23. Kapitel

 

 

Jerome kam herein und hüstelte, um die Aufmerksamkeit von Derek zu erregen. »Was ist denn?« Jerome sah ihm fest in die Augen und erwiderte: »Die Wehen haben eingesetzt. Cassandra bekommt ihr Kind. Was sollen wir machen?« Derek sah grinsend zu Josh, dessen Augen weit aufgerissen waren.

»Ich kümmere mich schon darum«, erwiderte er mit einem gehässigen Grinsen. Josh sah ihn wütend an und wehrte sich gegen seine Fesseln.

»Sie braucht einen Arzt! Sie kann das Kind nicht allein zur Welt bringen.« Dereks Grinsen wurde immer breiter.

»Keine Angst. Wenn sie vor Schmerz ohnmächtig wird, werde ich höchstpersönlich das Messer anlegen. Du glaubst nicht, was es mir für einen Spaß machen wird, sie schreien zu hören.« Mit diesen Worten drehte er den Männern den Rücken zu und ging mit Jerome aus dem Zimmer.

»Du verdammter Hurensohn. Du Schwein. Lass mich zu ihr!« Doch die Tür war geschlossen. Sylvester sah ihn mitfühlend an.

»Keine Angst. Eine Geburt dauert meist etwas länger. Bis dahin sind wir frei.« Richard nickte bestätigend.

»Cass wird das schaffen. Sie ist eine starke Frau.« Plötzlich wurde die Tür wieder geöffnet und Josh traute seinen Augen nicht, als Cass und Snow in den Raum kamen.

»Cass! Oh mein Gott. Wie geht es dir?« Sie lächelte ihn verschmitzt an.

»Alles noch an seinem Platz. Das war nur Ablenkung, damit Derek verschwindet.« Sie gab ihm einen Kuss und sah sich seine Fesseln an. Dann hörte sie ein beunruhigendes Klicken hinter sich und drehte sich um. Derek stand mit geladener und entsicherter Pistole hinter ihr an der Tür und lachte spöttisch.

»Glaubst du allen Ernstes, ich falle auf so einen billigen Trick herein?« Er ging weiter auf Cass zu und sah sich nach Snow um.

»Stell dich dort hinten an die Wand, damit ich dich sehen kann.« Die blonde Frau nickte und bewegte sich langsam auf den hinteren Teil des Raumes zu.

»Ts, ts, ts. Cassandra. Ich hätte dich für klüger gehalten. Warum bist du nicht einfach geflohen, als du die Gelegenheit dazu hattest?« Sie sah Josh in die Augen und er erkannte die Entschuldigung darin.

»Ich lasse meine Familie nicht im Stich.« Derek zuckte mit den Schultern und wandte sich an Josh.

»Gefühle sind immer ein Hauptgrund für den Tod. Aber selbst wenn du geflohen wärst, hättest du den Tod nicht entrinnen können.« Josh zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

»Wie meinst du das?« Derek grinste diabolisch.

»Ich bin mir nicht zu hundert Prozent sicher, aber sie wird wahrscheinlich vor oder während der Geburt sterben. Und das Kind gehört Odin.« Jetzt fiel bei Josh der Groschen. Die Vorhersage!

»Glaubst du etwa ernsthaft an diese Vorhersage einer wahrscheinlich verwirrten Hexe?«

»Abbadon, keine lebendige Frau wird sie gebären.« Cass wurde blass und Josh sah, wie sie leicht wankte. Der Drang, die Fesseln zu zerreißen und sie zu umarmen wurde unerträglich. Und seine Wut, weil er eben das nicht machen konnte, überwältigend.

»Wieso sollte ausgerechnet Cassandra Abbadon zur Welt bringen?« Derek hatte den Verstand verloren. Er war völlig von dieser Vorhersage überzeugt und auch nicht abzubringen.

»Überleg doch mal. Es kann doch kein Zufall sein, dass sie bis jetzt alle Anschläge auf ihr Leben überlebt hat, wenn sie nicht von Odin beschützt würde. Sie muss es einfach sein.« Sein Blick fiel auf Maya.

»Und wenn doch nicht, steht dort meine zweite Chance.« Er sah sofort Sylvesters fragenden Blick, der auf Maya ruhte. Derek hatte ihn ebenfalls bemerkt.

»Ganz recht. Die Kleine wurde von Odin erschaffen. Bei ihr trifft die Vorhersage ebenfalls zu.« Nun starrten auf einmal alle auf die kleine Blondine.

