6. Kapitel

 

 

Am Abend der Feier holte Jordan sie pünktlich ab und lief mit ihr zur Halle. Er hatte ihr Komplimente über ihr Kleid und ihre Frisur gemacht, wobei sein Kopf mit jedem Wort mehr an röte zunahm. Als sie die Halle betreten hatten, nahm er ihren Mantel und ging damit zur Garderobe. Snow sah sich in der Zwischenzeit um. Sie war praktisch von den Männern des Rudels umringt, die alle um ihre Aufmerksamkeit buhlten in den schicken und teuren Anzügen. Aber keiner interessierte sie. Nur für einen schlug ihr Herz.

Vivien legte ihr den Arm auf den Rücken und flüsterte leise: »Du siehst sehr hübsch aus, Snow.« Dann kicherte sie wie ein kleines Mädchen und deutete auf die vielen Männer.

»Die Jungs denken, du bist eine Tochter der Göttin, weil du dich in einen Wolf verwandeln kannst.« Snow runzelte die Stirn.

»Ich kann mich nicht in einen Wolf verwandeln.« Die Frau ihr gegenüber lächelte nachsichtig und strich ihr sanft über den Arm.

»Du bist eine Schlafwandlerin. Wenn du deine Hütte verlässt, wirst du ein Wolf. Dann läufst du eine Stunde durch die Gegend und kommst hinterher wieder zurück.« Ungläubig schüttelte Snow den Kopf. Das konnte doch nicht ihr ernst sein.

»Greg und Robert haben es mit eigenen Augen gesehen und seither ist immer mindestens einer der Sicherheitsleute in der Nähe, um auf dich aufzupassen.« Daher war sie an dem einem Morgen so erschöpft gewesen und es erklärte auch den Schmutz, den sie in ihrem Bett gefunden hatte.

»Aber ich dachte, wir könnten uns nicht mehr verwandeln.« Robert kam dazu und nahm Vivien in den Arm. Eine Geste, die Snow verletzte. Sie musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass er Viviens Ehemann war.

»Das stimmt auch. Du bist die Erste seit Jahrhunderten, die es kann.« Dann küsste er sanft Viviens Schulter, die in ihrem champagnerfarbenen Kleid sehr elegant aussah, und deutete auf die Tanzfläche.

»Würdest du mir die Ehre erweisen?« Snow hätte sich am liebsten übergeben.

»Gerne. Wir sehen uns dann, Snow. Viel Spaß.« Den würde sie heute wohl nicht unbedingt haben. Als sie den beiden zusah, wie sie über das Parkett schwebten, kam Jordan zurück und strahlte förmlich. Wenigstens war einer an diesen Abend glücklich.

 

Sie beobachtete den ganzen Abend über das verliebt wirkende Paar und führte nebenbei ein paar seichte Gespräche mit den anderen Rudelmitgliedern. Größtenteils ging es um das Wetter, die Prognose des Wetters und das Wetter in anderen Staaten. Worüber sonst sollte sie mit den anderen reden? Sie hatte nicht ein Mal die Gelegenheit gehabt, Robert allein zu sprechen, weil immer Vivien in der Nähe war. Aber sie musste wissen, ob er etwas für sie empfand.

Jordan sah sie schwärmerisch an und sie unterbrach ihre Gedanken für einen Moment. Zwar erzählte er die meiste Zeit von sich, aber ab und zu richtete er auch eine Frage an sie. Und wenn sie nicht wenigstens ab und zu zuhörte, konnte das sehr peinlich werden.

»Kann ich dir etwas zu trinken holen?« Sie sah zum dicht umringten Buffet. Das würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, ehe er wieder bei ihr wäre und sie gezwungen war, über seine langweiligen Hobbys zu sprechen. So schüchtern er zuerst war, so langweilig stellte er sich im Nachhinein heraus.

»Gern, wenn es dir nichts ausmacht.« Er drückte seine Brust heraus, die wirklich nicht zu verachten war, und ging hoch erhobenen Hauptes zum Buffet. Kaum war er weg, sah sich Snow um. Vivien war eben mit zwei anderen Frauen im Gespräch und Robert stand alleine am anderen Ende des Raumes. Das war ihre Chance, ein Gespräch unter vier Augen mit ihm zu führen.

 

Robert lehnte etwas abseits der anderen an einer Wand und trank in ruhe sein Bier. Der Abend verlief ganz angenehm und Snow wurde von allen gut aufgenommen. Vor allem die jungen Männer hielten sich sehr auffällig in ihrer Nähe auf. Doch keiner traute sich, die kleine Blondine anzusprechen.

Robert seufzte ergeben. Es waren wirklich gute Jäger unter ihnen, die sich immer sofort in ein Abenteuer stürzten, aber vor dieser kleinen Frau hatten sie anscheinend alle Angst. Oder Respekt. Wenn man bedachte, dass sie sich verwandeln konnte, verstand er die Männer sogar.

Nur Jordan, der normalerweise kein draufgängerischer Typ war, hatte sich getraut, Snow zum heutigen Abend einzuladen. Und das sie zugestimmt hatte, ließ Vivien und ihn beruhigt in die Zukunft blicken. Die Zwei würden sicher ein schönes Paar abgeben.

Plötzlich zog ihn jemand am Ärmel. Es war Snow und sie sah sehr ernst aus.

»Was gibt es denn?«

»Kann ich dich kurz sprechen? Es ist wichtig.« Was war passiert? Hatte sich einer der Männer daneben benommen? Er hatte nichts dergleichen mitbekommen, aber das musste nicht unbedingt etwas bedeuten. Er folgte Snow aus dem Saal in das kleine, angrenzende Büro. Es war dunkel, bis auf eine kleine Lampe, die auf dem Schreibtisch stand.

