiden, wie in der Zeit, die sie nicht in meiner Obhut war!« Die Hexe hob ihre Hand und schleuderte Alexej gegen eine Wand um ihn dort mit ihrer Magie festzuhalten.
»Sie ist von zu großer Bedeutung für unseren Herrn, als dass ich sie bei einem ... räudigen Wolf lassen würde.« Das war der Moment, indem alle Dämme brachen. Sie stürmte in das Zimmer und lief zu ihrem Vater. Ohne eigentlich zu wissen, was sie tat, löste sie den Bann der Hexe und ihr Vater stand wieder auf seinen Füßen.
»Lass meinen Papa in Ruhe. Ich gehe nicht mit dir. Das hier ist mein Zuhause.« Die Hexe hatte sich zu ihr gekniet und ihr versucht, die Situation zu erklären, aber Josi hatte GEFÜHLT, dass sie hier hergehörte. Zu Alexej.
Ein Poltern erklang vor der Tür und ihr Bruder stürmte herein.
»Wenn du mitkommen willst, dann trödle gefälligst nicht so rum. Wir sind schon fertig.«
Erik schmunzelte immer noch in die Kamera, obwohl das Programm schon längst geschlossen war. Er mochte die Unterhaltungen mit Josi. Sie war nicht eine dieser eingebildeten Modepüppchen und vor allem war sie technikbegeistert. Eine perfekte Frau, zumindest in seinen Augen. Und hübsch noch dazu.
Schade, dass sie in Russland war und er hier. Schon seit ihrem ersten Treffen hatte er sich vorgenommen, mal bei seinen Eltern und dann ganz nebenbei bei Josi vorbei zu schauen. So wie sie mit ihm flirtete, hatte sie auch sicher gegen einen kleinen Besuch nichts einzuwenden.
Seufzend ließ er sich in seinem Computerstuhl nach hinten sinken und blickte auf seine Erektion, die selbst durch seine Hose eindeutig zu sehen war. Zum Glück zeigte die Kamera immer nur den Kopf der sprechenden Person, sonst wären das sehr peinliche Gespräche mit ihr geworden.
Sobald die abgesprochene Zeit ran war, hatte er seinen Körper einfach nicht mehr unter Kontrolle. Sein Kopf war nur noch zur Bedienung der Technik da, den Rest übernahm seine Libido. Ob er sich schnell im angrenzenden Bad Erleichterung verschaffen sollte? Nein. Jedes Mal, wenn er mit Josi gesprochen und danach in die Dusche gegangen war, um seine Anspannung abzubauen, war es nur schlimmer geworden. Nach einer oder zwei Stunden würde das schon wieder nachlassen. Hoffte er zumindest.
An seiner Tür wurde zögerlich geklopft, und wie er aufstand, rückte er alles zurecht, sodass man nicht gleich auf den ersten Blick sah, wie wenig Kontrolle er über seinen Körper hatte. Als er die Tür öffnete, stand Snow davor.
»Bitte entschuldige die Störung. Ich wollte etwas nachschauen und komme nicht zurecht.« Als er fragend die Augenbraue hob, zeigte sie auf die Bibliothek. »Am Computer.« Nun grinste er.
»Klar. Ich komm gleich rüber.« Er ging zurück zu seinen Computern und schrieb Josi eine letzte Nachricht.
Ich bin erst mal unterwegs. Bis morgen. ;)