Vor dem Haus waren plötzlich Kampfgeräusche zu hören und Derek zog sein Funkgerät aus der Hosentasche.

»Was ist da draußen los?« Es kam keine Antwort. Stattdessen wurde die Tür aufgestoßen und sechs Männer stürmten das Zimmer. Alle schwer bewaffnet. Und Josh erkannte nur einen von ihnen.

»Robert!« Snows Stimme war überrascht, aber freudig erregt. Als sich Josh wieder zu Sylvester drehte, um seine Reaktion abzuschätzen, erkannte er den tiefen Schmerz in seinen Augen. Einer der bewaffneten Männer trat hinter Richard und durchtrennte dessen Fesseln. Dann kamen er und Sylvester an die Reihe. Derek war in der Zwischenzeit bis zum Fenster zurückgewichen.

»Gib auf, Derek. Du hast keine Chance gegen uns alle.« Er ließ das Funkgerät fallen und legte seinen freien Arm um Cassandras Hals. Die Waffe wanderte von ihrem Hinterkopf zu ihrer Schläfe.

»Ihr werdet mich gehen lassen, oder ihr seid für ihren Tod verantwortlich.« Cass sah zu einem der bewaffneten Männer und nickte unmerklich. Was hatte sie vor? Sie spreizte die Finger ihrer rechten Hand und zog einen nach dem anderen zurück zur Faust. Fünf, vier, drei ... Das war ein Countdown. Sie würde doch nicht ... Aber bevor er eingreifen konnte, packte sie Dereks Hand, in der er die Waffe hielt, und stemmte sie nach oben.

Für Josh bewegte sich die Welt plötzlich in Zeitlupe. Einer von Roberts Männern feuerte auf Derek und traf ihn an der linken Schulter, nur ein kleines Stück neben Cassandras Kopf. Ein zweiter schoss ihm die Waffe aus der Hand.

Die Überraschung war Derek deutlich anzusehen, genau wie der Schmerz. Durch die Wucht, der kurz nacheinander einschlagenden Kugeln, wurde er zusammen mit Cassandra, die er immer noch mit seinem Arm festhielt, gegen das Fenster geschleudert und durchbrach es.

Dann fielen sie. Josh sprang auf und rannte zum Fenster. Cass lag zum Glück auf einem weichen, verschneiten Busch, der ihren Sturz etwas gebremst hatte. Derek war verschwunden.

»Josh!« Aus ihrem erleichterten Lächeln wurde eine Maske des Schmerzes. Sie schrie laut auf und Josh sprang sofort aus dem Fenster. Cass hatte ihre Hände schützend auf den Bauch gelegt und drehte sich zur Seite.

»Mein Baby!« Wieder ein greller Schrei und er kniete sich von Angst geschüttelt neben sie.

»Keine Sorge, Schatz. Greg wartet ein paar Blocks von hier auf uns. Er wird gleich da sein.«

Sylvester beobachtete Snow, die erst zum Fenster lief, um nach Cassandra zu sehen und sich dann zu Robert umdrehte. Sie umarmte ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Robert schlang seine Arme um ihren Körper und wirbelte sie durch die Luft. Warum war er zurückgekommen? Hatte er es sich anders überlegt und verließ seine Frau nun doch? Für Snow hätte er selbst sofort alles stehen und liegen gelassen.

Roberts Flüstern wurde eindringlicher und Snow klammerte sich an ihn. Er hatte keine Lust, dieses Liebesgeturtel weiter mit anzusehen und sprang durch das Fenster zu seinem Bruder, der eine vor Schmerzen stöhnende Cassandra in seinen Armen hielt.

»Lass sie uns rein bringen.« Josh sah auf und nickte zustimmend. So behutsam wie möglich trug er sie wieder ins Haus und Sylvester sah sich nach einem ruhigen Platz um. Plötzlich tauchte Carla auf, gefolgt von Greg, der seine Arzttasche in der Hand hielt.

»Schatz! Was ist passiert?« Cass kniff immer noch die Augen zusammen und stöhnte vor Schmerz.

»Sie ist aus dem Fenster gefallen und hat schmerzen.« Carla sah ihrer Tochter fest in die Augen.

»Hattest du vorher schon ein Ziehen oder ein drücken im Rücken oder Bauch?« Cassandra öffnete ihre Augen und nickte verhalten.