»Was ist denn los?« Snow drückte Robert auf den Diwan und zog sich etwas zurück. Noch im Gehen begann sie, ihr Kleid aufzuknöpfen.

»Snow ... Was tust du da?« Sie lächelte und schob sich beide Träger über die Schultern, sodass das sich das Kleid zu ihren Füßen bauschte. Robert blieb die Spucke weg.

»Ich bin verheiratet!« Snow kam langsam auf ihn zu.

»Du und ich, wir sind füreinander bestimmt!« Sie setzte sich nur in Unterwäsche auf seinen Schoß und begann ihn zu küssen. Er hob verdattert die Hände und versuchte es zu vermeiden, ihre nackte Haut zu berühren.

»Du hast mich gefunden. Mich gerettet. Das war Schicksal.« Robert umfasste ihre Schultern und drückte sie von sich.

»Das war Zufall!« Er sah ihr tief in die Augen. »Ich muss zugeben, du bist wirklich eine Schönheit. Aber ich bin verheiratet und ich liebe Vivien.«

»Das will ich dir auch geraten haben!« Vivien stand hinter ihnen in der Tür. Sie sah verärgert und wütend von Robert zu Snow.

»Sieht so deine Dankbarkeit aus?« Snow wurde rot und kletterte von Roberts Schoß. Neben dem Diwan blieb sie stehen und sah auf den Boden.

»Es tut mit leid, aber ich liebe ihn.« Vivien schnaubte und ging auf das Mädchen zu, dass sie über Wochen und Monate gepflegt und umsorgt hatte. Eine schallende Ohrfeige durchbrach die Stille und Robert stand mit einem missbilligenden Gesichtsausdruck auf.

»Vivien ...« Ihr eisiger Blick ließ ihn verstummen. Sie packte Snow am Arm und zog sie etwas näher zu sich heran.

»Du glaubst, dass du ihn liebst, weil er dich gerettet hat. Was du fühlst, ist Dankbarkeit, nicht Liebe.« Snow sah ihr nicht in die Augen, sondern nur auf den Boden. An Robert gewandt sagte Vivien: »Ich will sie hier nicht mehr haben. Kümmer dich darum, dass sie in ein anderes Rudel kommt.« Robert stellte sich an Vivens rechte Seite und sah ihr tief in die Augen.

»Was sie getan hat, war ein Fehler, aber wir können sie nicht einfach an ein anderes Rudel weitergeben. Sie hat sicher aus ihren Fehlern gelernt, nicht wahr, Snow?« Diese sah Robert nun entschlossen an und schüttelte den Kopf.

»Wenn sich mir eine Gelegenheit bietet, würde ich es sofort wieder tun.« Robert stöhnte entnervt auf.

»Snow! Sei doch vernünftig. Ich bin verheiratet.« Vivien ließ Snow frei und sagte an sie gerichtet: »Du wirst in zwei Tagen ausziehen. Pack deine Sachen.« Zu Robert sagte sie: »Und du kümmerst dich um ein neues Rudel für sie.«

 

Robert ließ sich am nächsten Abend neben Vivien ins Bett fallen und seufzte laut auf.

»Joshua nimmt sie bei sich auf. Ich hab meine ganzen Kontakte durchtelefoniert und kein anderer hatte so kurzfristig noch einen Platz.« Es war wirklich kein guter Zeitpunkt für Snow gewesen. Es war Ende September und in allen Rudeln wurde langsam die Herbst- und Weihnachtszeit vorbereitet.

»Hast du ihm den Grund gesagt, warum sie ausziehen muss?« Ihre Stimme klang schärfer als sonst.

»Nein. Das mach ich erst, wenn wir dort sind. Ich muss ja nicht von vornherein für böses Blut sorgen.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

»Du willst sie immer noch beschützen, oder?« Er nahm seine Frau in den Arm.

»Schatz! Ich liebe dich über alles und das habe ich ihr auch gesagt, aber wenn ich sie sehe, ist es, als würde mich irgendetwas zwingen, sie vor allem Möglichen zu beschützen.« Sie wehrte sich nicht gegen seine Umarmung.

»Und du kannst von Glück reden, dass du nicht mit ihr geschlafen hast. Sonst würden jetzt zwei Gräber mehr auf dem Friedhof stehen.«

»Ach Süße.« Sie sah ihm in die Augen und er konnte ihr Feuer sehen. Dieses Feuer hatte schon lange nicht mehr derartig leidenschaftlich gebrannt.

»Wann fliegst du?« Die Frage hatte sie in einem ruhigeren Ton gestellt. Er wusste, dass sie nicht gern von ihm getrennt war, aber sie wollte auch nicht dabei sein, wenn Snow in das andere Rudel ging.

»Morgen Mittag. Ihre Sachen hat sie schon gepackt. Es waren ja nicht all zu viele.« Snow hatte ihr schweigend die geliehenen Kleidungsstücke fein säuberlich gewaschen und zusammengelegt übergeben. Sie hatte sich nochmals bei ihr für die Gastfreundschaft und die Pflege bedankt, aber sich nicht für ihre Tat entschuldigt. Und er wusste, wie sehr es Vivien verletzte, dass sie sich ausgerechnet an Robert herangemacht hatte. Snow war für sie wie eine Schwester. Jeder andere Mann wäre für sie akzeptabel gewesen, aber nicht ihr eigener Ehemann.

Wölfe der ewigen Nacht
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