»Ich wollte Maya nicht verängstigen. Aber es war nicht sehr schlimm.« Carla wandte sich an Greg.

»Sie hat schon Wehen und ich glaube kaum, dass wir hier ein Kind zur Welt bringen können.« Richard kam um die Ecke und deutete auf eine Zimmertür.

»Dort drinnen steht ein Bett. Dann kann sie sich wenigstens ausruhen, bis der Notarzt kommt.« Greg und Carla nickten.

»Lass mich bitte runter. Ich will selber laufen.« Sylvester sah Josh fragend an, und als dieser nickte, stellten sie Cassandra behutsam auf ihre Füße.

»Danke.« Sie hielt sich an Josh und Carla fest, während Sylvester die Tür aufhielt und Richard die Decke vom Bett zog. Als sie nur noch wenigen Zentimeter vom Bett entfernt war, hielt sie plötzlich inne und sah Josh mit weit aufgerissenen Augen an. Er konnte die Panik darin förmlich sehen.

»Meine Fruchtblase ist geplatzt!« Greg sah an ihren Beinen eine Blutspur, im gleichen Moment, als Josh und er dorthin sahen. Fragend sah er den Arzt an. Dieser schüttelte den Kopf, um ihnen zu bedeuten, nichts zu sagen. Das war nicht gut. Greg wandte sich an Cassandra, die sich unter Schmerzen und einem großen Krafteinsatz auf das Bett legte.

»Carla kümmert sich kurz um dich.« Damit verließen die drei Männer den Raum.

»Sie muss sofort ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, was die Blutung ausgelöst hat, aber es könnte sowohl für sie als auch für das Kind gefährlich werden.«

Ein lauter Schrei ertönte aus dem Zimmer und Josh gefror das Blut in den Adern. Carla stürmte aus dem Zimmer und sah die drei Männer panisch an. Ihre Hand war blutig. Scheiße!

»Der Muttermund ist fast komplett offen. Das wird eine Sturzgeburt.« Der Arzt rannte sofort ins Zimmer, gefolgt von Carla und Josh. Sylvester blieb vor der Tür. Das würde er sich unter keinen Umständen antun. Nie im Leben. Er würde jetzt zu den anderen gehen und sie davon in Kenntnis setzen, dass in den nächsten Stunden ein keiner Wolf das Licht der Welt erblicken würde.

Als ein neuerlicher Schrei aus dem Zimmer ertönte, korrigierte er die Zeit. Das würden keine Stunden, sondern nur Minuten werden. Schnellen Schritts ging er wieder in den Raum, indem noch ein paar wenige Rudelmitglieder waren, und sagte laut: »Cassandra bekommt gerade ihr Wölfchen. Ruft einen Krankenwagen und geht sicher, dass die Sanitäter auch schnell zu ihr kommen.«

Helle Aufregung brach aus und alle plapperten durcheinander. Richard rief in seinem Revier an, um den aktuellen Status bekannt zu geben. Evan rief bei Emily an. Und Sylvester ging zurück zum Zimmer. Natürlich nur, um zu warten. Keine zehn Pferde hätten ihn jetzt dort hineingebracht.

 

Josh hielt Cassandras Hand, die klein und zerbrechlich aussah. Doch bei jeder Wehe war es, als würde sie ihm jeden einzelnen Knochen darin brechen. Aber er ignorierte es und strich seiner Frau mit der anderen Hand zärtlich über die schweißnasse Stirn.

»Du schaffst das, Süße.« Wobei er sich nicht so sicher war. Sowohl das ganze Blut, als auch Gregs angespanntes Gesicht, ließen ein mulmiges Gefühl in ihm schwelen. Er konnte nur hoffen, dass Derek unrecht hatte und ihr Kind nicht Abbadon war. Außerdem kamen die Wehen so heftig und schnell nacheinander, dass es beunruhigend war.

Cass biss die Zähne fest zusammen und schrie wieder aus vollem Hals.

Plötzlich wurde der Raum von einer ungeheuren Hitzewelle durchflutet. Alle Glühbirnen zerbarsten und die Fensterscheiben sprangen in tausende Stücke. Über Cass legte sich eine mächtige, rote Wolfsaura, die alle ein Stück zurückweichen ließ.

Noch nie hatte er eine so kraftvolle Aura gesehen. Wie ein roter Schleier legte sich die Wolfsgestalt über Cass und schien sie ganz einzunehmen.


Wölfe der ewigen Nacht
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